Ein historischer Kollektivsingular Das Phänomen des Liberalismus in europäischer Perspektive

Von Jörn Leonhard

Die genannten Beispiele verweisen auf Spezifika, auf besondere Entwicklungswege, Handlungsräume und Erfahrungen, deren historische Vielfalt man verstehen und aushalten muss, wenn man den Liberalismus jenseits normativer Projektionen verstehen will. Das beginnt schon bei der Geschichte des historischen Begriffs und seiner Verwendung in der politischsozialen Sprache der Zeitgenossen. Was Menschen in Frankreich um 1815 unter den »idées libérales « verstanden, unterschied sich erheblich von den »liberalen Ideen« in Deutschland oder den »idee liberali« in Italien. Waren »libéral« und »libéraux« in Frankreich nach 1815 und spätestens nach der Julirevolution von 1830 zu Parteibezeichnungen geworden, weil es seit 1814 eine Verfassung, ein nationales Parlament und das komplizierte Erbe der Revolution gegeben hatte, blieb das Adjektiv »liberal « für deutsche Zeitgenossen noch lange Ausdruck einer ganz bestimmten, der Aufklärung und der Vernunftidee verpflichteten Gesinnung, eines spezifischen Habitus, der mit Parteien und vor allem mit der radikalen Französischen Revolution nichts zu tun haben wollte.

Ausgerechnet die zu Urvätern des europäischen Liberalismus stilisierten britischen Reformer, welche die Katholikenemanzipation und die Wahlrechtsreform von 1832 umsetzten, verzichteten ausdrücklich auf die Selbstbezeichnung »liberal«, die ihrer Meinung nach die Nähe zu den revolutionären Umwälzungen Kontinentaleuropas ausdrückte. Im vermeintlichen Mutterland des bürgerlichen Liberalismus dominierten nicht nur die Namen der aus dem 17. Jahrhundert stammenden aristokratischen Parlamentsparteien der Whigs und Tories, sondern auch noch lange deren exklusiver Politikstil, der mit demokratischer Teilhabe an der Politik wenig zu tun hatte.

Auf was genau sich der Begriff bezog, blieb abhängig von den besonderen historischen Erfahrungen und Erwartungen in den verschiedenen europäischen Gesellschaften: Die erstmals während des Staatsstreichs des jungen Revolutionsgenerals Bonaparte am 18. Brumaire 1799 in Paris an prominenter Stelle verkündeten »idées libérales« wurden zu einem Ausdruck des revolutionären Erbes von 1789, indem sie für den Schutz von bürgerlicher Freiheit und privatem Eigentum gegen die radikalen Revolutionsanhänger standen.[8] Das machte den Begriff für die bürgerlichen Gewinner der Revolution in Frankreich attraktiv, und zwar über den Untergang Napoleons hinaus. Anders in Spanien: Als die in Cádiz zusammengetretenen Stände, die Cortes, eine nationale Verfassung verabschiedeten, die eine konstitutionelle Monarchie ohne Inquisition und Kirchenbesitz vorsah, bezeichneten sich die Anhänger als liberales.

In Deutschland schrieb man um 1815 von den »liberalen Grundsätzen« und blickte, zumal in den neuen Rheinbundstaaten, auf Frankreich, von dessen fortschrittlichen Institutionen – wie dem napoleonischen Code Civil, dem modernen Eigentumsrecht oder den Geschworenengerichten – man Reformimpulse für die eigenen Gesellschaften und eine Stabilisierung der neuen Staatlichkeit erwartete. Doch zugleich blieb die Abgrenzung von der gewaltsamen Revolution leitend; die »liberalen Grundsätze« könnten, so hieß es, nur vernünftig und gewaltlos sein. Deutsche Zeitgenossen verbanden damit um 1815 bereits die doppelte Hoffnung der Befreiung von der napoleonischen Militärdespotie einerseits, der positiven Freiheit, die auf Verfassung und Nationalstaat zielte, andererseits.[9]

