Wie politisch ist Protest? Außerparlamentarische Opposition in Russland

Von Jan Matti Dollbaum

Einleitung: zwei Idealtpyen

Ist es sinnvoll, den Begriff der Außerparlamentarischen Opposition außerhalb seines Entstehungskontexts – der Studentenbewegung im Westdeutschland der Nachkriegszeit – zu verwenden, noch dazu in Bezug auf ein Regime, das demokratische Mindeststandards seit Langem deutlich unterschreitet? Dieser Beitrag basiert auf der Annahme, dass diese Frage mit »Ja« zu beantworten ist.[1] Denn das Konzept ist für die Funktionsweise des russischen »elektoralen Autoritarismus« zentral, da es ermöglicht, zwei Typen von politischer Aktivi­tät zu unterscheiden, die – trotz ihrer Unterschiede und des zwischen ihnen existierenden Spannungsverhältnisses – beide charakteristisch für politische Beteiligung außerhalb der Institutionen im heutigen Russland sind.

Da ist zum einen die »Nicht-System-Opposition«, die sich gewissermaßen unfreiwillig außerhalb der formal demokratisch konstituierten Institutionen befindet. Im Gegensatz zu großen Teilen der deutschen APO der 1960er und 1970er Jahre lehnt sie das System des Parlamentarismus und der repräsenta­tiven Demokratie nicht ab. Im Gegenteil: Einige Parteien und Kandidierende treten immer wieder mit dem Ziel an, in die Parlamente einzuziehen und das System von innen heraus zu demokratisieren, Korruption zu bekämpfen oder die Rechtsstaatlichkeit zu stärken. Allerdings ist ihnen in den meisten Fällen durch die im elektoralen Autoritarismus eingebauten informellen Barrieren der Zugang zu den Institutionen verwehrt. Diese Manipulationen des poli­tischen Wettbewerbs zum Zweck der Herrschaftsstabilisierung lösen zuwei­len Protest aus – wie etwa nach groben Wahlfälschungen im Dezember 2011.

Zum anderen gibt es immer wieder Versuche, politische Entscheidungen von unten zu beeinflussen, ohne dabei in politische Institutionen vorzudrin­gen. Klassischerweise bilden sich solche bottom-up-Initiativen infolge kon­kreter Gesetze oder Maßnahmen, die in das Alltagsleben der Menschen ein­greifen, ihre gewohnte Lebensumgebung bedrohen oder sie sogar in ihrer Existenz gefährden. Zunächst nehmen Betroffene oft durch Beschwerdebriefe direkten Kontakt zu den Regierenden auf oder nutzen andere offizielle Ka­näle, etwa die sogenannten Gesellschaftskammern. Bleiben solche Versuche erfolglos, entstehen bisweilen Proteste, die sich zu Graswurzelbewegungen entwickeln können.

Im Folgenden werden beide Typen der russischen außerparlamentarischen Opposition vorgestellt. Zunächst werden kurz ihre strukturellen Existenz­bedingungen im politischen System beleuchtet, worauf jeweils ein aktuelles Beispiel folgt, an dem zentrale Thesen illustriert werden. Der Artikel schließt mit einer knappen Synthese der beiden idealtypisch dargestellten Formen, die sowohl das zwischen beiden inhärente Spannungsverhältnis aufgreift als auch Anknüpfungspunkte ausmacht.

Politische APO

Das politische System Russlands ist ein Lehrbuchbeispiel des elektoralen Autoritarismus.[2] Dieses Konzept beschreibt einen Typ autoritärer Regime, die formal alle Institutionen liberaler Demokratien aufweisen – wie etwa regelmäßige Wahlen zur Besetzung wichtiger Ämter, Gewaltenteilung und Mehrparteiensysteme, aber auch zentrale Freiheitsrechte (bspw. Versamm­lungs- und Pressefreiheit). Jedoch werden diese Institutionen von den poli­tisch hegemonialen Kräften derart manipuliert, dass demokratische Mindest­standards nicht mehr eingehalten werden.

