»Digitalisierung bedarf des aufgeklärten Bürgers« Ein Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt über Digitalisierung und die Grenzen des digitalen Diskurses.
Als Journalist, Publizist, Germanist und Theaterkritiker setzen Sie sich vor allem auf Ihrem YouTube-Kanal »Die Filmanalyse« ideologiekritisch mit dem Kino auseinander. Dabei nehmen Sie eine, in der schnelllebigen digitalen Welt eher seltene Rolle des kritischen Intellektuellen ein. Funktioniert die Rolle des Intellektuellen im digitalen Zeitalter also doch?
Das Internet bietet ja zunächst einmal die Möglichkeit, dass jeder sprechen kann, das heißt, dass auch jeder Intellektuelle sprechen kann. Die Problematik dessen liegt in der Wahrnehmung und der notwendigen Aufmerksamkeit, die Erfolg bringt. YouTube erschien für mich besonders reizvoll, da man dort zunächst keine intellektuellen Debatten erwartet. Dort sind vor allem Comedy-Videos, Let’s-Play-Videos oder Influencer-Formate sehr erfolgreich. Und dennoch ist es auch ein intellektuelles Fernseharchiv, neben den genannten Inhalten finden Sie auch den gesamten Sendungskorpus des Literarischen Quartetts, ebenso große Sendungen mit Roger Willemsen oder Joachim Kaiser. In gewisser Weise ist also das, was wir im Fernsehen kaum noch erleben, nämlich so etwas wie bildungsbürgerliches Programm, tatsächlich dort archiviert. Solche Inhalte kann man dort aber auch selbst erschaffen. Natürlich erreicht dies kein Millionenpublikum. Aber auch in der Ära des linearen Fernsehens war ein solches Programm immer auch eines der Nische – in punkto Zuschauergunst begünstigt allenfalls dadurch, dass die relativ geringe Auswahl zur Folge haben konnte, dass Marcel Reich-Ranicki Zuschauer anzog, weil auf dem anderen Programm vielleicht gerade Fritz J. Raddatz sprach und dort keine Comedy-Format gesendet wurde.
Um eine hohe Klickzahl in der heutigen Zeit zu erreichen, müsste man also etwas komplett Anderes machen und das womöglich nur für kurze Dauer. Wenn man aber einen langen Atem hat, dann kann man bei YouTube durchaus intelligente, vielleicht auch intellektuelle Formate machen und sich dabei zugleich dieses Mediums bewusst sein und fragen, inwieweit man es einfach nur affirmativ bedient. Ganz plakativ: Brauche ich hundert Schnitte, weil alle hundert Schnitte in einem fünf Minuten Video haben? Oder reicht es auch, wenn ich einfach eine Kamera aufstelle, frontal filme und es gibt drei Schnitte und dann ist nach zwölf oder fünfzehn Minuten Schluss?
Welche Mittel stehen zur Verfügung um Aufmerksamkeit zu generieren, auch über einen längeren Zeitraum? Gibt es Formatregeln jenseits des Genannten, die helfen in der digitalen Welt auch auf Dauer zu bestehen?
Im Nachhinein könnte der Eindruck entstehen, als stünde ein großes Konzept hinter dem Format – aber das war in meinem Falle tatsächlich nicht so. Als Vorbild diente vielmehr jene Form des klassischen Bildungsbürgerfernsehens, bei dem einer sitzt, redet, erklärt und dabei Heinrich Böll, Jürgen Habermas oder die Frankfurter Schule einzuflechten vermag. Die Ästhetik dieses Modells, mit einem Bücherregal im Hintergrund und einer klassischen Bankerlampe, habe ich übernommen, weil sie mir persönlich entspricht und ich mich für dieses Format somit nicht verkleiden musste. Die journalistische Tugend unterhaltsam zu sein, war dabei jedoch stets präsent. Wie ein guter Zeitungsartikel zugleich unterhaltsam und pointiert sein muss, dabei vor Polemik nicht zurückschrecken darf, weil das mehr interessiert, aneckt und für Kontroversen sorgt, als nur deskriptive Abhandlungen vorzutragen – so muss auch ein You-Tube-Beitrag aufgebaut sein.