In dieser Vielfalt von Erfahrungen und Erwartungen bildete der Liberalismus die Spannung zwischen Traditionen und Dynamik ab, zwischen Beharrung und Wandel. Der neue Begriff machte die daraus entstehenden Konflikte erkennbar, aber er entzog sich gerade deshalb auch der Eindeutigkeit. Eines allerdings verband diese unterschiedlichen Übergänge: Die universell gedachte Einheit von Staats- und Gesellschaftsverfassung, der societas civilis sive res publica, zerbrach durch die Aufklärung auf programmatischer, durch die Revolutionen auf praktisch-politischer sowie durch den Übergang zum bürgerlichen System der Bedürfnisse auf wirtschaftlich-sozialer Ebene.[10]

So erfuhren Zeitgenossen die erlebte Geschichte jenseits von Vernunftsoptimismus und Entwicklungskontinuum als Abfolge tiefgreifender Umbrüche. Die um 1800 aufkommenden Ismen standen vor diesem Hintergrund für eine Verzeitlichung, mit der man der Geschichte Herr zu werden glaubte: durch die Begründung einer organischen Kontinuität im Konservatismus; in der Zuordnung einer innerweltlichen Zukunftsprojektion für die eigene Gegenwart im Liberalismus; vermittels einer Gesellschafts- und Geschichtsutopie im Kommunismus; oder im Versuch, in der Erlösungsbotschaft des Nationalismus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzufügen.

Aber wo und wie setzten sich solche handlungsleitenden Konzepte und Ideen durch, wo und wie prägten sie Gesellschaften konkret? Einerseits dominierte auch hier eine ausgesprochene Vielfalt von Voraussetzungen und Handlungsbedingungen, andererseits näherten sich in der Phase der 1860er und 1870er Jahre, nach dem Abschluss der Nationalstaatsbildung in Italien und Deutschland, die Bedingungen der europäischen Gesellschaften tendenziell an. Im Gegensatz zur Vorstellung des 19. Jahrhunderts als Zeitalter des triumphalen Liberalismus dominierten Liberale keinesfalls überall auch politisch die Machtzentren. Wo Liberale in Paris 1848 wie selbstverständlich die konstitutionelle Monarchie gegen die Republik eintauschten, blieb für deutsche Liberale im März 1848 die Republik das Synonym für soziale Anarchie und die Revolution der Straße. Ihnen ging es um Verfassung und Nationalstaat, wo immer möglich nicht auf Barrikaden, sondern in Kooperation mit reformbereiten Regierungen. Seit den 1860er Jahren traten dann überall Parlamente, Wahlen und parteipolitisch organisierte Interessen in den Vordergrund.

Mit der Entwicklung eines politischen Massenmarktes mit entsprechenden Kommunikations- und Medienwirkungen ging die energische Organisation politischer, sozialer und ökonomischer Interessen einher. Auch die neuen Herausforderungen der Politik in Europa wurden tendenziell ähnlicher: Nach den Konflikten um politische Partizipation und Repräsentation, Verfassungsgebung und Nationalstaat traten nun neue Phänomene wie die soziale Frage der Industriearbeiter und die Folgen der Urbanisierung in den Vordergrund. Deutsche Liberale taten sich mit all diesen Veränderungen schwerer als Liberale in anderen europäischen Gesellschaften. Dazu trug der Widerspruch zwischen einem allgemeinen Männerwahlrecht auf Reichsebene nach 1871 und dem Dreiklassenwahlrecht in Preußen bei, aber auch die ausbleibende Parlamentarisierung des neuen Nationalstaates, in dem sich die konstitutionelle Monarchie vor Oktober 1918 nicht zur parlamentarischen fortentwickelte. Das aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende liberale Leitbild des Staatsbürgers, das auf aufgeklärter Gesinnung, Bildung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit beruhte, blieb dabei sozial exklusiv. Nur auf kommunaler Ebene, wo das Wahlrecht eingeschränkt blieb, vermochten sich die Liberalen als politische Kraft so erfolgreich zu halten, dass sie politikgestaltend wirken konnten. Die Monopolstellung, die den deutschen Liberalismus als Kern der Nationalbewegung ausgezeichnet hatte und die ihm die überparteiliche Rolle einer politischen Garantiemacht der Nationalstaatsgründung eingebracht hatte, konnten Liberale in Deutschland spätestens nach 1880 nicht bewahren. Denn im Gegensatz zu Italien, wo der politische Katholizismus in Opposition zum Nationalstaat verharrte, erkannten die von Bismarck zunächst so verfemten »Reichsfeinde« der Katholiken und Sozialisten das Reich als Handlungsrahmen an. Sie etablierten sich als politische Parteien weit erfolgreicher als die Liberalen, die über kein stabiles soziokulturelles Milieu verfügten und unter der Tendenz zur organisatorischen Spaltung litten.