Im Unterschied zu geschlossenem Autoritarismus oder gar Totalitarismus wenden solche Regime nur so viel Kontrolle an, wie nötig ist, um ihre Herr­schaft nicht zu gefährden, und verweisen ansonsten zu Legitimationszwecken auf die formal bestehenden politischen Freiheiten und eine existente Oppo­sition. Einerseits kann dieses System stabil sein, da es meist mit wenig sicht­barer, nur selektiver Repression, mit Kooptation von Eliten und mit Medien­dominanz arbeitet. Andererseits besteht in diesen Regimen eine beständige Diskrepanz zwischen Form und Wirklichkeit. Dieses Spannungsverhältnis hat zur Folge, dass sich in elektoral-autoritären Regimen informelle Spiel­regeln entwickeln, die zu deren Ausbalancierung dienen. In Russland leitet sich aus diesen Regeln die zwar nicht immer trennscharfe, aber prinzipiell sinnvolle Unterscheidung zwischen der »System-« und der »Nicht-System-Opposition« ab.[3]

Zur System-Opposition gehören per definitionem diejenigen Akteure, wel­che die informellen Regeln befolgen, die sich in den ersten Jahren von Wladi­mir Putins Amtszeit etablierten. Der Kern des impliziten Arrangements besteht darin, dass Parteien und Kandidaten, die regelmäßig an Wahlen teilnehmen wollen, sich von fundamentaler Kritik und aktiven Anstrengungen zum Sturz des Regimes fernhalten müssen[4] – ansonsten riskieren sie ihren Platz im System. Zwar stellen die »systemischen« Oppositionsparteien immer wieder einzelne kritische Abgeordnete, die den offenen Konflikt mit der Regierungs­partei nicht scheuen, insbesondere in den Regional- und Stadtparlamenten. Doch insgesamt bleiben diese Parteien loyal gegenüber der Staatsführung und beteiligen sich nicht an Koalitionen, die das Regime als Ganzes infrage stellen.[5] Diese Spielregeln sind aber, gerade aufgrund ihrer Informalität, va­riabel und können sich mit den strategischen Kalkulationen der beteiligten Akteure durchaus ändern.

Als »nicht-systemische« oder eben außerparlamentarische Opposition wer­den nun diejenigen Akteure bezeichnet, die zwar danach streben, im politi­schen System repräsentiert zu sein, aber nicht bereit sind, den dafür verlang­ten Preis zu bezahlen. Dazu gehören vor allem Gruppen, die das politische System in seiner Funktionsweise verändern wollen und dies als ihr obers­tes Ziel ausgeben. Dies schließt Teile der liberalen Opposition ein, etwa die Partei der Volksfreiheit (ParNaS), welcher auch der im Jahr 2015 ermordete Politiker Boris Nemzow angehörte, sowie die sozialliberale Partei Jabloko. Dazu zählen aber auch radikale Gruppen, die Russlands Zukunft nicht in der parlamentarischen Demokratie sehen – etwa die extreme Rechte oder die Anhänger des »Nationalbolschewisten« Eduard Limonow, deren Ideolo­gie zwischen Faschismus und Staatssozialismus oszilliert.

Beispiel: Moskauer Lokalwahlen

Für die Wahlen zum Moskauer Stadtparlament am 8. September 2019 stell­ten sich zahlreiche unabhängige Kandidaten auf. Der liberalen »Nicht-Sys­tem-Opposition« war es diesmal gelungen, ihre Kräfte zu bündeln und ihre Netzwerke – darunter auch jenes des Oppositionspolitikers und Anti-Korruptionsaktivisten Alexej Nawalny, der selbst jedoch nicht antrat – zusam­menzuschließen. In einigen der 45 Einzelwahlkreise bestanden daher reelle Erfolgschancen. Im Juli gab die zuständige Wahlkommission dann bekannt, dass keiner der 23 unabhängigen Kandidaten der Opposition zur Wahl zu­gelassen wurde.[6] Als Begründung führten die Behörden in den meisten Fäl­len an, dass über zehn Prozent der Unterschriften, welche die Kandidaten für ihre Zulassung hatten einreichen müssen, formale Fehler enthalten hät­ten. In einigen Fällen erklärten die Behörden sogar, die Unterzeichner seien keine realen Personen.

