Auf der Strecke geblieben? Über das Verschwinden des Konservatismus als politische Ideologie

Von Jens Hacke

Entkrampfung und »neue Bürgerlichkeit«

Diese Annäherung zwischen sozialliberalen und liberalkonservativen Wi­dersachern war die Begleiterscheinung eines demokratischen Normalkon­servatismus in Deutschland, dessen Emergenz Paul Nolte 2001 beiläufig in einem Merkur-Essay registrierte, als er nicht nur für eine Entkrampfung im Umgang mit dem Konservatismusbegriff plädierte, sondern zudem sei­nerseits Konservative aufforderte, programmatisch und intellektuell krea­tiver zu werden.[8] Die Stichworte, die Nolte für ein solches konservatives Programm nannte und zu denen er in den Folgejahren einiges publizieren sollte, fanden sich in den bald folgenden Debatten um eine »neue Bürger­lichkeit« wieder: Bildung, Erziehung, Kritik an der Ökonomisierung des Lebens, Befähigung zur individuellen Verantwortung, bürgerliche Lebens­stile und Werte.[9]

Kurzzeitig sah es so aus, als sollte sich in der Endphase der Regierung Schröder/Fischer, als nach neuen Orientierungen und Begründungen für den Umbau des Sozialstaats gesucht wurde, die Renaissance eines werte­basierten, liberal grundierten Konservatismus ereignen, der nicht nur intel­lektuell, sondern auch politisch nachhaltig wirken könnte. Doch als die Fi­bel eines solchen bundesrepublikanischen Liberalkonservatismus – Udo Di Fabios »Kultur der Freiheit« – im Herbst 2005 diskutiert wurde, schien das Momentum für eine solche Renaissance wieder vergangen. Merkels Wahl­kampf mit dem »Professor aus Heidelberg« und die für ihre Verhältnisse ge­wagte Rhetorik, mit der sie von der schwersten Krise seit der Nachkriegszeit sprach und die wirtschaftsliberalen Grundsätze des Leipziger Programms von 2003 zu bewerben suchte, waren krachend gescheitert.

Fortan sollte die CDU konzeptionelle Bemühungen meiden, sich weder auf Wertedebatten um Leitkultur oder Familienbilder noch auf eine markt­liberale Neupositionierung einlassen. Der amerikanische Weg, ein traditio­nelles, z. T. religiös geprägtes gesellschaftliches Denken mit einem rigorosen Wirtschaftsliberalismus zum Neokonservatismus zu amalgamieren, ließ sich in Deutschland nie umsetzen. Insofern waren die vielbeklagte Sozialdemo­kratisierung der Union und die gleichfalls diagnostizierte Neoliberalisierung der SPD zwei Seiten derselben Medaille: Anstatt zu einer Polarisierung von politischen Gegensätzen kam es zu einem noch härteren Wettbewerb um die politische Mitte.[10]

Zwei große Koalitionen in drei Legislaturperioden sind die Folge dieser Entwicklung. So hat denn auch die zunehmende programmatische Anglei­chung der sogenannten Volksparteien dazu geführt, dass »progressiv« und »konservativ« als bewegliche Begriffe zur Codierung politischer Optionen eher in den Hintergrund getreten sind;[11] zumal das lange Zeit gültige Para­digma eines sozialliberalen Fortschrittsverständnisses, das eben auf der Leis­tungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates beruhte, seine Leitfunktion einbüßte.

Zwar hat es in der Union vereinzelte Bemühungen gegeben, ein »konser­vatives Profil« zu schärfen. Solche Versuche sind aber weitgehend folgenlos geblieben. Zum einen zeigten bereits die Debatten der Nullerjahre, dass sich sogar ein Begriff der Bürgerlichkeit kaum mehr konservativ vereinnahmen ließ, da sich das Verständnis von einem bürgerlichen »guten Leben« inso­weit pluralisiert und entpolitisiert hatte, als auch alle ehemals alternativen Lebensformen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft ihren Platz gel­tend machen konnten.

Es gab kein abgrenzbares Sozialmilieu mehr, das den Habitus konserva­tiver Bürgerlichkeit für sich beanspruchen konnte oder verteidigen musste.[12] Die Emanzipation gleichgeschlechtlicher Partnerschaften weitete traditionelle Bürgerlichkeitsvorstellungen auf ehemals diskriminierte Randgruppen aus und festigte gleichzeitig eine Pluralität der Lebensstile, die es politisch inop­portun machte, herkömmliche Modelle der Lebensführung zu privilegieren.

