Ruhe im Sturm? Deutungsverlust und Demokratieschwund in der Krise

Von Franz Walter

Verglichen mit der grundverfehlten Konstruktion der europäischen Währungs- und Finanzpolitik, verglichen mit den gigantischen sozialen Kosten, die daraus bereits entstanden sind und in weit höherem Maße noch folgen werden, ist hierzulande der bisherige Mangel an Erregung und Interesse verblüffend. Der Souverän probt nicht den Aufstand, übt nicht das Veto, verlangt nicht einmal nach der großen Debatte oder gar Entscheidungshoheit in dieser zentralen Frage von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der nächsten Jahrzehnte. Er fügt sich den Oligarchien, bleibt gefangen in dem bereits mit Helmut Schmidt in dessen Regierungszeit eingefädelten Erwartungsstrang, den großen Krisenmanagern auf ihren Gipfeltreffen stillen Respekt und staatsbürgerliche Devotion entgegenzubringen. Das Land zeigt kein Übermaß an diskursiver oder partizipatorischer Unruhe, sondern es mangelt vielmehr an republikanischem Selbstbewusstsein, um sich der den Parlamenten und der Öffentlichkeit entzogenen Notstandspolitik exklusiver politischer und ökonomischer Exekutiven zu widersetzen und sie zu Diskussionen oder Referenden mit alternativen Ausgangsmöglichkeiten zu drängen.
Alle Erfahrungen aus bisherigen großen Krisen beziehungsweise Transformationen zeigen, dass die Zeitgenossen solcher Epochenwechsel den Vorgang wohl bewusst erleben, aber die zumeist raschen Entwicklungsschübe samt ihrer weitflächigen Auswirkungen nicht überschauen können, zunächst auch nicht über tragfähige Erklärungen und Orientierungskriterien verfügen, um die Situation für sich adäquat begreifbar zu machen, um rasch mit neuen Paradigmen neuen Handlungsantrieb zu finden. »Unsere Fähigkeit, politische und soziale Veränderungen großen Ausmaßes zu verstehen«, sei, so der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschman, »gänzlich unterentwickelt«[12]. Es kann schon sein, dass wir gerade in der Ruhe im Anfang des Sturms leben. In der Regel dauert es eine Weile, bis gesellschaftliche Gruppen neue Problemlagen auch für sich anerkennen. Die Psychologie bietet dafür als Erklärung das Paradigma von der »kognitiven Dissonanz« an. Bedeuten soll das: Menschen neigen dazu, in psychischer Übereinstimmung mit ihren ursprünglichen Einstellungen und Erwartungen leben zu wollen, blenden daher zunächst sperrige und unangenehme Neu-Informationen aus. »Die Enttäuschung muss meist erst eine gewisse Schwelle überschritten haben«, beobachtete wieder Hirschman, »ehe man sie sich eingestehen kann – dann jedoch kann sie gerade wegen der vorangegangenen Versuche, (und gleichsam in Vergeltung für sie) dieses Eingeständnis hinauszuzögern, mit besonderer Heftigkeit hereinbrechen.«[13]
Wird es so kommen? Und was folgt dann? Es ist gewiss kein Zufall, dass viele kluge Zeitgenossen derzeit resigniert über die »Ideenverlassenheit«, das »intellektuelle Vakuum« klagen.[14] Die Konfusion in der Wirtschaftswissenschaft mag symptomatisch dafür sein. Andere, wahrscheinlich die meisten, nehmen das als Defizit nicht wahr, sind leidlich froh, dass die Kanzlerin matriarchalisch für den Demos managt und beruhigend-entlastende Metaphern ausgibt. So hofft man, am Ende glimpflich aus dem Finanzschlamassel herauszukommen. Da Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Bürger sich in der Regel am Niveau des Nachbarn und der Umgebung bemessen, sind die Deutschen mit Blick auf Franzosen, Italiener, Spanier derzeit nicht in empörter Rage.