Sicherlich gehört dazu, selbst, auch optisch, in Erscheinung zu treten, was gerade für Wissenschaftler nicht selbstverständlich scheint. Diese halten zwar auch Vorträge, aber in erster Linie sind sie doch durch klassische Publikationen im Gespräch gewesen. So verbinden sich mit diesen häufig Namen – wesentlich seltener aber ein Gesicht. Dies ändert sich natürlich – Bücher von populären Intellektuellen werden heute selbstverständlich mit deren Gesichtern vermarktet, sodass jeder weiß, wie Richard David Precht oder Peter Sloterdijk aussehen. Und diese Tendenz ist natürlich bei YouTube, wo man sich bewusst der Kamera aussetzt, deutlich verstärkt. Aber auch hier lassen sich Grenzen innerhalb des Mediums ziehen. So habe ich für mich, entgegen des Kults um Authentizität, dem viele YouTuber folgen, früh dazu entschieden, mich nicht zu stark als Privatperson zu inszenieren, sondern als Figur des Kritikers aufzutauchen, was, mit Andreas Reckwitz, auch wieder so etwas wie eine Singularität darstellt.
Hinzu kommt, dass mein Format in seiner spezifischen Nische einer Entwicklung folgt, die, wie es Chris Anderson in seinem Buch »The Long Tale« beschreibt, eine Entwicklung weg vom Massen- und hin zum Nischenmarkt ist. Gerade YouTube ist dafür ein Paradebeispiel. Natürlich gibt es dort auch Filme, die Millionen Klicks haben, aber die meisten Inhalte haben weitaus weniger Klicks. Das bedeutet nicht, dass es nicht wirksam ist. Ich glaube sogar, ein Video, das zehn- bis fünfzehntausend Klicks hat, kann wirksamer sein als irgendein Influencer. Der sorgt vielleicht dafür, dass hunderttausend Leute diesen einen Lippenstift kaufen, aber das verpufft bald wieder. Umgekehrt glaube ich nach acht Jahren, in denen ich nie einen Abonnentenverlust erlitten habe, dass ein qualitatives und dauerhaftes Format auch eine langfristige Wirksamkeit entfalten kann.
Die eben beschriebene Ästhetik, der Verweis auf klassische Theoretiker, all das erinnert doch recht stark an analoge und zugleich hochkulturelle Formate. Indes behandeln ihre Analysen sowohl Quentin Tarantino, als auch das klassische Hollywood oder auch »Fack ju Göhte«. Würden Sie diese Hybridität eher auf der Seite der Hoch- oder der Popkultur einordnen?
Eigentlich auf der Seite der Hochkultur. Ich denke es reicht nicht, sich nur in diesem theoretischen Diskursgebäude, diesem Elfenbeinturm, aufzuhalten. Ich glaube, dass es gerade nottut, diese vielen populärkulturellen Phänomene, die wir haben, auch mit diesen Theorien, diesen Theoretikern zu lesen, denn dafür wurden und haben sie dies ursprünglich mal geschrieben. Es sind Auseinandersetzungen mit dem Ist-Zustand der Gesellschaft, warum sich Leute – etwa bei Adorno – Micky-Mouse-Filme ansehen oder warum sie dieses oder jenes gerne hören. Für mich ist es eine intellektuelle Pflicht, sich gerade mit solchen Phänomenen auseinanderzusetzen und zu zeigen, dass diese Phänomene auch eines intellektuellen Zugangs bedürfen. Das Analoge ist dabei für mich tatsächlich enorm wichtig, weil ich damit stets wieder demonstriere – ohne es immer klar auszusprechen –, dass es für eine ernste und redliche Auseinandersetzung nicht reicht, nur bei YouTube unterwegs zu sein oder sich losgelöst popkulturellen Filmen im Kino hinzugeben. Um das Ganze einordnen und verstehen zu können, muss man letztlich auf die Bücher, auf die Theorie, auf die schweren Brocken zurückgreifen und diese auch studieren. Für mich ist ganz klar, dass dies dem Verstehen hilft.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201