»Was als normal gilt, kann nicht mehr problematisiert werden« Gespräch mit Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer über Deutsche Zustände, Parallelgesellschaften und die Lockungen des Linkspopulismus

Interview mit Wilhelm Heitmeyer

Sie haben sich in Ihrer Langzeitstudie »Deutsche Zustände« über die Jahre hinweg intensiv mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft beschäftigt, haben diese beobachtet und analysiert und konnten dadurch deren Entwicklungen sichtbar nachvollziehen. Wie würden Sie den Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Atmosphäre in den 1990er und den 2000er bzw. den Nullerjahren beschreiben? Was für einen Umbruch hat es da gegeben?

Um Ihre Frage zu beantworten, möchte ich gern etwas weiter ausholen, weil auch der Fundus, auf dem unsere Untersuchungen beruhen, breiter ist, als die Langzeitstudien suggerieren. Bereits vor der Jahrtausendwende haben wir uns mit globalisierungsbedingten Herausforderungen beschäftigt, der daraus entstandene Band trägt den Titel »Schattenseiten der Globalisierung«[1]. Schon damals ging es um Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischen Regionalismus in westlichen Demokratien – dies zu einem Zeitpunkt, als das noch nicht die große Frage war, aber es erschien uns notwendig. Der Antrieb war schon zu diesem Zeitpunkt, ein Gespür dafür zu entwickeln, was sich außerhalb des Mainstreams beobachten lässt. So haben wir Mitte der 1980er Jahre auch die ersten Untersuchungen zu Fußballfans durchgeführt, zu Gewalt in den Stadien, als es noch gar keine Fanprojekte und dergleichen gab. Später, Mitte der 1990er Jahre, haben wir dann bereits eine Untersuchungzum verlockenden Fundamentalismus, also vor allem zu islamistischen Einstellungen bei türkischstämmigen Jugendlichen, durchgeführt – eine Untersuchung, die mir gar nicht gut bekommen ist, die intensiv bekämpft wurde.

Der Hintergrund oder die Rahmung der Zehnjahresstudie zu den Deutschen Zuständen wird eigentlich gelegt im Aufsatz »Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus«[2]. Ab 2001 durfte man den Begriff des Kapitalismus eigentlich gar nicht mehr verwenden – es war schließlich die Hochzeit des Neoliberalismus und da war der Kapitalismusbegriff natürlich verpönt. Die tragende These für diesen Ansatz war da bereits, dass sich ein Kapitalismus herausgebildet hatte, der in der Lage schien, seine Maxime ungehindert zu verwirklichen. Das heißt, dass sich im Zuge der Globalisierung ein Kontrollverlust des Nationalstaates, auch des demokratischen Nationalstaates, zugunsten eines Kontrollgewinnes des globalisierten Kapitals ergeben hat, das seine Forderungen nun rigide durchzusetzen vermochte. Vor diesem Hintergrund sind im Hinblick auf die Bevölkerung zahlreiche Kontrollverluste bzw. Desintegrationsprozesse entstanden, also politische Kontrollverluste, individuelle Kontrollverluste, die dann – so die weitere Argumentation – mit dem zusammenhängen, was ich Demokratieentleerung genannt habe. Später ist von Colin Crouch die Postdemokratie ausgerufen worden. Wir waren da ein bisschen früher dran mit der Demokratieentleerung. Das heißt, formal funktioniert das System natürlich weiter. Aber es ist auch ein Teil des Problems. Die heutigen Vertrauensverluste deuteten sich damals schon an. Diese Kombination aus sozialer Desintegrationsbefürchtung – und wir haben ja unsere Theorie sozialer Desintegration immer mal wieder ausgebaut und versucht, sie in empirischen Untersuchungen umzusetzen – und Vertrauensverlusten führte zu der damals zentralen These: Der Gewinner dieser Entwicklung des autoritären Kapitalismus, der Desintegration, der Demokratieentleerung, wird der rabiate Rechtspopulismus sein. Das war die These im Jahr 2001. Die Frage, die mich heute umtreibt, ist die nach Veränderungen vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage.

Was ist eingetroffen? Aber auch: Wo waren die Einschätzungen falsch und worauf muss man zukünftig achten?
Was hat sich geändert, wenn man die Nullerjahre mit dem Jahrzehnt davor vergleicht?

