Kern-Axiome sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik Eine historische Herleitung
Was ist der Kern sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik? Auf diese simple Frage zeitlose Antworten zu finden, ist keineswegs trivial. Für eine Annäherung kann es sinnvoll sein, die sehr unterschiedlichen historischen Antworten zunächst kursorisch zu vergleichen, sodann Erfolg und Misserfolg verschiedener wirtschaftspolitischer Ansätze zu kontrastieren, um hierauf aufbauend eine – ohne normative Vorstellungen nicht auskommende – Bewertung des Vergangenen vorzunehmen, aus der sich schließlich Ableitungen für die Gegenwart ergeben können.
SOZIALDEMOKRATISCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK IM SPIEGEL DER ZEIT
Die ersten sozialdemokratischen Programme[1] orientieren sich noch stark an den Ideen der Gründungsfigur Ferdinand Lassalle. Der Staat wird als positives Werkzeug betrachtet, über das Demokratie und Genossenschaftswesen etabliert werden sollen. Die Vision ist ein via Staatskredit geförderter Genossenschaftssozialismus. Konkrete Forderungen sind selbstverwaltete Krankenkassen, progressive statt indirekter Steuern und der Normalarbeitstag. Die Wirtschaftspolitik hat für Vollbeschäftigung zu sorgen.[2]
Der Marxismus wiederum zieht erst 1891, unter dem Eindruck der Sozialistengesetze, in die Programmatik der SPD ein. Im Erfurter Programm ist der Staat ein Instrument der herrschenden Klasse, der Lassallesche Etatismus wird hingegen zurückgewiesen. Das Privateigentum an Produktionsmitteln sei mittlerweile unvereinbar mit der Entwicklung der Produktivkräfte, die sozialen Gegensätze würden immer krasser und es brauche eine Umwandlung in eine sozialistische Produktion. Um diesen »naturnotwendigen« Prozess zu vollziehen, müsse das Proletariat die politische Macht übernehmen.[3] Gegen diese »Orthodoxie« zieht Eduard Bernstein im Rahmen des »Revisionismusstreits « um 1900 ins Felde. Ihm gemäß können staatliche Eingriffe, und die Beteiligung der Arbeiterschaft auf allen Ebenen der staatlichen Verwaltung, das soziale Gefüge zivilisieren.[4] Die beiden Programme der Weimarer Republik[5] orientieren sich wiederum stark am marxistischen SPD-Vordenker der 1920er-Jahre, Rudolf Hilferding. Der mittlerweile oligopolistisch organisierte Kapitalismus bereitet einer demokratisch- sozialistischen Verwaltung im Rahmen der »Wirtschaftsdemokratie« bereits den Boden. Ziele sind die Verstaatlichung von Boden, Bodenschätzen und Energieversorgung, die Verwendung des Rätesystems zur Mitbestimmung in der Wirtschaft und der Ausbau öffentlicher Betriebe sowie die Förderung von Genossenschaften.[6] Eine vom Deutschen Gewerkschaftsbund vorgeschlagene »aktive Beschäftigungspolitik« keynesianischen Zuschnitts wird vom SPD-Establishment mehrheitlich abgelehnt.[7]
Mit dem Godesberger Programm von 1959 schneidet die SPD dann etliche Zöpfe der Vergangenheit ab. Godesberg bejaht die freie Marktwirtschaft mit Wettbewerb und Staatseingriffen. Das Programm bekennt sich zum Primat der Politik und setzt viel Vertrauen in die Wirksamkeit staatlicher Regulierung, die Daseinsvorsorge hat der Staat direkt zu organisieren. Das Privateigentum soll zwar geschützt werden, Eigentumskonzentration wird jedoch als Bedrohung für die freiheitliche Demokratie erkannt. Zudem soll der wachsende Wohlstand gerecht verteilt werden.[8]
Während der Epoche sozialdemokratischer Hegemonie in den 1970er Jahren verfasst die SPD kein neues Programm. Allerdings kann das Programm der österreichischen Sozialdemokratie Aufschluss über wirtschaftspolitische Vorstellungen dieser Zeit geben. Vor allem, weil sich das von dem damaligen deutschen Wirtschaftsminister Karl Schiller 1967 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerte magische Viereck (Wachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität, Außenhandelsgleichgewicht) auch im Programm der SPÖ wiederfindet. Die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen dieser »Globalsteuerung « werden dort noch um eine gerechte Einkommensverteilung ergänzt. Der Markt habe keinen Wert an sich, sondern sei ein Organisationsprinzip, das gewisse gesellschaftliche Aufgaben erfüllen kann.[9]
Das »postmaterielle« Berliner Programm der SPD von 1989 betont, dass der Staat fähig sein müsse, gesellschaftliche Ziele durchzusetzen. Der Markt wird positiv gesehen, er könne aber weder Vollbeschäftigung noch Verteilungsgerechtigkeit oder Ressourcennachhaltigkeit herstellen. Das Programm enthält ein Bekenntnis zum sozialökologischen Umbau der Gesellschaft, es gehe um eine qualitative Entwicklung und um Lebensqualität, nicht um quantitatives Wachstum.[10]
