Editorial
Die Zeit der Ideologien ist vorbei, sie gehören im 21. Jahrhundert auch symbolisch der Vergangenheit an. Unter Geisteswissenschaftlern ist es üblich, das 20. Jahrhundert eine »Zeit der Ideologien« (Karl Dietrich Bracher) zu nennen. Auch schon das 19. Jahrhundert, in dem sich der Liberalismus, Konservatismus sowie Sozialismus, desgleichen Nationalismus und Imperialismus zuvor herausgebildet hatten, wird ganz ähnlich als »Zeitalter der Ideologien« (Klaus von Beyme) bezeichnet.
Heute dagegen scheinen die Großideologien von der politischen Bühne weitgehend verschwunden zu sein. Zu plural – so heißt es – seien mittlerweile die Strukturprofile nationaler Bevölkerungen, zu undurchsichtig die gesellschaftlichen Entwicklungslogiken, zu vielfältig verflochten nationale und globale Entscheidungen, Probleme, Trends, als dass sich noch homogene Gruppen massenhaft mit konzisen Welterklärungsmodellen hinter ein und derselben Fahne zu Überzeugungsgemeinschaften zusammenbinden ließen. Zugegeben: Gesetzt diesen Fall, liefe das Schwerpunktthema »Konservatismus« der vorliegenden Ausgabe von INDES der Intention unserer Zeitschrift zuwider, Beiträge zu aktuellen Debatten zu liefern.
Freilich: Wenn alle Ismen atavistisch geworden sind, wie erklärt sich dann die Konjunktur etwa des Populismus und entsprechend titulierter Parteiengruppen? Liegt es daran, dass der Populismus eine »dünne Ideologie«, kompatibel also mit Versatzstücken ganz unterschiedlicher Denktraditionen, und insofern keine »richtige« Weltanschauung ist? Doch ließe sich selbiges nicht gleichfalls vom Konservatismus sagen? Für die gewohnte Distanz zwischen Konservativen und Intellektuellen bspw. wird gerne die Ablehnung einer »Herrschaft ideologischer Sinnproduzenten« (Helmut Schelsky) durch erstere als Begründung herangezogen. Hierin wäre dann der Konservatismus, obwohl ein Ismus, ganz zeitgemäß: im Glauben daran, dass für kollektives Handeln Prinzipien weitgehend entbehrlich sind und auf grundlegende Doktrinen verzichtet werden kann. Eine solche Offenheit gegenüber sämtlichen politischen Lösungsmöglichkeiten neigt dazu, die Existenz unterschiedlicher Interessen auszublenden, und resultiert leicht in verwissenschaftlichten Politikansätzen, welche die Geltung umfänglicher Sachzwänge postulieren. Wie gesagt und mit Blick auf Angela Merkel: ganz modern.
Nun fällt bezüglich traditionell »konservativer Parteien« ein potenzielles Dilemma des Konservatismus ins Auge, das auf einer ganz anderen Ebene liegt. Womöglich ist das Problem, dass die von den neokonservativen – und damit gleichbedeutend: neoliberalen – wirtschaftspolitischen Leitlinien vorangetriebene kapitalistische Liberalisierungsdynamik gesellschaftliche Modernisierungsprozesse befeuert, die sie zu ständigen Kurswechseln in Politikfeldern wie Ehe und Familie zwingt – also gerade dort, wo konservative Parteien noch ein klar konturiertes, deutlicher: genuines Profil besitzen. Gleichwohl auch hier: Die europäischen Mitte-Rechts-Parteien scheinen von diesem Verlust ihres Kernprofils eher zu profitieren, während ihre liberalen und sozialdemokratischen Konkurrenten dafür in jüngerer Zeit immer wieder abgestraft worden sind.