Zumal in Europa die konfessionelle Trennlinie die Wirkungsmöglichkeiten und Mobilisierungspotenziale von Liberalen bestimmte: Während in Deutschland Konservative und Liberale um die Stimmen der protestantischen Bevölkerungsteile konkurrierten, blieben in Großbritannien die Nonkonformisten außerhalb der Anglikanischen Kirche eines der stabilsten Wählerreservoire der Liberalen. Während in Frankreich bereits die von den zurückgekehrten Bourbonen gewährte Charte Constitutionnelle von 1814 die konstitutionelle Monarchie eingeführt hatte, blieb die Verfassungsgebung für viele Liberale in Deutschland, zumal in Preußen, bis 1848/49 eine Erwartung, war sie jedenfalls in weiten Teilen Deutschlands keine selbstverständliche Realität.

Dennoch stellte der Liberalismus in Deutschland mehr als eine Verfassungsbewegung dar. Lange Zeit lief sein Gesellschaftsideal angesichts der von traditionalen Gewerbe- und Produktionsstrukturen bestimmten Situation auf die Idee einer klassenlosen Bürgergesellschaft hinaus. Erst mit dem um 1900 stärker akzentuierten Sozialliberalismus reagierte man langsam auf die notwendige Integration der Industriearbeiter in den neuen Nationalstaat.

Die soziale Utopie des Liberalismus war nicht der bourgeois im marxistischen Klassensinne, sondern der citoyen, citizen oder »Staatsbürger«. Aber gerade in Deutschland lief dieses Staatsbürgerideal mit der fortschreitenden Industrialisierung Gefahr, zum bloßen Anachronismus zu werden, der nicht länger schichtenübergreifend integrativ, sondern durchaus klassenbestimmt konfliktverschärfend wirken konnte.[11]

Unter besonderen Bedingungen und bei vorhandener Reformbereitschaft stand der Liberalismus auch dem Adel offen. Das galt nicht nur für Teile des italienischen Adels in der Phase des Risorgimento, für ungarische Magyaren oder den Adel in Polen. Vor dem Hintergrund ganz anderer Traditionsbindungen, die bis zu den Konflikten zwischen Krone und Parlament im 17. Jahrhundert reichten, erwuchsen in Großbritannien erst in den 1850er und 1860er Jahren aus einem dezidiert aristokratischen Politikverständnis, dem Ideal der Treuhänderschaft der Whigs für die Freiheitsrechte des englischen Volkes, eine moderne Parteiorganisation und eine Personalisierung der Politik. Charismatische Führung wie unter Premierminister Gladstone, die Integrationskraft eines historisch begründeten Zweiparteiensystems und die programmatische Öffnung gegenüber der sozialen Frage der Industriearbeiter stabilisierten den parteipolitischen Liberalismus in Großbritannien vor 1914. Aber die Probleme um die Durchsetzung der Home Rule in Irland, die Erfahrung des Krieges und der Aufstieg der Labour Party stellten diese Konstellation nach 1918 infrage.