Einen Paradigmenwechsel Richtung Marktliberalismus bringt schließlich der SPD-Parteitag von Hannover 1997, was sich programmatisch im Leitantrag »Innovationen für Deutschland« niederschlägt. Allerdings ist ein trennklarer Schnitt offenbar politisch nicht durchsetzbar, weshalb sich im Antrag »alte« sowie »neue« Ideen, oftmals in direktem Widerspruch zueinander, finden. So funktioniere die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit einerseits nicht über einen Wettlauf der Kostensenkung; andererseits möchte man jedoch Spitzenprodukte zu wettbewerbsfähigen Preisen für den globalen Wettbewerb erzeugen. Zum einen will man ein Paket gegen Sozial-Dumping und Scheinselbstständigkeit schnüren (»Die SPD wird dem Missbrauch der geringfügigen Beschäftigung entschieden entgegentreten.«); zum anderen möchte man allerdings flexiblere, kürzere und differenziertere Arbeitszeiten, die neue Selbstständigkeit fördern sowie eine neue Aufgeschlossenheit zu individuellem Mut und Risiko.[11]
In Anbetracht dieser Entwicklung stellt sich erneut die Frage: Was also ist »echte« sozialdemokratische Wirtschaftspolitik? Die Forcierung des Genossenschaftswesens durch den Staat? Die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel? Die Wirtschaftsdemokratie? Die demokratische Regulierung der Marktwirtschaft? Eine keynesianische Politik der Vollbeschäftigung? Ein sozialökologischer Umbau? Das Forcieren von Eigenverantwortung? Die Annäherung an diese Frage erfolgt in einem zweiten Schritt durch eine Bewertung der verschiedenen sozialdemokratischen Wirtschaftspolitiken.
ERFOLG UND MISSERFOLG SOZIALDEMOKRATISCHER WIRTSCHAFTSPOLITIKANSÄTZE
Die staatsfreundliche und durch Lasalle geprägte Programmatik der frühen Sozialdemokratie hat erst im 20. Jahrhundert starken Widerhall gefunden – von der Steuer- bis zur Vollbeschäftigungspolitik. Es gab jedoch schon in der Gründungsphase der Sozialdemokratie zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, um das Genossenschaftswesen zu forcieren. Vor allem Konsumgenossenschaften konnten sich teilweise bis heute halten.[12]
Produktionsgenossenschaften waren hingegen weniger erfolgreich, ihr Schicksal folgte oftmals dem von Franz Oppenheimer 1896 formulierten »Transformationsgesetz«. Entweder die Genossenschaften verwandelten sich in kapitalistische Unternehmen, oder sie verschwanden ganz vom Markt.[13]
Ob das Genossenschaftswesen im digitalen Zeitalter bei entsprechender staatlicher Regulierung neben privatem und öffentlichem Sektor in manchen Branchen reüssieren könnte, ist eine offene Frage. Es könnte sich für sozialdemokratische Wirtschaftspolitik durchaus lohnen, diese neu aufzuwerfen. Die Machtergreifung des Proletariats und der Aufbau einer »sozialistischen Produktion«, wie im Erfurter Programm angedacht, wurde während des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern in Form einer zentralen Planwirtschaft real umgesetzt. Die Diskussion darüber hat ganze Generationen beschäftigt, die entsprechende Literatur füllt Bibliotheken. Unter dem Strich kann diese Spielart als gescheitert betrachtet werden. Das Modell wurde auch niemals unter demokratischen Bedingungen und folglich niemals von SozialdemokratInnen zur Durchsetzung gebracht. Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass zwischen dem Verbalradikalismus der offiziellen Parteidoktrin der SPD um 1900 und dem realpolitischen Handeln oft eine Lücke klaffte. In Gewerkschaften, Kommunen und Ländern verfolgten viele SozialdemokratInnen erfolgreich eine sehr konkrete Reformpolitik.[14]
Die Idee der Wirtschaftsdemokratie Hilferdings war ein demokratischer und gewaltfreier Übergang vom freien Wettbewerb zur sozialistischen Lenkung.[15] Das Konzept erwies sich spätestens während der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre als wenig praktikabel. Die anwendungsfreundlichere »keynesianische« Antwort, die von den Gewerkschaften eingefordert wurde, heftete sich letztlich die NSDAP auf die Fahnen.[16]
Konzeptionell mündet auch die Wirtschaftsdemokratie in die Sackgasse der Planwirtschaft. Die Umsetzung derselben ist so ein fundamentaler Eingriff, dass sie ohne »Diktatur des Proletariats« nicht zu realisieren ist. Insofern war die gedachte Gleichzeitigkeit von Planwirtschaft und Demokratie der zentrale Widerspruch des Modells der Wirtschaftsdemokratie.[17] Die Idee einer Demokratisierung der Wirtschaft wurde nach 1945 jedoch neu interpretiert und war maßgebend für die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung in den 1970er Jahren.