Märkte und Staat taumeln - eine recht düstere Sichtweise

Und doch wanken viele traditionelle Überzeugungen und Sinnsysteme. Indes: Neue Ordnungsentwürfe haben sich währenddessen immer noch nicht erkennbar herausgeschält.[15] Da die Repräsentanten der Politik eine »natürliche Angst vor der Leere« empfinden, lassen sie ihre Mitarbeiter von Zeit zu Zeit eine Art Ideologiemuckefuck zusammenkompilieren. Dafür bedienen sie sich nach Art von Steinbrucharbeitern ganz heterogener Versatzstücke aus der Philosophie, der Geschichte, der Ökonomie, der Soziologie, auch wenn es auf Kosten der je in sich konsistenten Logiken der einzelnen wissenschaftlichen Paradigmen geht. So werden diese, empört sich der Philosoph und Sorbonne-Professor Yves Charles Zarka, »derart verbogen und verfälscht, instrumentalisiert«, dass sie ihre ursprüngliche Struktur und Schlüssigkeit verlieren und zu »bloßen Beschwörungsformeln und Propaganda-Slogans« verkommen. Ihre Halbwertszeit entspreche der Dauer einer Wahlkampagne, einer politischen Debatte, manchmal nur einer simplen Polemik. Direktes Resultat sei die Diskreditierung der Konzepte, was sie »in ihrer Ursprungsdomäne unbrauchbar« mache.[16]
Wohl in keiner neuzeitlichen Krise dürfte eine solche Begriffslosigkeit bei der Betrachtung von Zukunft, eben bei den Erörterungen über das »Danach« geherrscht haben wie im gegenwärtigen Umbruchsmoment. Das große wirtschaftspolitische Narrativ im Zuge des Debakels der weltwirtschaftlichen Depression in den späten 1920, frühen 1930er Jahren war der Keynesianismus. 1973/75, als Rezession und Inflation zeitgleich auftraten, verlor die keynesianische Philosophie den gewiss interessengeleiteten Kampf der Ideen. Als Gewinner aus der Rivalität wirtschaftspolitischer Weltanschauungen gingen die sogenannten Monetaristen, darunter als Elitetruppe der ideologischen Attacke die Angebotstheoretiker der Neoklassik, hervor. Von den 1970er Jahren bis in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhundert hatten die Protagonisten dieser Richtung die Ausdeutung von »Fortschritt« und »Reformen« stringent okkupiert – und ihre anfänglichen Gegner aus der reformistischen Linken sind ihnen fortlaufend bei zunehmend schwindender Resistenz gefolgt. Am Ende war dieser Gegner links der Mitte ideell enteignet; zum Schluss vermochte er nicht den geringsten Beitrag dafür zu leisten, die plötzlich manifeste Schwäche des Kapitalismus für eine Ökonomie- und Gesellschaftstransformation gezielt auszunutzen. Zuletzt existierten nicht einmal Ansätze eines alternativen Narrativs zum kompromittierten Heilsversprechen des »bürgerlichen Lagers«.[17] Und so taumeln derzeit gleich beide Basissysteme der letzten Jahrhunderte, die Märkte und der Staat; gleich beide drohen zu implodieren. Und damit scheinen sich nun auch die beiden Großentwürfe für die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der letzten Jahrzehnte gleichermaßen verschlissen zu haben, die marktzentrierte Angebotspolitik wie der versorgungsetatistische Keynesianismus.[18] Für den Raum dazwischen sind genossenschaftliche Überlegungen und auf Selbsthilfe basierende Konzeptionen des Wirtschaftens[19] während der letzten Jahrzehnte rigide verdrängt worden, da alle Aufmerksamkeit einzig auf Staat oder Märkte fixiert war.
Was Alternativen zur bürokratisch abgestützten Finanzökonomie sein können, das ist mithin konzeptionell gänzlich unklar und diffus.[20] Eine genossenschaftliche Solidarökonomie und Partizipationsdemokratie dürfte aus den genannten Gründen nicht einmal diskursiv oder reflexiv in intellektuellen Runden anstehen. In einigen Teilen der zivilgesellschaftlich unterversorgten Staaten Europas könnte in mittlerer Perspektive vielmehr eine Art negative Individualisierung stehen, die nur dann zum Kollektiv noch drängt, um äußere Konkurrenten und kulturell Fremde abzuwehren.[21] Solche Gesellschaften sind zunehmend spirituell entleert, da ihnen alle Vorstellungen über tragende Prinzipien und einen gemeinschaftlichen Ethos verlorengegangen sind. Hier entsteht nichts, was die Einzelnen im Verbund mit anderen noch positiv, durch einen motivierenden Entwurf von Gesellschaft, orientieren, in Bewegung setzen könnte. Politische Agonie, Statusfatalismus scheinen jedenfalls wahrscheinlicher als gezielte kollektive Anstrengungen unter gerechtigkeitszentrierten Auspizien.[22]
Natürlich, das ist eine recht düstere Sichtweise. Und natürlich sollte man, um den bekanntlich rasch lähmenden Pessimismus zu mäßigen, auch auf die beachtlichen zivilgesellschaftlichen Polster und Projekte in den gefestigten parlamentarischen Demokratien hinweisen. Unzweifelhaft richtig ist auch, dass die parlamentarischen Institutionen in solchen Nationen weiterhin intakt sind. Doch sollte man wohl zugleich nicht vergessen oder ignorieren, wie der scharfsinnige soziologische Beobachter Max Weber schon die durch die Verfassung des Bismarckreichs machtpolitisch beschränkte Rolle des Parlaments bewertete: »Denn darauf: ob große Probleme in einem Parlament nicht nur beredet, sondern maßgeblich entschieden werden – ob also etwas und wie viel darauf ankommt, was im Parlament geschieht, oder ob es nur der widerwillig geduldete Bewilligungs-Apparat einer herrschenden Bureaukra- tie ist, stellt sich die Höhe oder Tiefe seines Niveaus ein«.[23]Weber zielte damit auf das »tief herabgedrückte« geistige Niveau der gewählten Volksvertreter dieser Ära, denen überwiegend die Gabe der politischen Rede fehlte, die analytische Schärfe und Deutungskraft abging und die der Fähigkeiten zur aufklärenden Mehrheitsbildung und weitsichtigen Verantwortungspolitik entbehrten – alles eine notwendige Folge der Bedeutungsschwäche und Machtferne des damaligen Reichstags. Nimmt man den Befund Max Webers ernst, dann ist die politische Lage auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, was den Parlamentarismus angeht, bitterernst.

