»Digitalisierung bedarf des aufgeklärten Bürgers« Ein Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt über Digitalisierung und die Grenzen des digitalen Diskurses.

Interview mit Wolfgang M. Schmitt

Sie sprechen viel von Diskurs. Beim Blick auf derzeitige Formate des Austausches auf digitaler Ebene, stellt sich doch aber die Frage, ob es sich dabei überhaupt um einen Diskurs handelt. Wie könnte denn dort ein wirklicher Diskurs, wie wir ihn verstehen, stattfinden?

Diskurs findet in der Tat noch viel stärker in der analogen Welt statt: zwischen Freunden, zwischen Gleichgesinnten oder auch politischen Gegnern. Er findet nicht in Kommentarspalten statt, denn auch wenn man viele qualifizierte Kommentare hat, sind diese natürlich additiv. Ebenso gibt es aber auch Formen der Live-Übertragung. Bei der etwa re:publica wurden sehr viele Vorträge live gestreamt und es gab eine Leiste, über die live mitkommentiert werden konnte. Aber auch dort gab es keinen Diskurs. Statt zu diskutieren wurde auch dort vieles eher parallel und nach dem Lustprinzip gepostet. Dass die Entwicklung dahingeht, auf Twitter vernünftige Diskussionen zu führen, das glaube ich nicht. Der Diskurs muss nach wie vor woanders stattfinden, etwa in Form von Texten oder Videos. Soziale Medien, wo das Medium die Message ist, geben das im Prinzip nicht her. Intellektueller Diskurs meint aber auch nicht Dauerkommunikation, wie sie gern bei Tagungen praktiziert wird – es kann auch ein Monolog in Form einer Monographie sein.

Die Skepsis gegenüber sozialen Netzwerken beruht meist auf der Annahme, dass dort eine wirkliche Deliberation nicht stattfinden kann, sondern affektiv gehandelt wird. Aus der Beobachtung sozialer Netzwerke heraus, wie zum Beispiel »PEGIDA«, machen wir die Erfahrung, dass dem nicht so sein muss.

Hat sich das nicht einfach nur verlagert? Die Rechten haben natürlich ihre Profilbildung ganz klar durch die Abgrenzung vom Establishment betrieben. Dies bedeutet auch, dass sie sich sehr stark an diesen abarbeiten müssen. Das wird, glaube ich, durch die sozialen Medien noch einmal verstärkt, weil es so dicht beieinander ist. Wenn ich zu einem Parteitag oder einer Parteiveranstaltung gehe, dann höre ich nur eine Perspektive. Kaum jemand macht sich die Mühe, noch zu der anderen Partei zu gehen. Diese Möglichkeit ist nun aber immer nur noch einen Klick entfernt und die unterschiedlichen Positionen könnten in der Timeline sichtbar werden. Wir sehen dann eine Gleichzeitigkeit und es kann der Eindruck entstehen, dass hier Positionen zumindest aufeinanderprallen. Aber eigentlich geht es kommunikativ immer wieder vollkommen aneinander vorbei. Anders gesagt, das Aufeinandertreffen von Meinungen, die Abgrenzung vom politischen Gegner begründen noch längst keinen Diskurs.

Das Stichwort Abgrenzung aufnehmend: Müssten nicht auch der Digitalisierung selbst Grenzen gesetzt werden?

Interessant ist, dass in dieser Debatte die ursprünglich aus dem neuzehnten Jahrhundert kommende Frontier-These Frederick Jackson Turners wiederaufgetaucht ist, welche sich auf Grenzverschiebungen innerhalb Amerikas bezog. Blieb anfänglich nach jeder Landeroberung noch immer weiter zu erobernde Wildnis zurück, so beschreibt Turner für das ausgehende 19. Jahrhundert mit der Erschließung der letzten Wildnisareale das Ende dieses Frontier-Zeitalters. Den Preis dafür mussten allein die indigenen Ureinwohner bezahlen. Diese kommen in all den identitätspolitischen Debatten, auch bei den Postcolonial-Geschichten, nur marginal vor, obwohl wir da einen Ethnozid erlebt haben. Die Frontier-These hat dann aber ein Revival erlebt. Haben manche Politologen eine Rückkehr der These im Rahmen der Truman- Doktrin konstatiert, setzten Wissenschaftler, die sich mit Agrarpolitik beschäftigten, die Frontier-These in Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt. Und heute werden auch Themen wie Brainhacking oder die Besiedlung des Mars unter Einbeziehung einer erneuerten Frontier- These diskutiert.

In diesem Moment sollten wir uns noch einmal der vielfältigen Indianerkulturen Nordamerikas erinnern. Es ist ganz klar, dass die Opfer von Grenzverschiebung immer jene Menschen sind, die sie sich nicht nach den Vorstellungen der Eroberer optimieren lassen oder optimieren können. Die gefährlichste Religion in diesem Zusammenhang ist der Transhumanismus, weil dieser tatsächlich darauf abzielt, den Menschen zu optimieren, oder, konsequent zu Ende gedacht, den Menschen, wie wir ihn kennen, abzuschaffen.

Was daran so gefährlich ist, ist nicht nur, dass wir unsere anthropologische Philosophie überdenken müssen, sondern dass gerade durch die Möglichkeiten, Digitalisierung und Genforschung zusammenzudenken, ganz neue Kolonisierungen möglich werden. Wir bewegen uns zwar schon lang in einer sich wieder verstärkenden Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der Fahrstuhl- Effekt immer weiter abnimmt, wie Oliver Nachtwey es in »Die Abstiegsgesellschaft« nochmal sehr genau gezeigt hat. Aber im Rahmen des Transhumanismus kann eine noch stärker zementierte Ungleichheit etabliert werden, die total und deterministisch, weil biologistisch, ist. Durch pränatale Optimierung in Form von Computerchips könnten wir eine Ungleichheit schaffen, die nicht mehr mit Leistung, mit Bildung oder sonst irgendwas zu überwinden ist. Das wäre eine Zweiklassengesellschaft, die eigentlich nur noch die Optimierten kennt und die jenseits dessen entweder Lohnsklaven oder Konsumsklaven zurücklässt. Das ist für mich eigentlich das ganz große Thema, auch wenn das alles sehr utopisch klingt. Wir werden also der Digitalisierung Grenzen setzen müssen, auch wir Linken müssen darüber nachdenken, ob es auch so etwas wie einen linken Konservatismus gibt, den es zu aktivieren gilt. Das alte Paradigma: fortschrittlich gleich links und konservativ gleich rechts, das funktioniert ja schon lange nicht mehr. Schließlich sind es gerade konservative Politiker, die die Technisierung, den Handel mit Daten, usw. immer weiter liberalisieren.

Wie könnte denn ein solcher Paradigmenwechsel konkret aussehen? Wenn wir von einem inhaltlichen Wandel ausgingen, bei dem die Währung im Prinzip die Aufmerksamkeit ist, die man bekommt und sich das Monetäre hin zur Aufmerksamkeit verschiebt?

Ja, ich denke nur, die Frage ist, wie dieses Modell umzusetzen wäre. Es mangelt hier ja nicht unbedingt an Ideen, sondern schlicht an der Schwierigkeit, auch der Radikalität der möglichen Umsetzung. Vieles in der Debatte läuft ja letztlich auf eine zumindest Teil-Enteignung der großen Konzerne hinaus. Dazu bräuchte es aber einen gemeinsamen politischen Willen. Nicht allein auf der nationalstaatlichen Ebene, sondern mindestens auf der europäischen. Aber statt einer europäischen Alternative zu Facebook steckt die Debatte in Sonntagsreden fest.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201