Auch die Abkehr von vermeintlich eindeutigen Niedergangs- und Defizitgeschichten des Liberalismus in Mittel- und Osteuropa bedeutet nicht den Verzicht auf Differenzierung – im Gegenteil. In der relativ größeren Bedeutung von Adel und Bürokratien für den Liberalismus in vielen mittel- und osteuropäischen Gesellschaften bildeten sich historische Entwicklungsunterschiede ab. Aber von hier aus kann und sollte man nicht vorschnell darauf schließen, was Liberale konkret bewirken konnten. Während etwa die Grenzen des parteipolitischen Liberalismus in Deutschland auf Reichsebene nach 1871 immer deutlicher wurden, bildeten Kommunen einen geschützten Handlungsraum. Die erfolgreiche Revolution großer Teile des liberalen Bürgertums lief in Deutschland nicht auf eine politische Machtkontrolle auf Reichsebene hinaus, sondern konzentrierte sich dort auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Deutschlands zu einem Laboratorium der Moderne.

Die historischen Forderungen der Liberalen des 19. Jahrhunderts sind im parlamentarischen Verfassungs- und Rechtsstaat am Beginn des 21. Jahrhunderts weitgehend erfüllt worden. Aber mit dem scheinbaren Triumph liberaler Prinzipien korrespondiert zugleich ein Bedeutungs- und Funktionsverlust liberaler Parteien in Europa, die den Ausweis ihrer Identität nicht länger im Etikett »liberal« suchen. Den Liberalismus können heute viele politische Akteure für sich reklamieren.[12] Ob und wovon man vor diesem Hintergrund die Einheit des Liberalismus ableitet, hängt immer von der jeweiligen Perspektive ab. Insofern verraten solche Projektionen viel über die Erwartungen der Beobachter, aber wenig über Gehalt und Gestalt des Liberalismus selbst. Wer sich ihm als historischem Phänomen nähert, der muss Vielfalt und Widersprüche aushalten, die sich einfachen Definitionen entziehen.

Anmerkungen:

[1] Theodor Mundt, Moderne Lebenswirren, Leipzig 1834, S. 33.

[2] Rudolf Haym, Aus meinem Leben, Berlin 1912, S. 110.

[3] Wolfgang Menzel, Die deutsche Literatur. 2 Theile, Stuttgart 1828, hier zit. nach Heinrich Heine, Sämtliche Schriften 1817–1840, hg. von Klaus Briegleb, Frankfurt a. M. 1981, S. 444–456, hier S. 450; vgl. Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, S. 309.

[4] Theodor Heuss, Rede auf dem Gründungstreffen der FDP vom 10./11. Dezember 1948, zit. nach Bundesvorstand der Freien Demokratischen Partei (Hg.), Zeugnisse liberaler Politik. 25 Jahre F.D.P., Bonn 1973, S. 13 ff.; vgl. Jörn Leonhard, Semantische Deplazierung und Entwertung – Deutsche Deutungen von liberal und Liberalismus nach 1850 im europäischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 29 (2003), H. 1, S. 5–39.

[5] Thomas Mann, Der Zauberberg (1924), in: Ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5/1, hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann, Frankfurt a. M. 2002, S. 603 u. S. 1047.

[6] Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung: ›Schuld‹, ›schlechtes Gewissen‹, Verwandtes, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. Von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari (1967), München 1993, S. 317.

[7] Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, 4 Bände, München 2009–2015.

[8] Vgl. Jörn Leonhard, »1789 fait la ligne de démarcation«: Von den napoleonischen idées libérales zum ideologischen Richtungsbegriff libéralisme in Frankreich bis 1850, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, Jg. 11 (1999), S. 67–105.

[9] Vgl. Ders., From European Liberalism to the Languages of Liberalisms: The Semantics of Liberalismin European Comparison, in: Redescriptions. Yearbook of Political Thought and Conceptional History, Jg. 8 (2004), S. 17–51.

[10] Vgl. Ders., Liberalismus, S. 296 u. S. 567.

[11] Vgl. Jörn Leonhard, »Die Zukunft der Geschichte «? – Carl von Rotteck und die Widersprüche des deutschen Frühliberalismus, in: Stefan Gerber u. a. (Hg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum n Deutschland, Bd. 1, Göttingen 2014, S. 373–389.

[12] Vgl. Anselm Doering-Manteuffel u. Jörn Leonhard, Liberalismus im 20. Jahrhundert – Aufriss einer historischen Phänomenologie, in: Dies. (Hg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 13–32.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016