Da diese Form der Kontrolle des Wahlprozesses seit Langem gängige Praxis ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Opposition hier eine Doppelstrategie verfolgte: Im Erfolgsfall hätte man dem Regime eine kleine, doch aufgrund der hohen Aufmerksamkeit unabhängiger Medien nicht un­erhebliche Niederlage beigebracht. Indem das Regime dann aber den Weg der kompletten Blockade wählte, hat man es zumindest zum öffentlichkeits­wirksamen Überschreiten der formalen Regeln provoziert und so die Funk­tionslogik des elektoralen Autoritarismus einem breiteren Publikum, insbe­sondere jungen Wählern, vor Augen geführt. Dies zeigte Wirkung: Einige Unterstützer hatten ihre Unterschrift auf Video aufgezeichnet und viele be­klagten nun in den sozialen Medien, sie selbst seien von den Behörden für nicht existent erklärt worden.

Die Verbindung aus dichten (auch digitalen) Netzwerken, der seltenen Ei­nigkeit der liberalen Opposition und dem Gefühl vieler Wähler, noch vor der Wahl ihrer Stimme beraubt worden zu sein, bereitete den Boden für mehrere Protestaktionen – zur größten Kundgebung versammelten sich immerhin 50.000 Menschen. Dabei wurde die Entrüstung über die Nichtzulassung der Kandidaten sukzessive ergänzt durch Wut über die weiteren Reaktionen von Polizei und Spezialeinheiten, die zahlreiche unabhängige Kandidaten wegen »Aufrufen zu ungenehmigten Protesten« für mehrere Tage unter Arrest stell­ten, ihre Büros und die Wohnungen ihrer Verwandten durchsuchten und bei zwar unangemeldeten, aber friedlichen Demonstrationen in Moskau insge­samt über 2.000 Menschen festnahmen. Einigen dieser Protestierenden dro­hen nun wegen »Beteiligung an Massenunruhen« mehrjährige Haftstrafen.

Diese Episode ist exemplarisch für die Funktionslogik elektoral-autoritärer Regime: Sofern eine gewisse Nachfrage nach politischen Alternativen besteht, sind sie für den sicheren Machterhalt auf Manipulationen angewiesen, die eine strategisch geschickt operierende Opposition gegen die Amtsinhaber verwenden kann, indem sie dabei auf die ebenfalls zum System gehörenden Freiheiten zurückgreift. Dies kann eine Eskalationsdynamik in Gang setzen – denn je besser die Widersprüche des Systems aufgedeckt werden, desto au­toritärer muss die Reaktion ausfallen. Solange es aber um den Zugang zum politischen System geht, bleibt der Protest inhaltlich auf einem abstrakten Niveau und entwickelt kaum alternative Programme. Die Erfahrung aus an­deren Regimen dieser Art lehrt zudem, dass solche Proteste das Gesamtsys­tem nur dann unter Druck setzen, wenn sie von sehr breiten Koalitionen ge­tragen werden und innerhalb der regierenden Eliten eine Spaltung erwirken. Beides ist im vorliegenden Fall allerdings nicht zu beobachten.

Themenorientierte APO

Den idealtypischen Gegenpol bilden grassroots-Bürgerinitiativen. Der klas­sische Gegensatz von top-down und bottom-up ist hier allerdings nur be­dingt aufrechtzuerhalten, denn – wie oben gezeigt – in Russland sind auch politische Bewegungen oft stärker von horizontalen Netzwerken als von hierarchisch organisierten Gruppen getra­gen.[7] Die beiden Ansätze (und damit auch das jeweilige implizite Verständnis von Op­position) unterscheiden sich vielmehr in der Zielsetzung ihres Engagements. Während politische Akteure und Bewegungen oft pri­mär auf die Reform des Gesamtsystems und den Austausch der politischen Eliten abstel­len, fokussieren Graswurzelgruppen meist auf die Lösung konkreter Probleme.

