Editorial

Von Jöran Klatt  /  Matthias Micus

»Sie lachen über mich, weil ich anders bin. Ich lache über sie, weil sie alle gleich sind«, sagte der Sänger Kurt Cobain, Frontmann der Band Nirvana. Cobain gilt heute als tragische Stilfigur. Er ist berühmt geworden als Gegenfigur, als Gegencharakter, als Gegenmusiker. Und auch wenn sein Zitat auf eine andere Wahrnehmung schließen lässt, so wurde er eben für dieses Dagegensein gefeiert und geliebt. Die kollektive Verehrung von Cobain gilt einer Ikone des Nonkonformismus. Das ist durchaus paradox, denn instinktiv würde eine andere Kausalität näherliegen. Gesellschaften, so lässt sich auch in sozialwissenschaftlichen Lehrbüchern nachlesen, sind zum Preis ihres Untergangs auf Regelbefolgung angewiesen. Abweichendes Verhalten hingegen zieht Sanktionen nach sich: von Statuseinbußen über soziale Kontaktabbrüche bis hin zu justiziablen Strafen.

Gleichwohl gibt es in manchen Bereichen der modernen Gesellschaft geradezu einen Kult des autonomen Eigensinns. Verhaltenspsychologen postulieren als zentrales Entwicklungsziel gelingender Sozialisation die Herausbildung einer selbstständigen Persönlichkeit; die Konsumgesellschaft lebt vom massenhaften Wunsch der Verbraucher, ihre Individualität durch Kleidungsstile, Prestigegüter und Freizeitaktivitäten sichtbar für das eigene Umfeld zu inszenieren – und feuert dergleichen Bedürfnisse vermittels Werbung unablässig an. In der Politik schließlich gibt der Parteibürokrat, der sich vollständig in den Dienst der Sache stellt und bis zur Unkenntlichkeit mit der Gruppe verschmilzt, den Prototyp für die so beliebte pauschale Politikerschelte ab.

Nonkonformismus, einst einer der Schrecken der bürgerlichen Gesellschaft, gilt mittlerweile als positives Gut. Dabei wird Unangepasstheit vielfach mit Individualismus regelrecht in eins gesetzt. Dennoch: Auch die Nebenarme des sozialen Breitenstroms werden unverändert aus diesem gespeist und bleiben mit diesem auch dann verbunden, wenn sich die Flussverläufe ebenso klar wie grundsätzlich scheiden. Diese fortdauernde Verknüpfung mit der Gegenseite ist ganz generell ein übergreifendes Phänomen jedes Nonkonformismus.

Insofern verwundert nicht, dass sich das, was da als Nonkonformismus betrachtet wird, im Wandel der Zeiten und Gesellschaften mitverändert. Was in bestimmten historischen Momenten einen Skandal auszulösen imstande ist, ruft später unter Umständen nur noch ein Achselzucken hervor; einstmals tragende Pfeiler des soziokulturellen Selbstverständnisses werden heute tabuisiert. Konformismus, heißt das, wird zu Nonkonformismus – und umgekehrt. Promiskuität etwa, auch wenn sie von Verheirateten praktiziert wird – dies sogar dann, wenn es sich um Frauen handelt –, vermag heute keinen Skandal mehr wie jenen um die Münchner »Brettl«-Bühnen vor rund hundert Jahren auszulösen – schon gar nicht, wenn es sich dabei um die Darstellung von Sexualität im Rahmen einer Theateraufführung handelt (siehe den Beitrag von Christina Templin in diesem Heft).

