Eine brandgefährliche Lage Wohin entwickelt sich die internationale Ordnung?

Von Thomas Jäger

Von dem Ende des Ost-West-Konflikts nach 1989 unterscheidet sich die derzeitige Lage für Europa grundlegend. Damals wollten die USA Europa im Wettstreit mit der Sowjetunion an sich binden; heute indes lockert die westliche Großmacht die Verbindungen mit der EU. Hinter dieser Politik steckt ein klares Kalkül – der EU aber fehlt bisher jede Strategie, mit dieser Lage und den Herausforderungen durch Russland und China umzugehen. Die USA können ohne den institutionellen Rahmen des Westens leben, die EU hingegen nicht.

Die Ausgangslage

Vor dreißig Jahren gab es keinen Zweifel am Ausgang der globalen Konkurrenz: Der Westen hatte den Ost-West-Konflikt, den viele analog der amerikanischen Bezeichnung als Kalten Krieg etikettieren, für sich entschieden, obwohl Letzterer in einer anderen Lesart nur eine bestimmte Phase des Ersteren darstellte, dem die Anti-Hitler-Koalition vorausgegangen war und die Entspannung folgte. Demokratie und Marktwirtschaft hatten sich in jahrzehntelangem Ringen als die überlegenen Systeme erwiesen. Von den zwei Polen, um die sich die Staaten gruppierten, verlor der eine seine Anziehungskraft, und seine Verbündeten taumelten in ordnungspolitische Zwischenräume. Konflikte, die in der Konkurrenz der beiden Supermächte eingefroren waren, tauten auf und wurden blutig ausgetragen. Ganze Regionen gerieten in tiefe Spannungen. Neue Staaten lösten sich aus den bisherigen Herrschaftsverbünden und postulierten ihre Unabhängigkeit. Die internationale Ordnung war durch den Untergang der Sowjetunion ins Wanken geraten, trug einige Staaten in die Sphären einer sicher geglaubten Neuen Welt und warf andere in heftige Zerwürfnisse und Gewaltkonflikte.

Heute, dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, ist das zuvor gefällte Urteil darüber, wer diesen Systemkonflikt für sich entschieden hat, nicht mehr so sicher und eindeutig zu treffen wie bislang angenommen. […]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019