Die sozialpopulistische Revolte Die Gilets jaunes und der Kampf um die Neuausrichtung der europäischen Linken

Von Danny Michelsen

Anfang Dezember 2018, auf dem Höhepunkt der Gelbwesten-Proteste, erschien auf der ersten Seite des Zeit-Feuilletons ein denkwürdiges Interview mit der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, die darin die Gilets jaunes trotz der kurz zuvor eskalierten Gewalt auf den Champs-Élysées und der Antisemitismusvorwürfe vehement verteidigt. Ernaux beschreibt ein Land, das »absolut zweigeteilt« ist; sie schimpft auf »eine privilegierte Klasse, die in den Großstädten lebt« und die »die Kultur, die Medien, die Kommunikationsmittel, die Grandes ècoles und so weiter [beherrscht]«. Ihr gegenüber stehe »die Mittelklasse in den kleinen Städten, die zwar arbeitet, aber keine Hoffnung mehr hat«. »Der Oberbegriff für das alles ist: die Schnauze voll haben. Er verbindet die Rechte und die Linke.« Auf den Einwand der Interviewerin Iris Radisch, die Gelbwesten hätten sich mit ihrer blinden Gewalt gegen Symbole der Republik, etwa gegen die Mariannenstatue am Arc de Triomphe, selbst in Misskredit gebracht, erwidert Ernaux, dass man erstens gar nicht wisse, ob es die Gelbwesten waren, die der Marianne den Schädel eingeschlagen haben; und zweitens sei der Triumphbogen von der Staatsmacht »natürlich« absichtlich nicht abgeriegelt worden, um Gewaltakte und damit hässliche Bilder für die Fernsehkameras zu provozieren. […]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019