Über den Begriff der „Krise“ Eine historisch-semantische Skizze

Von Michael Makropoulos

Manchmal verdeckt die nüchterne Bestimmung eines Begriffs dessen aufgeladenen und gerade daher ausgesprochen problematischen Gehalt: Eine Krise, schrieb Paul Valéry, sei »der Übergang von einer funktionellen Ordnung zu irgend einer anderen«. Allerdings sei es ein Übergang, der schon deshalb eine außeralltägliche Qualität hat, weil er sich in einer besonderen Zeiterfahrung manifestiert. »Während einer Krise scheint die Zeit ihre Natur zu ändern, ihre Dauer wird nicht mehr wie im gewöhnlichen Ablauf der Dinge wahrgenommen, und statt Beständigkeit zu symbolisieren, steht der Zeitverlauf nun für Veränderung.« Jede Krise sei nämlich auf neue Faktoren zurückzuführen, die die alte Ordnung der Wirklichkeit beeinflussen und »ein stabiles oder labiles Gleichgewicht stören, das einmal existiert hat.«[1] Man kann dies natürlich dramatisieren, und dann bezeichnet der Begriff der »Krise« tatsächlich eine »Zeit der herumirrenden Tatsachen«, in der »alles Exzentrische, aus den Fugen geratene«, alles »Standpunktlose und Unberuhigte« seinen Platz gerade in der maßlosen »Überformung« findet, die der »Entformung« antwortet. Arnold Gehlen hat derart die Rationalität des neuzeitlichen Manierismus bestimmt, der zum Archetyp einer »Gegennatürlichkeit« wurde, die in der Malerei schließlich in die vollendete Abstraktion der Klassischen Moderne mündete.[2] Damit steht man allerdings schon mitten in der anderen Bestimmung des Begriffs, die den zweiten Pol der Krisensemantik bildet und die den Begriff der Krise nicht nur mit einer fundamentalen, sondern vor allem mit einer problematischen Transformation verbindet, die in eine ungewisse, potenziell bedrohliche und möglicherweise sogar katastrophische Zukunft führt. »Krise« bedeutet dann »Ordnungsschwund«, wie Hans Blumenberg die neuzeitliche Initialsituation charakterisiert hat.[3] Dieses Verständnis von Krise als potenzieller Destruktion ist es, was […]

Anmerkungen:

[1] Paul Valéry, Propos sur l’Intelligence, in: Ders., OEuvres, Bd. 1, Paris 1957 [1925], S. 1040–1057, hier S. 1041 (Aus dem Französischen vom Vf.).

[2] Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a. M. 1965, S. 177 u. S. 179.

[3] Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1974, S. 158.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2013 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013