Ich habe in einem summarischen Kapitel am Anfang von Band 10 versucht, eine Charakterisierung vorzunehmen mit dem Begriff des »entsicherten Jahrzehnts« – dies im Gegensatz zu den 1990er Jahren. Das Schlüsselereignis für diese Entsicherung sehe ich vor allem im 11. September 2001. Denken Sie nur daran, dass die Gruppenzugehörigkeiten von Migranten vorher immer nach ethnischen Kategorien aufgestellt wurden und sie seither, im Zuge dieses Ereignisses, entlang religiöser Glaubensbekenntnisse klassifiziert werden. Dabei mündet Entsicherung keineswegs zwangsläufig in Terrorismus. Entsicherung zeigt sich überhaupt in vielerlei Formen, die zum einen Teil intensiv thematisiert worden sind, die es als schleichende Prozesse zum anderen Teil aber nicht auf die öffentliche Agenda geschafft haben und auf die wir mit unseren Forschungen hinweisen wollten. Weitergeholfen hat hier, trotz aller daran anschließenden Kritik, vor allem das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, mit dem wir die gesellschaftlichen Befindlichkeiten in unserer Langzeitstudie abgebildet haben. Dieses Konzept rührt daher, dass ich nicht damit einverstanden war, gesellschaftliche Ausgrenzung, wie es üblich war, allein auf den Rassismusbegriff zu reduzieren. Denn durch diesen Begriff und seine allgegenwärtige Verwendung wurden sozusagen Opfer erster und zweiter Klasse entwickelt und benannt. Schließlich hatte der Rechtsextremismus selbstverständlich auch andere Gruppen im Visier – denken Sie an Wohnungslose oder Menschen mit Behinderung. Uns ging es also darum, den Blick zu weiten, die ganze Bandbreite der Ideologien von Ungleichwertigkeit – das ist ja der Kern des Konzeptes und hält die verschiedenen Facetten zusammen – abzubilden, um auf diesem breiteren Fundament ein genaueres Gesellschaftsbild zeichnen zu können. Soviel zur Vorgeschichte, zur Rahmung des Unterfangens.

Worauf haben Sie sich konzentriert?

Wir haben 2002 in Band 1 versucht, den Rechtspopulismus zu vermessen, unsere Kriterien waren: autoritäre Aggressionen, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Damals – wir haben die Kriterien hoch angelegt, alle Items mussten auf der höchsten Ebene beantwortet bzw. bejaht werden – gab es unserer Analyse zufolge ein rechtspopulistisches Potenzial von zwanzig Prozent in der Bevölkerung. Wir haben diese durchaus explosive Analyse dann natürlich veröffentlicht. Niemand hat darauf reagiert, schon gar nicht die politischen Parteien, die sich diesbezüglich über die Jahre hinweg in einem ausgeprägten Autismus befunden haben, mit ganz wenigen Ausnahmen.

Wenn Sie von Entsicherung, Desintegrationsprozessen, Demokratieentleerung sprechen und darauf hinweisen, dass deren Ursprünge früher liegen: Ist dann das vergangene Jahrzehnt, sind die Nullerjahre nur eine Art von Zwischenjahrzehnt ohne wirklich eigenes Gepräge, in dem vieles weiterwirkt, sich zuspitzt und vielleicht erst jetzt handfest greifbar wird, dessen Ursprünge aber noch im alten Jahrtausend liegen? Oder könnte man sagen, in den Nullerjahren beobachten wir mit der Verschiebung vom Ethnischen aufs Religiöse, mit dem endgültigen Durchbruch des Kapitalismus und der Entsicherung im Zuge eines international agierenden Terrorismus etwas qualitativ völlig anderes?

Jedenfalls ist die Religion durch 9/11 in besonderer Weise auf die politische Agenda zurückgekehrt, gerade in der Formulierung von Gruppen zugehörigkeiten und Gruppengrenzen. Auf der einen Seite kamen Bedrohungsgefühle auf, ganz besonders in den USA. Das ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite ist die tiefe Verunsicherung, die sich damals auszubreiten begann, die zentral mit den Schattenseiten der Globalisierung, die sich damals andeuteten, und den daraus resultierenden Kontrollverlusten zusammenhängt. Diese Verunsicherung betrifft alle drei Dimensionen der Desintegrationstheorie: die Frage des Zugangs zu den Funktionssystemen Arbeit, Wohnung etc. und den damit verbundenen Anerkennungen über den Beruf, den Job und das Wohnviertel; dann die Verunsicherungen in der institutionellen Dimension: Habe ich oder hat meine Gruppe eine Stimme in der Öffentlichkeit? Werde ich gehört oder wahrgenommen von den politischen Eliten? Mittels des Vertrauensverlustes oder dessen, was wir Demokratieentleerung nennen, wurde diese Verunsicherung immer deutlicher. Die dritte Dimension ist die Frage von Zugehörigkeiten zu stabilen Milieus und dem Aufgehobensein in diesen. Das alles wurde nach unserer Wahrnehmung brüchiger. Insofern sind die Nullerjahre für mich, vor dem Hintergrund der sich ungeheuer beschleunigenden Schattenseiten der Globalisierung, so etwas wie der Impulsgeber oder Resonanzboden für das, was wir heute breit diskutieren. Bereits 2002 haben wir individuelle rechtspopulistische Einstellungen gemessen, die sich noch nicht im Öffentlichen artikulierten, sondern gewissermaßen hinter den Gardinen verblieben. Das hat sich geändert, indem sich neue Bewegungen und Parteien wie »Pegida« und die AfD formiert haben. Der Ursprung dieser Entwicklung liegt in den Nullerjahren, den Jahren der Krise: Finanzkrise, Wirtschaftskrise und Demokratiekrise. Wir können von Glück sagen, dass es keine kumulativen Krisen waren, sondern dass sie nacheinander entstanden und so immer in unterschiedlicher Weise, bei allen weiterbestehenden Unsicherheiten, auf verschiedene Art verarbeitet werden konnten: von Verdrängung bis hin eben zu Ängsten oder Zweifeln, ob man schwache Gruppen in der Gesellschaft noch mitnehmen könne.

Das Interview führten Matthias Micus und Marika Przybilla-Voß.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017