Das Godesberger Programm von 1959, das für den SPD-Staatsrechtler Carlo Schmid den Sieg Bernsteins auf ganzer Linie repräsentierte,[18] war das erste Programm, dessen Wirtschaftspolitik sich im Rahmen einer Demokratie als weitgehend operationalisierbar erwies. Die Erkenntnis aus Godesberg, dass Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft untrennbar miteinander verbunden sind, teilen fast alle DemokratInnen in Europa.
Aus dem Programm ergeben sich darüber hinaus jedoch zwei zeitlose Botschaften, die spezifisch sozialdemokratisch sind. Sie könnten als Kern- Axiome sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik gelten: erstens die demokratisch gesteuerte Gestaltung der Gesellschaft auf Basis des Funktionsprinzips der Marktwirtschaft. Die Gesellschaft bestimmt demokratisch wohin die Reise geht, die Operationalisierung erfolgt jedoch durch einen regulierten Markt. Die zweite Botschaft ist die soziale Marktwirtschaft als Hybrid aus Markt und Demokratie. Dort, wo der Markt nicht funktional ist, kann die Demokratie ihn durch andere Formen ersetzen (z. B. durch eine öffentliche Daseinsvorsorge).[19] Die Kern-Axiome können nur zur Geltung kommen, wenn das Primat der Politik verwirklicht ist.
Wie im Programm der SPÖ von 1978 festgehalten, war auch während der Epoche sozialdemokratischer Hegemonie klar, dass der Markt ein Funktionsprinzip ist, das nützlich sein kann, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen.[20] Die konkreten damaligen Ziele Wachstum und Vollbeschäftigung, die im Jahr 2018 etwas angestaubt wirken mögen, sind nicht zeitlos, sondern austauschbar und erweiterbar. Hingegen hat das allgemeine Prinzip, die Marktwirtschaft instrumentell zur Erreichung demokratisch definierter Ziele zu nutzen, aus sozialdemokratischer Perspektive womöglich universelle Gültigkeit.
Das war auch jener SPD-Generation völlig klar, die das Berliner Programm von 1989 zu verantworten hatte. Dieses Programm ist eine mit Godesberg konsistente Weiterentwicklung unter Berücksichtigung der ökologischen, postmateriellen und feministischen Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre. Während in Godesberg noch von Elend und Not die Rede war, galt die materielle Frage 1989 bereits als gelöst. Nun ging es um eine Erweiterung um ökologische und postmaterielle Ziele. Das Programm wurde genau zu jenem Zeitpunkt veröffentlicht, als der neoliberale Zeitgeist begann, sich auch in der Sozialdemokratie bemerkbar zu machen. Das Berliner Programm war schon bei Erscheinung historisch und ist quasi das letzte Dokument »alten« sozialdemokratischen Gestaltungswillens.