Solche Probleme entstehen oft dann, wenn Staat oder Unternehmen in die unmittelbare Lebenswelt der Menschen eindringen und Veränderungen erzwingen, die deren ge­wohnte Lebensführung bedrohen. Dies be­trifft unterschiedliche Bereiche: Im Jahr 2004 etwa protestierten Rentner, Studierende und Veteranen gegen eine liberale Reform des Wohlfahrtsstaates, die Vergünstigungen und Sachleistungen durch Geldtransfers ersetzen sollte; im Jahr 2018 gingen landesweit zehn­tausende Menschen gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters auf die Straßen. Doch solche Proteste gegen direkte Bedrohungen und Einschränkungen finden auch in kleine­rem Rahmen und mit erheblich weniger öf­fentlicher Aufmerksamkeit statt – etwa gegen verdichtende urbane Bebauung, der regelmä­ßig städtische Grünflachen zum Opfer fallen, oder gegen (teils illegal betriebene) Müllde­ponien, die giftige Dämpfe absondern. Sol­cher Protest ist nicht ausschließlich materia­listisch motiviert; in ihm schwingt oft eine tiefe emotionale Bindung an konkrete Orte und Dinge mit.[8]

Protagonisten solcher Proteste und Be­wegungen halten meist explizit Abstand zu politischen Akteuren. So werden Par­teien oft verdächtigt, bestimmten konkreten Anliegen – etwa dem Protest gegen die Verschmutzung eines Flusses – nur so lange ihre Unterstützung zu gewähren, wie es sich für ihre eigenen Ziele lohnt. Insoweit konkrete Anliegen politischen Akteuren bloß als austausch­bare Zwischenschritte zum Gesamtziel politischer Reform dienen, ist dieses Urteil korrekt;[9] in anderen Fällen ist es Ausdruck einer generellen Abneigung gegenüber Politik als »schmutzigem Geschäft«, die sich aus der rauen früh­demokratischen Phase der 1990er Jahre speist und von der heute fehlenden Normalität eines politischen Wettbewerbs zeugt. Da solche Urteile allerdings weitverbreitet sind, kann die explizite Distanzierung von Politik durchaus stra­tegische Vorteile bringen: Zum einen fällt es leichter, Mitstreiter zu gewin­nen; zum anderen ist die Bewegung von Medien und Amtsinhabern so von außen schwerer zu diskreditieren – auch, da regierungsfreundliche Medien »Opposition« regelmäßig mit »Russlandfeindschaft« gleichsetzen.

Aus diesem Grund ist Vorsicht geboten, wenn man den Begriff der Oppo­sition auf solche Bewegungen anwendet. Denn nicht nur betrachten sie sich häufig als unpolitisch; manche wenden sich auch direkt an Präsident Putin mit der Bitte, einzugreifen und das Problem, das aus ihrer Sicht etwa von in­kompetenten oder korrupten Beamten verursacht worden ist, auf direktem Weg zu lösen. Gleichwohl haben diese Graswurzelproteste eine wichtige politische Funktion, die dort, wo das Autoritäre, das vorgeblich über dem Politischen Stehende, dominiert, besonders wichtig ist: Erstens wirken erste Erfahrungen kollektiven Handelns oft sozialisierend und befördern zukünfti­ges Engagement[10]; sie haben aber zweitens für einige auch eine politisierende Wirkung, etwa wenn hinter verschiedenen konkreten Problemen ähnliche, systemische Ursachen ausgemacht werden.

Beispiel: Müllproteste in Archangelsk/Schijes

Im Juni 2018 stießen Anwohner in einem entlegenen Waldstück in der nord­russischen Region Archangelsk auf Baumaschinen ohne Nummernschilder, die großflächig Wald rodeten. Schnell verbreiteten sich Gerüchte, dass dort eine Mülldeponie gebaut werde. Bewohner der Region begannen, Briefe an den Gouverneur und andere Instanzen zu schreiben und erste Proteste zu organisieren. Sie befürchteten, dass vom Müll vergiftetes Wasser über die nahegelegenen Flüsse bis in die Nördliche Dwina, die bei Archangelsk ins Weiße Meer mündet, gelangen  was einer ökologischen Katastro­phe gleichkäme. Im Oktober 2018 machte die Moskauer Stadtverwaltung die Planung dann öffentlich: Über die Dauer von zwanzig Jahren sollten jährlich 500.000 Tonnen (d. h. etwa ein Sechzehntel) des in der Hauptstadt anfallenden Mülls über tausend Kilometer nach Nordosten transportiert und dort auf einer neu anzulegenden Müllkippe nahe der Bahnstation »Schijes« gelagert werden. Dieses Projekt schaffe laut Stadtverwaltung Arbeitsplätze und Investitionen in der Region und sei ökologisch ungefährlich, da nur die neueste Techno­logie zum Einsatz komme. Doch die Aktivisten trauten den Versprechungen nicht – auch, da sie den Behörden vorwarfen, bereits bei der Auftragsvergabe und der Umwidmung der Fläche die Gesetze missachtet zu haben.