Vorbei schien die Zeit, als sich nominell Konservative in kontroversen Iden­titätsdebatten zu demokratischen Patrioten deklariert und für eine »selbstbe­wusste Nation« geworben hatten, während die Linke vor dem neuen Obrig­keitsstaat gewarnt hatte.[13] Spätestens seit dem »deutschen Sommermärchen« von 2006 hat sich ein entspannter Umgang mit Nationalsymbolen etabliert, der in den 1980er Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre, nun allerdings nur noch als ein Zeichen der Normalisierung, keineswegs aber als das eines gesellschaftsweiten politischen Rechtsrucks zu deuten war.

Ende des politischen Konservatismus?

Vor dem eben skizzierten Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass der Konservatismusbegriff seine politisch orientierende Wirkung verloren hat. Schon die Unterscheidung von »wertkonservativ« oder »strukturkonser­vativ«, die schöpfungsbewahrende Umweltpolitik, verschiedene Modelle der Nachhaltigkeit, aber auch ideell konservative Widerstände gegen eine Durchökonomisierung der Bildungs-und Universitätspolitik haben das Label »konservativ« für die früher standardisierte Bezeichnung des politisch eher rechtsstehenden Lagers unbrauchbar gemacht.

Umgekehrt kann man den in Europa grassierenden und auch in Deutsch­land immer einmal wieder reüssierenden ressentimentgetriebenen Populis­mus, der fremden-und europafeindliche Register bedient, kaum mehr als konservativ bezeichnen. Jemanden in denunziatorischer Absicht als Konser­vativen zu diffamieren, um ihn aus linker oder liberaler Perspektive zum Gegner zu erklären – ein solches Vorhaben würde heute nur noch auf wenig Verständnis stoßen. Der Polarisierungseffekt ist dahin, denn das politische Feld wäre mit einem derartigen Feindschema nicht mehr zu ordnen.

Nun sollte man aus diesem Befund keineswegs den Schluss ziehen, dass sich politische Gegensätze generell auflösen und dass die Politik zu einer Verwaltungsaufgabe für alternativlose Sachzwänge degeneriert. Es scheint vielmehr so, als ob der Konservatismus-Begriff wenig hilfreich ist, wenn es um aktuelle politische Konfliktlagen geht. Weder lassen sich mit ihm augen­blicklich die Differenzen in wirtschafts-und sozialpolitischen Fragen benen­nen, noch kann er für europa-und außenpolitische Fragen programmatische Unterschiede verdeutlichen.

Zwar war von jeher unmöglich, eine konservative politische Theorie aus einem Guss zu formulieren; aber mit dem Abschied von einer weitgehend ethnisch und kulturell homogenen Gesellschaft wird auch der Anspruch auf nicht universalisierungsfähige moralische Leitwerte und einseitige Traditions­pflege illusionär. Oder um es anders zu pointieren: Die Herausbildung eines allgemein anerkannten philosophischen Konservatismus im Sinne eines »Mo­dernitätstraditionalismus« (Odo Marquard), der sich dem Erbe der Aufklärung und dem modernen Verfassungsstaat der Neuzeit verbunden fühlt, hat einer antiliberalen politischen Rechten den Konservatismusbegriff entwendet.[14]

Mit einer gewissen Erleichterung ist deshalb allgemein registriert worden, dass sich der Begriff des »Konservatismus« im modernen politischen Sprach­gebrauch langsam zu einem Ausdruck für bürgerlich-traditionelle Orientie­rungen innerhalb der demokratischen Ordnung gewandelt und damit den Weg zu einem verfassungspatriotischen »Normalkonservatismus« zurück­gelegt hat. Damit verlor er allerdings seine Kraft zur politischen Distinktion, denn in diesem Sinne konnte sich nun fast jeder Demokrat als liberalkon­servativ verstehen.

Wir haben eine schleichende Anthropologisierung des Konservatismusver­ständnisses erlebt, im Zuge derer mit »konservativ« sehr allgemeine Eigen­schaften, oft positiv bewertete Tugenden, bezeichnet werden: Skepsis, Vorsicht, Pragmatismus, Common Sense, Ironiefähigkeit, Kultiviertheit, Besonnenheit, Geschichtsbewusstsein. Eine solche Begriffsverschiebung hat zumindest in der Gegenwart zur Entpolitisierung des Begriffs geführt, die freilich nichts mit einer Aufhebung des politischen Streits zwischen links und rechts zu tun hat.