Die 1997 in Hannover formulierte Programmatik ist eine offene Zurschaustellung von Widersprüchlichkeit, Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit – eine Synthese aus Gerhard Schröder (Spitzenkandidat) und Oskar Lafontaine (Parteichef). Die Richtungsentscheidung war jedoch schon getroffen, die alten sozialdemokratischen Phrasen nur noch Makulatur. In der Regierungszeit zwischen 1998 und 2005 folgten Steuersenkungen, Finanzmarktderegulierung, Riesterrente und schließlich Hartz IV. Als letztes sozialdemokratisches Ziel verblieb die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wie stark Hartz IV für den Rückgang der Arbeitslosigkeit verantwortlich war, ist wissenschaftlich umstritten.[21] Einen gewissen Impact räumen aber auch viele Hartz-Kritiker ein.[22] Jedenfalls wurde von der SPD im Rahmen der Agenda 2010 eine neoliberale Rezeptur zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Kauf genommen. Der größte Niedriglohnsektor Europas, eine Polarisierung der Einkommensverteilung sowie ein sprunghafter Anstieg der Armutsquote waren die Folge.[23] Was in der Politik faktisch immer gilt, hat auch für die Agenda 2010 Gültigkeit: Der Zweck heiligt die Mittel nicht. Selbst wenn es einen substantiellen, »neoliberalen« Beitrag zur Reduktion der Arbeitslosigkeit gegeben haben sollte, hat dieser zu viele andere sozialdemokratische Ziele konterkariert, um als erfolgreich eingestuft werden zu können.
LEHREN FÜR DIE GEGENWART
Die hier vorgenommene historische Tour d’horizon ist schemenhaft und simplifiziert. Doch vermutlich ist die Antwort auf die Frage nach der richtigen sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik auch weniger kompliziert als gedacht. Die Empfehlung lautet, historisch Erfolgreiches zum Maßstab zu erheben, zu aktualisieren und auf die Gegenwart anzuwenden. Besonders die Kern-Axiome von Godesberg – demokratische Steuerung des Marktes sowie der Hybrid aus Demokratie und Markt – dürfen wohl als zeitlos gelten. Es ist auch kein Zufall, dass das Godesberger Programm dreißig Jahre lang gültig war, bis es vom Berliner Programm zeitgemäß aktualisiert wurde. Insgesamt kann die Periode zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Mauerfall als wirkmächtigste Epoche sozialdemokratischer Ideen und erfolgreichste Phase sozialdemokratischer Regierungspolitik erachtet werden.
Vereinfacht gesagt, hat der Neoliberalismus den Diskurs über sozialen Fortschritt nach dem Mauerfall dreißig Jahre lang eingefroren. Noch gravierender, der Fokus war plötzlich auf Ziele gerichtet, die aus sozialdemokratischer Perspektive zweitrangig, irrelevant oder falsch sind: Budgetdisziplin, Preisstabilität, Liberalisierung, Privatisierung, Einkommensspreizung, Wettbewerbsfähigkeit. SozialdemokratInnen waren Jahrzehnte damit beschäftigt, das neue Paradigma in der Opposition abzuwehren[24] oder in der Regierung abzumildern.[25] Mancherorts waren sie sogar aktiv daran beteiligt, marktliberaler Politik zum Durchbruch zu verhelfen. Die progressive Gestaltung der Gesellschaft im Sinne eines sozialen Fortschritts war eine Generation lang kaum Thema.
Um erfolgreiche sozialdemokratische Programmatik im Bereich der Wirtschaftspolitik zu identifizieren, kann, stark zugespitzt, das Gros des ideologischen Fundaments vor Godesberg als ideengeschichtlicher Reifungsprozess und das Gros nach dem Berliner Programm als historische Verirrung betrachtet werden. Im Prinzip muss man für eine zeitgemäße Wirtschaftspolitik dort anknüpfen, wo ein aktiver Gestaltungswille zuletzt sichtbar war, nämlich beim Berliner Programm von 1989.
GRUNDRISSE ZEITGENÖSSISCHER WIRTSCHAFTSPOLITIK
Das Berliner Programm von 1989 basiert auf den Kern-Axiomen von Godesberg, erweitert dieses aber um Zieldiskussionen, die heute noch sehr aktuell wirken: Wo sind die ökologischen Grenzen des Wachstums? Wie kann der Ressourcenverbrauch nachhaltig gestaltet werden? Welche sinnstiftenden Tätigkeiten kann ein Mensch ausüben in einer Welt, in der das Überleben durch Erwerbsarbeit nicht mehr im Vordergrund steht? Wie kann in einer solchen Welt ein neues Geschlechterverständnis zwischen Frauen und Männern entstehen? Wie soll das Zusammenspiel von Erwerbsarbeit, gesellschaftlichem Engagement, Familie und Freizeit in einer postmateriellen Zukunft beschaffen sein? Das sind genau jene Fragen, die man heute, wo die Automatisierung in die Digitalisierung übergeht, die Auswirkungen des Klimawandels für alle sichtbar werden und die Endlichkeit ökologischer Ressourcen in Anbetracht des Aufstiegs der Schwellenländer evident wird, stellen sollte. Es ist an diesem Punkt nicht möglich, ein vollständiges Maßnahmenpaket zur Adressierung aller genannten Fragestellungen zu entwickeln.