Die Proteste dauerten also an und entwickelten sich zur Bewegung Po­morje ne pomojka[11], die mehrere Städte, Dörfer und kleinste Siedlungen im betroffenen Gebiet miteinander verband. In Archangelsk und Syktyvkar, der Hauptstadt der angrenzenden Region Komi, fanden Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern statt; Aktivisten bauten ein dichtes Netz von Wachposten im Gebiet um die Station Schijes auf, welche die Bewegungen von Polizei, Spezialeinheiten und Baufahrzeugen dokumentierten, und errichteten an der Baustelle ein im Schichtbetrieb organisiertes Protestlager. Hier blo­ckierten sie regelmäßig den Baubetrieb, was mehrfach Gewalteinsätze einer privaten Sicherheitsfirma nach sich zog, in deren Folge einige Aktivisten im Krankenhaus behandelt werden mussten. Aufgrund der disruptiven Aktio­nen wurden bereits mehrere Strafverfahren gegen Protestierende eingeleitet.

Auf den großen Demonstrationen wurden Forderungen nach dem Rücktritt der Gouverneure der Regionen Archangelsk und Komi laut, und auch Präsi­dent Putins Name fiel. Doch Aktivisten betonen stets die Inklusivität, politi­sche Heterogenität und den zivilgesellschaftlichen Charakter der Bewegung. So erklärte ein Teilnehmer einer ständigen Mahnwache in Archangelsk im Mai 2019: »An diesem Protest sind einfache Menschen beteiligt, […] hinter ih­nen stehen keine politischen Kräfte, wie es sonst üblich ist. [Es sind] einfache Leute, die sich selbst organisieren und schon für eine lange Zeit würdevollen Widerstand leisten.«[12] Das heißt nicht, dass grundsätzlich keine politischen Kräfte beteiligt wären: Vertreten sind sowohl Vertreter der »systemischen« Oppositionsparteien (im April erhielt ein Abgeordneter der Kommunistischen Partei KPRF eine Geldstrafe für die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration) als auch etwa die Unterstützer von Alexej Nawalny – und sogar ein lokaler Abgeordneter der Regierungspartei Einiges Russland. Doch der »unpolitische« Charakter der Bewegung ist ein Leitmotiv, das auch die politischen Akteure aufgegriffen haben.

In dieser Hinsicht ist die Bewegung exemplarisch für zahlreiche grass­roots-Initiativen. Außergewöhnlich ist sie jedoch im Hinblick auf das große Medienecho, das sie inzwischen hervorgerufen hat. Sogar Präsident Putin äußerte sich im Juli: Er habe den Gouverneur der Region Archangelsk und den Moskauer Bürgermeister beauftragt, bis September einen Bericht zur ökologischen Situation vorzulegen und diesen mit den Bürgern öffentlich zu diskutieren. Der Protest dauert unterdessen an.[13]

Spannungen und Anknüpfungspunkte

Die Grenzen zwischen den vorgestellten Idealtypen sind fließend; beiden ge­meinsam sind zudem ihre horizontale Struktur und explizite Dezentralität. Gleichwohl ist es analytisch sinnvoll, die beiden Formen auseinanderzuhal­ten, auch weil die Unterscheidung zwischen politischem und unpolitischem Protest der Sicht vieler Aktivisten entspricht, ihre Wahrnehmungen und Handlungen beeinflusst und daher die Realität strukturiert. Zudem vertieft die Funktionslogik des Regimes die Spannung zwischen beiden Typen von Opposition: In einem politischen System, das keinen echten politischen Wett­bewerb duldet und seine Legitimität zu einem Gutteil aus der Behauptung schöpft, es habe nach den chaotischen und »demokratischen« 1990er Jahren Ruhe und Stabilität geschaffen, ist Politik als solche noch immer diskreditiert.