Anmerkungen:

[1] Hierzu auch Helga Scholten, Wahrnehmung und Krise, in: Dies. (Hg.), Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Köln u. a. 2007, S. 5–12, hier S. 5.

[2] Siehe ebenfalls Volker Drehsen u. Walter Sparn, Die Moderne: Kulturkrise und Konstruktionsgeist, in: Dies. (Hg), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, S. 11–29, hier S. 12.

[3] Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, S. 62 ff.

[4] Etwa Gerald D. Feldman, Die Inflation und die politische Kultur der Weimarer Republik, in: Manfred Hettling u. Paul Nolte, Nation und Gesellschaft, München 1996, S. 269–281.

[5] Vgl. sehr interessant hierzu Moritz Föllmer u. Rüdiger Graf (Hg.), Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 2005.

[6] Hierzu Jens Hohensee, Der erste Ölpreisschock 1973/74, Stuttgart 1996, S. 110 ff.

[7] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, München 1995, S. 1294.

[8] Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001, S. 153.

[9] Reinhart Koselleck, Krise, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617–650, hier S. 640.

[10] Ulrich Brand, Die multiple Krise, hg. von der Heinrich-Böll- Stiftung, Berlin 2009, S. 2.

[11] Recht interessant dazu Michael Wohlgemuth, Wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird, in: Schweizer Monatshefte, Mai/ Juni 2009, S. 26–29.

[12] Vgl. Albert O. Hirschman, Selbstbefragung und Erkenntnis, München 1996, S. 20.

[13] Ders., Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Allgemeinwohl, Frankfurt a. M. 1984, S. 25.

[14] Etwa Philipp Blom, Die Unordnung der Dinge, in: Frankfurter Rundschau, 20.08.2011.

[15] Bereits Martin Jacques, The hunger for renewal, in: New Statesman, 09.04.2009.

[16] Yves Charles Zarka, Politiques en panne d’idées, in: Le Monde, 31.01.2011.

[17] Zur Bedeutung solcher Narative vgl. Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M. 1990, S. 38.

[18] Schon Eric Hobsbawm, Socialism has failed. Now capitalism is bankrupt. So what comes next?, in: The Guardian, 10.04.2009.

[19] Vgl. Klaus Novy u. a. (Hg.), Anders leben. Geschichte und Zukunft der Genossenschaftskultur, Berlin 1985.

[20] Siehe schon Ralf Dahrendorf, Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik?, online einsehbar unter http://www. eurozine.com/articles/2009-05-05-dahrendorf-de.html [eingesehen am 12.02.2013].

[21] Vgl. Lev Gudkov, Russlands Systemkrise. Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus, in: Osteuropa, Jg. 57 (2007) H. 1, S. 3–13.

[22] Auch Thomas A. Becker, Aufbruch oder Agonie?, in: Neue Zürcher Zeitung, 07.12.2011.

[23] Zit. in Wolfgang Schluchter, Was heißt politische Führung? Max Weber über Politik als Beruf, in: Zeitschrift für Politikberatung, H. 2/2009, S. 230–250, hier S. 235.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2013 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013