Unumkehrbar, für alle Zeiten in Stein gemeißelt, ist diese Verteilung von Profit und Verlust allerdings nicht. Die durch die anhaltende Ortlosigkeit des Konservatismus aufgerissene Repräsentationslücke ist vielmehr längst unübersehbar geworden. In Deutschland manifestiert sie sich nicht nur in der Gründung neuer Parteien rechts von der Union (AfD, ALFA); auch Protestbewegungen wie Pegida repräsentieren traditionell konservative Europabilder (europäisches Abendland, Europa der Vaterländer usw.) und eine diffuse Angst vor »Werteverfall« und dem Verlust nationaler Identität angesichts von »Überfremdung«.
An dieser Stelle wird bereits das Problem virulent, mit dem sich die Mehrheit der Beiträge in diesem Heft auseinandersetzt: mit der Unmöglichkeit, den Konservatismus auf inhaltliche Kernmotive festzulegen. Muss der Konservatismus immer als Abwehrreaktion auf das Fremde und Ungewohnte auftreten? Zeichnet er sich nicht eher durch eine Haltung aus, die »Maß und Mitte« Experimenten mit ungewissem Ausgang vorzieht?
In diesem Fall wäre das spezifisch Konservative ganz einfach das Unbehagen an den Extremen und einem allzu naiven Fortschrittsoptimismus. Deshalb ist es spätestens seit Michael Oakeshotts Diagnose, der Konservative sei jemand, der »das Reale dem Möglichen, das Begrenzte dem Unbegrenzten, das Brauchbare dem Vollkommenen und die Fröhlichkeit einem utopischen Glück« vorziehe, in Mode gekommen, den Konservatismus mit einer spezifischen Denkart anstatt einem politischen Programm zu identifizieren. Ganz ähnlich charakterisierte zuerst Edmund Burke – salopp gesprochen, der Urvater des Konservatismus – die konservative Weltsicht: als eine Denkweise, die dem Rationalismus, der reinen Vernunft, mit Skepsis begegnet.
Irrig wäre jedenfalls die Annahme, den Konservatismus heute noch pauschal als Gegen-Aufklärung abtun zu können. Ohne Wandel kein Bedarf nach Konservierung – wer bewahren möchte, akzeptiert folglich, auf dem Boden der Veränderung, des Fortschritts, der Moderne zu stehen. Gerade der Verlust des Vertrauten im Zuge von Innovationen und Umgebungswechseln erzeugt oder zumindest verstärkt das kompensatorische Bedürfnis nach dem Gewohnten und Gleichbleibenden, nach Traditionspflege und Herkunftsvergewisserung.
Vielleicht ist sogar gerade das Gegenteil von obiger Behauptung richtig: Es dürfte kein Zufall sein, dass Denker aus dem Dunstkreis der linken »Frankfurter Schule« bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mutmaßten, Revolutionen der Gegenwart seien nicht mehr die »Lokomotive der Weltgeschichte«, als die Karl Marx sie gesehen hatte, sondern diametral entgegengesetzt »der Griff des in einem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse« (Walter Benjamin).
Und in den Theoriedebatten der Gegenwart wird gerade den kompromisslosen Verteidigern der Aufklärung, die im »unvollendeten Projekt der Moderne« (Jürgen Habermas) Spuren universalistischer Vernunftprinzipien entdecken, die Rolle der Konservativen, der Bewahrer einer mühsam errungenen westlichen Freiheit, zugeschrieben, während sich Post-Fundamentalisten mit dem Verweis auf eine typisch konservative Denkfigur – inkommensurable kulturelle Differenzen – in einer Dekonstruktion dieser Prinzipien üben. Ist also – wie Paul Nolte im Gespräch mit Herfried Münkler behauptet – »Liberal das neue Konservativ«?
Aus diesen Vorüberlegungen wird deutlich, dass die Suche nach dem genuin Konservativen in einer so unübersichtlichen Zeit, wie wir sie erleben, zunehmend schwieriger wird. Wir hoffen, dass die vorliegende INDES hierzu dennoch einige Denkanstöße geben kann.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015