Daher wird exemplarisch eine strategisch relevante Maßnahme beschrieben, die mehreren zentralen Zielsetzungen parallel dienlich ist, nämlich die schrittweise Reduktion der allgemeinen Arbeitszeit. Am radikalsten würde eine postmaterielle Arbeitszeitverkürzung wirken. Dabei würden die realen Einkommen konstant gesetzt und der gesamte Zuwachs der Produktivität in Form von mehr Freizeit konsumiert. Würden die Einkommen im Jahr 2018 »eingefroren «, würde dies bei einem durchschnittlichen jährlichen Produktivitätswachstum von 1,5 Prozent eine kontinuierliche Halbierung der Arbeitszeit innerhalb von 46 Jahren bedeuten. Die parallel steigende Ressourceneffizienz würde zu einem rückläufigen Ressourcenverbrauch führen. Es gäbe mehr Freiraum für gesellschaftliches Engagement und individuelle Entfaltung, die außermarktliche Reproduktionsarbeit könnte zwischen den Geschlechtern gerechter verteilt werden und insgesamt dürfte die Lebensqualität steigen. Durch die nicht weiterwachsende Warenmenge würde die Maßnahme überdies stark dekommodifizierend wirken. Dies würde, gekoppelt mit Maßnahmen zur Verbesserung der personellen Einkommensverteilung, helfen, den Statuswettbewerb über Konsum zu verringern. Das Konzept impliziert eine rückläufige Bedeutung der Erwerbsarbeit sowie ein tendenziell stagnierendes Konsumniveau für die Mittel- und Oberschichten bei wachsender Freizeit. Das ist starker Tobak für die Gewerkschaftsbewegung sowie für die traditionelle Sozialdemokratie.
Eine Alternative zur postmateriellen Arbeitszeitverkürzung wäre eine traditionelle Arbeitszeitverkürzung. Das bedeutet beispielsweise eine Reduktion der Arbeitszeit auf dreißig Stunden bei vollem Lohnausgleich, also höheren realen Stundenlöhnen. Die Einkommen wachsen unberührt davon um den jährlichen Produktivitätszuwachs. Dabei handelt es sich um eine umverteilende Maßnahme zwischen Kapital und Arbeit, sprich einer Verschiebung innerhalb der funktionellen Einkommensverteilung. Davon würden auch die Mittel- und Oberschichten der Lohneinkommensbezieher profitieren. Eine Dämpfung des privaten Konsumwachstums, des damit verbundenen Ressourcenverbrauchs sowie des »Konsumismus« als Lifestyle ist jedoch nicht möglich, wenn die reale Lohnsumme jährlich entsprechend der Produktivitätsentwicklung, wie im keynesianischen Fordismus, wächst.[26]
Es gibt keinen Konsens, ob die Arbeitszeitverkürzung primär eine postmaterielle oder eine traditionelle Maßnahme sein soll. Es geht auch gar nicht um die 1:1-Umsetzung einer puren Variante, wichtiger wäre ein lebendiger Diskurs genau entlang dieser Fragestellungen. Ein solcher findet derzeit aber eher außerhalb als innerhalb der Sozialdemokratie statt. Erst wenn man weiß, was man möchte, werden die politischen Hindernisse auf dem Weg dorthin vollends sichtbar werden. Schließlich wird es nicht einfach, zumal in Zeiten des globalen Freihandels, ökologische und soziale Ziele zu realisieren. Doch ohne politische Regulierung dieses Freihandels wird sich ein nachhaltiger Ressourcenverbrauch oder eine Dekommodifizierung der Gesellschaft nicht durchsetzen lassen. Es wird auch nicht einfach, in Zeiten der innereuropäischen Standortkonkurrenz die Arbeitszeit zu verkürzen und die Lebensqualität zu forcieren. Doch ohne das Herstellen des Primats der Politik auf europäischer Ebene wird sich die »Zähmung des Kapitalismus«, wie sie im 20. Jahrhundert auf nationaler Ebene gelungen ist, auf europäischer Ebne nicht durchsetzen lassen. Zur Verwirklichung der genannten Ziele müssten also erhebliche politische Voraussetzungen erst geschaffen werden: Die politische Regulierung des Freihandels, das Stopfen von Steuerschlupflöchern, die Entschleunigung der Globalisierung Europas, die effektive Bändigung der Finanzmärkte und die Herstellung einer europäischen Sozialunion gehören zu den wichtigsten Maßnahmen.