Dass aber in der Verbindung von politischem und themenorientiertem Pro­test eine subversive Kraft liegen kann, haben Aktivisten und etablierte poli­tische Akteure längst erkannt. Soziologische Untersuchungen zeigen bspw., dass die großen Wahlproteste der Jahre 2011 und 2012 zahlreiche kleine Ak­tivistengruppen hervorgebracht haben, die sich für konkrete lokale Belange einsetzen, allerdings mit dem Ziel, die »Politisierung« der Bevölkerung zu stärken – also Alltagsthemen mit großen politischen Fragen zu verbinden.[14] Diese Strategie verfolgt auch Alexej Nawalny, dessen Unterstützer in zurzeit 45 Regionalbüros den Bogen zwischen lokalen und landesweiten Themen zu spannen versuchen. Ein weiteres Projekt Nawalnys soll zudem die Spaltung zwischen System- und Nicht-System-Opposition überwinden helfen, indem seine Kampagne überall dort für Kandidaten der parlamentarischen Opposi­tionsparteien agitiert, wo Nicht-System-Kandidaten nicht zugelassen werden.

Wenngleich all das den elektoralen Autoritarismus kurzfristig kaum zu erschüttern vermag, so sind diese Versuche eines Brückenschlages zwischen verschiedenen politischen Lagern und Protesttypen doch eine Neuerung, die in den kommenden Monaten und Jahren dynamische Entwicklungen ver­spricht.[15]

Anmerkungen

[1] Diese Publikation ist im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes »Comparing protest actions in Soviet and post-Soviet spaces« entstanden, das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universi­tät Bremen mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen­Stiftung koordiniert wird.

[2] Vgl. Andreas Schedler, Authoritarianism’s Last Line of Defense, in: Journal of Democracy, Jg. 21 (2010), H. 1, S. 69–80.

[3] Jan Matti Dollbaum, Nicht-System-Opposition, in: Dekoder – Russland ent­schlüsseln, 24.05.2016, URL: https://www.dekoder.org/de/gnose/nicht-system-opposition [eingesehen am 25.08.2019].

[4] Siehe etwa Luke March, The Russian Duma ›opposition‹: no drama out of crisis?, in: East European Politics, Jg. 28 (2012), H. 3, S. 241–255.

[5] Siehe dazu Richard Sakwa, Whatever Happened to the Russi­an Opposition?, Chatham House, 2014, [eingesehen am 25.08.2019].

[6] Lediglich einer der 23, die gegen diese Entscheidung Beschwerde einlegten, wurde nachträglich zugelassen.

[7] Eine Ausnahme bilden Alexej Nawalnys politische Kampag­nen; siehe Jan Matti Dollbaum, Andrey Semenov u. Elena Sirotkina, A top-down movement with grass-roots effects? Alexei Navalny’s electoral campaign, in: Social Movement Studies, Jg. 17 (2018), H. 5, S. 618–625.

[8] Siehe Karine Clément u. Anna Zhelnina, Beyond Loyalty and Dissent: Pragmatic Everyday Politics in Contem­porary Russia, in: International Journal of Politics, Culture, and Society, 2019, URL: [eingesehen am 09.09.2019].

[9] Siehe hierzu ein Inter­view mit dem Protestforscher Mischa Gabowitsch: .

[10] Siehe Olivier Fillieule, The Independent Psychological Effects of Participation in Demon­strations, in: Mobilization: An International Quarterly, Jg. 17 (2012), H. 3, S. 235–248.

[11] [Die Region] Pomorje ist keine Mülltonne.

[12] Kurzinterview d. Verf.; für ein Videosegment des Interviews siehe Cléman, Karine, »Auf die Straße gehen oder schweigen«, Dossier »Protest in Russland heute«, 06.09.2019, [eingesehen am 10.09.2019].

[13] Stand: September 2019.

[14] Siehe Oleg Zhuravlev u. a., Nationwide Protest and Local Action: How Anti-Putin Rallies Politicized Russian Urban Activism, in: Russian Analytical Digest, H. 210 (2017), S. 15–18.

[15] Interessierten Lesern sei das Dossier »Protest in Russland« empfohlen, das dekoder.org gemeinsam mit der Forschungs­stelle Osteuropa an der Uni­versität Bremen erarbeitet hat. Es verbindet wissenschaftliche Ana­lyse mit einem journalistischen Zugang und bietet unterschied­liche Materialien zum Thema (Texte, Umfragen, Infografiken).

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019