Dabei zeigt sich: Wer sich mit Nonkonformismus beschäftigt, dem stellen sich sehr bald schon ganz fundamentale Fragen. Wo fängt Nonkonformismus an, wo hört er auf? Leben wir in angepassten Zeiten – oder, im Vergleich mit der jüngeren Vergangenheit, zumindest angepassteren? So jedenfalls tönt es gerne vorwurfsvoll vonseiten der Zugehörigen früherer Protestgenerationen. Insbesondere die Altrevoluzzer der 68er pflegen heutige Jugendkohorten zu ermahnen, nicht angepasst das eigene Fortkommen zu betreiben, sich statt um die persönliche Karriere um Politik zu kümmern und in den Dienst hehrer Ideale zur Lösung gemeinschaftlicher und am besten gleich ganz und gar globaler Probleme zu stellen. Anstelle des eigenen aufrechten Ganges erblicken sie nurmehr Duckmäusertum. Wo sie selbst autoritäre Verhältnisse gegen mächtige Gegner liberalisiert haben, drohen ihre Nachfahren die mühsam errungenen Verbesserungen zu verspielen, obwohl zum Protest viel weniger Courage nötig und der gesellschaftliche Widerstand längst nicht mehr so stark wäre.

Aber, so mag an dieser Stelle eingeworfen werden: Die 68er leben ja weit überwiegend noch. Und tatsächlich gibt es Sozialwissenschaftler, die für die Gegenwart und nahe Zukunft eine neue Qualität von Seniorenprotest diagnostizieren. Die Älteren, geht diese Erzählung, verfügen über Bewegungserfahrung und als Rentner auch über viel freie Zeit, um ihre Interessen gegen den Mainstream zu kampagnisieren – wohingegen die höheren Altersgruppen in der Vergangenheit für gewöhnlich Horte der Stabilität und Ruhe zu sein pflegten.

Der vor einigen Jahren aufgekommene Begriff des »Wutbürgers« zeugt ebenfalls von zeitgenössischer Diffusion nonkonformistischen Widerspruchs in dafür eigentlich eher unauffällige Milieus hinein. Auch hier wieder: Wenn die Mitte nicht mehr verlässlich die gesellschaftlichen Konventionen, Regeln, Umgangsformen trägt: Wer soll ihre Geltung dann überhaupt noch verbürgen? Und schließlich: Europaweit reüssieren seit Längerem politische Gruppierungen, welche die radikale Kritik an den bestehenden Verhältnissen, eine insbesondere gegen die gesellschaftlichen Eliten gerichtete Anti- Haltung und den systematischen Tabubruch monstranzengleich vor sich hertragen – durch »PEGIDA« und die AfD erzielen solche Strömungen neuerdings auch in Deutschland Resonanz.

Wie steht es also um den Nonkonformismus als (politische) Kraft unserer Tage? Sind Aussagen wie jene, dass es ihn mal mehr und mal weniger gibt, zu halten? Oder ist er eine Konstante in Politik, Wirtschaft, Kultur? Schenkt die spektakelsüchtige Mediengesellschaft Künstlerinnen und Künstlern, die Tabubrüche wagen, ihre Aufmerksamkeit in besonders hohem, ja überhöhtem Maße?

Diese und andere Fragen wurden Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Denkrichtungen und Disziplinen gestellt. Denn, wie den bisherigen Ausführungen weiter differenzierend hinzugefügt werden muss: Nonkonformismus kennt viele verschiedene Orte und Ziele. Wir finden ihn in der Politik und Literatur, in der Kunst wie im Alltag, im Konsum und gleichfalls im Verzicht. Es gibt den Nonkonformismus des Dagegen-, aber – wie der Leser erfahren wird – auch jenen des Dafür-Seins. Nonkonformismus liegt oft im Auge des jeweiligen Betrachters, er lässt sich kaum eindeutig definieren und zeigt doch nicht ganz selten in erfrischender Klarheit gesellschaftliche Entwicklungstendenzen.

Jedenfalls: Wenn im 21. Jahrhundert mit Gerhard Schröder ein Bundeskanzler – also sicherlich kein Vertreter eines Anti-Establishments – zu den Klängen von Frank Sinatras Song »My Way«, intoniert im Rahmen des Großen Zapfenstreiches von der Blaskapelle der Bundeswehr, aus dem staatstragenden Amt scheidet, markiert dies in aller Deutlichkeit, dass Nonkonformismus keineswegs permanent ein Makel sein muss, sondern sich bisweilen ganz im Gegenteil zum Bestandteil der eigenen Selbstinszenierung veredeln lässt. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre!

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016