Vieles davon findet sich bereits in dieser oder jener sozialdemokratischen Programmatik – meist isoliert und kontextbefreit – wieder. Entscheidend ist jedoch, all diese Maßnahmen als integrierte Instrumente zur Erreichung von Zielen zu begreifen und nicht als Ziel an sich. Aus dem Schließen von Steuerschlupflöchern oder der Regulierung des Freihandels ergeben sich keine unmittelbaren Konsequenzen für die Lebensrealitäten der BürgerInnen. Man muss das Pferd programmatisch wieder von vorne aufzäumen und aufzeigen, was originäre Ziele beziehungsweise notwendige Instrumente zu deren Erreichung sind und welche Hindernisse dafür aus dem Weg geräumt werden müssen. Aus der Verkürzung der Arbeitszeit und der Entschleunigung des Statuswettbewerbs ergeben sich positive Bilder für die eigene Lebensrealität. Das sind die Bausteine für ein sozialdemokratisches wirtschaftspolitisches Narrativ im 21. Jahrhundert.
[...]
[1] Vgl. SDAP, Das Eisenacher Programm, 1869. URL: https:// www.marxists.org/deutsch/geschichte/ deutsch/spd/1869/eisenach. htm; SAP, Das Gothaer Programm, 1875. URL: https://www. marxists.org/deutsch/geschichte/ deutsch/spd/1875/gotha.htm [beide eingesehen am 25.08.2018].
[2] Vgl. ebd.
[3] Vgl. SPD, Das Erfurter Programm, 1891. URL: »Das Erfurter Programm« https://www. marxists.org/deutsch/geschichte/ deutsch/spd/1891/erfurt.htm [eingesehen am 25.08.2018].
[4] Vgl. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Berlin, 1899/1975.
[5] SPD, Das Görlitzer Programm, 1921. URL: https://www.marxists. org/deutsch/geschichte/deutsch/ spd/1921/goerlitz.htm; SPD, Das Heidelberger Programm, 1925. URL https://www.marxists.org/ deutsch/geschichte/deutsch/ spd/1925/heidelberg.htm [beide eingesehen am 25.08.2018].
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. Rudolf Hilferding, In Krisennot, in: Die Gesellschaft, Internationale Revue für Sozialismus und Politik. Zweiter Band, 1931; Fritz Naphtali, Neuer Angelpunkt der aktiven Konjunkturpolitik oder Fehlleitung von Energien? in: Die Arbeit, Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde, Heft 7, 1931; Michael Schneider Michael, Zwischen ›Arbeitsbeschaffung‹ und ›Umbau der Wirtschaft‹. Die Konzeption der deutschen Sozialdemokratie zur Überweindung der Wirtschaftskrise (1930–1933), in: Fondazione Giangiacomo Feltrinelli, Annali 1983/84. Milano: Feltrinelli Editore; Werner Abelshauser, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 47 (1999), H. 4, S. 503–532.
[8] Vgl. SPD, Das Godesberger Programm, 1959. URL: http:// library.fes.de/pdf-files/bibliothek/ retro-scans/fa-57721.pdf [eingesehen am 25. August 2018].
[9] Vgl. SPÖ Zentralsekretariat, Das neue Programm der SPÖ, Wien 1978.
[10] Vgl. SPD, Das Berliner Programm, 1989. URL: http:// library.fes.de/pdf-files/bibliothek/ retro-scans/fa90–00398.pdf [eingesehen am 25.08.2018].
[11] Vgl. SPD, Leitantrag – Innovationen für Deutschland, 1997. URL: http://library.fes. de/cgi-bin/populo/spde.pl?t_ tiff=x&modus=&f_PPN=027197 [eingesehen am 25.08.2018].