Das muss nicht für alle Zeiten so bleiben, denn der Konservatismus lebt politisch davon, eine Relation zu bezeichnen, also eine starke Verbindung zu einem Ordnungsmodell, zu Werten oder Traditionen herzustellen, um sie im Ernstfall zu verteidigen. Es könnten sich Konstellationen ergeben, in denen notwendig wird, für Überzeugungen einzustehen und sie zu verteidigen, eben weil es etwas zu bewahren gilt. Menschenrechte, individuelle Freiheit und Lebenschancen avancieren dann aus westlicher Sicht zu konservativen Werten, die kulturellen Pluralismus eben nicht mit Relativismus gleichset­zen. Konservativ wäre dann auch, mit den Mitteln des sozialen Rechts-und Wohlfahrtsstaats weiterhin für Chancengerechtigkeit zu sorgen und die ge­sellschaftlichen Kosten des Kapitalismus in Schranken zu halten. Man mag ein politisches System deshalb für sehr stabil halten, solange ein Grundkon­sens zur Bewahrung des Vorhandenen einen Konservatismus als politische Gegenbewegung überflüssig macht.

So wünschenswert die hier vorgeschlagene Festschreibung des heutigen Konservatismus als eines demokratischen Liberalkonservatismus auch ist: Sie ist nur eine normativ favorisierte Möglichkeit und bliebe naiv, wenn man nicht auch andere Vereinnahmungen in Betracht ziehen würde – ein Blick in die Ideengeschichte des Konservatismus belehrt über die zahlreichen Be­griffseroberungsversuche, die es gegeben hat.[15] Insofern tut jede Beschäfti­gung mit dem Konservatismus gut daran, die relationale Komponente – also das, was konserviert werden soll – zu problematisieren.

Denn in höherem Maße als seine großen Konkurrenten, Liberalismus und Sozialismus, die sich stets an den Werten Freiheit und Gleichheit orientier­ten, ist der Konservatismus als Ideologie auf stetigen Wandel und offensive Begriffspolitik angewiesen gewesen, um die eigene Selbsterhaltung sicher­zustellen. Er wurde häufig totgesagt, aber behielt seine Attraktion für die Skeptiker der Demokratie und die Feinde des Liberalismus, die ganz eigene Traditionslinien und Relationen beanspruchten. Insofern bleibt offen, wer als nächstes für sich reklamieren kann, die Kraft eines politischen Konservatis­mus zu repräsentieren.

Anmerkungen:

[1] Siehe Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens (1926). Herausgegeben von David Kettler u. a., Frankfurt a. M. 1984.

[2] Vgl. Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770–1806, Frankfurt a. M. 1973, S. 19–24.

[3] Siehe Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986.

[4] Als Überblick vgl. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995.

[5] Vgl. etwa Martin Greiffenhagen (Hg.), Der neue Konservatismus der siebziger Jahre, Reinbek 1974.

[6] Zu dieser Debatte vgl. Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2008.

[7] Siehe u. a. Hermann Lübbe, Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, direkte Demokratie und Moral, München 2004.

[8] Vgl. Paul Nolte, Konservatismus in Deutschland. Geschichte – und Zukunft?, in: Merkur, Jg. 55 (2001) H. 627, S. 559–571.

[9] Einen Überblick aus der Flut der zahlreichen Publikationen zum Thema gibt: Heinz Bude u. a. (Hg.), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?, München 2010.

[10] Zur anhaltenden Bedeutung der Mitte als politischer Orientierungsgröße vgl. Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010.

[11] Siehe Niklas Luhmann, Der politische Code. »Konservativ« und »progressiv« in systemtheoretischer Sicht, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 21 (1974) H. 3, S. 253–271.

[12] Zur Erosion des konservativen Milieus in der Bundesrepublik der 1960er Jahre siehe Frank Bösch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik, Göttingen 2002, S. 212 ff.

[13] Siehe dazu Dominik Geppert u. Jens Hacke (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008.

[14] Die zentrale Bedeutung eines philosophischen Konservatismus unterstreicht auch Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999, S. 84.

[15] Vgl. etwa Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986; Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015