[12] In Österreich existierte bis 1995 die Genossenschaft »Konsum«, deren Wurzeln bis in die Mitte des 19. Jh. zurückreichen. In der Schweiz gib es bis heute die Mitte des 19. Jh. gegründete Coop Genossenschaft, sie gehört zu den größten Handelsunternehmen des Landes.
[13] Vgl. Bernstein
[14] Vgl. ebd. Die Bernstein’sche Kritik an der Ideologie des »marxistischen Zentrums« der Partei der 1890er Jahre bot für die Sozialdemokratie des 20. Jh. programmatisch mehr Anknüpfungspunkte als die marxistische Orthodoxie selbst.
[15] Vgl. SPD Hamburg, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik. Hilferding auf dem Parteitag zu Kiel, Mai 1927 in: Sozialdemokratische Partei Hamburg, Schulungs- u. Bildungsabteilung, 1972
[16] Abelshauser; Ursula Büttner, Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 37, 1989, Heft 2;; Claus-Christian W. Szejnmann, Nazi Economic Thought and Rhetoric During the Weimar Republic: Capitalism and its Discontents, in: Politics, Religion & Ideology, Vol. 14, Nr. 3:. 355–376, 2013.
[17] VIm gleichen Zeitraum entstand allerdings das »rote Wien«, eines der utopischsten Projekte der Moderne. Nüchtern betrachtet handelte es sich dabei um eine Ausweitung des öffentlichen Sektors auf kommunaler Ebene unter Beibehaltung der kapitalistischen Produktivität. Das rote Wien war, ungeachtet des prononcierten (austromarxistischen) Verbalradikalismus, ein Hybrid aus privat- und gemeinwirtschaftlichen Vorstellungen.
[18] Vgl. Manfred Rexin, Zum 70. Todestag von Eduard Bernstein, 2002. URL: https:// www.spd.berlin/partei/unseregeschichte/ personen/a-k/bernstein- eduard/manfred-rexinzum- 70 todestag-von-eduardbernstein/ [eingesehen am 25.08.2018].
[19] Auch das rote Wien der 1920er Jahre ist im Prinzip eine Vorwegnahme konkreter sozialdemokratischer Reformpolitik.
[20] Vgl. SPÖ Zentralsekretariat 1978.
[21] Vgl. Michael Krause u. Harald Uhlig, Transitions in the German labor market. Structure and crisis, in: Journal of Monetary Economics, Jg. 59 (2002) H. 1, S. 64–79; Sabine Klinger u. a., Makroökonomische Perspektive auf die Hartz-Reformen. Die Vorteile überwiegen, in: IAB-Kurzbericht, 11/2013; Andrey Launov u. Klaus Wälde, Folgen der Hartz-Reformen für die Beschäftigung, in: Wirtschaftsdienst, Jg. 94 (2014), H. 2, S. 112–117.
[22] Vgl. Tom Krebs, Mythos Hartz IV, in: makronom, 11.06.2018, URL: https://makronom. de/arbeitsmarkt-analyseauswirkungen- reform-mythoshartz- iv-26821 [eingesehen am 25.08.2018].
[23] Vgl. Nils Heisterhagen, Linker Realismus, oder wo es brodelt, riecht und stinkt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.2017.
[24] Opposition der SPÖ gegen die ÖVP-FPÖ Regierung in Österreich 2000–2007 und die Opposition der französischen Sozialisten gegen die konservativen Regierungen 2002–2012.
[25] Z. B. das Modell der »Flexicurity «, das in Dänemark und den Niederlanden in den 1990er Jahren unter sozialdemokratischer Führung etabliert wurde, oder der »Sozialliberalismus« unter Tony Blair 1997–2007, vgl. Nikolaus Kowall, Wachstum und Verteilung unter New Labour 1997–2007, in: Wirtschaft und Gesellschaft, Jg. 35 (2009), H. 4, S. 551–577.
[26] Selbstverständlich sind Hybrid- Lösungen zwischen beiden Modellen denkbar. Überdies sollte Arbeitszeitverkürzung nicht nur als Verkürzung der wöchentlichen Regelarbeitszeit, sondern auch in Form von Bildungszeiten, in Österreich erfolgreich als Bildungskarenz eingeführt, in Deutschland als Bildungskonto gefordert, Sabbaticals oder Teilzeitphasen mit Lohnausgleich gedacht werden.
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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018