Perspektiven auf Corona (I) Welche Erkenntnis ist aus Perspektive Ihrer Disziplin die Relevanteste; Was hat Sie am meisten überrasscht?
Jutta Allmendinger, Soziologie
Was mich überrascht hat, war unsere Überraschung über die Folgen. Denn es war abzusehen, dass mit Homeschooling und Homeoffice Frauen in besonders starker Weise von der Pandemie betroffen sein würden. Es war auch abzusehen, dass sich die soziale Ungleichheit zwischen Kindern aus sozioökonomisch unterschiedlich aufgestellten Elternhäusern verstärken würde. Und es war abzusehen, dass wir mit den uns vorliegenden Daten keine sauberen Analysen würden erstellen können, welche Maßnahmen für wen, wann und wie wirken würden.
Anja Besand, Erziehungswissenschaften
Aus Perspektive der politischen Bildung war es im Kontext der Pandemie interessant zu beobachten, wie sich die Einhaltung von Regeln (Masken tragen/keine Masken tragen) etabliert und auch wieder gelöst hat. Über die Einhaltung sozialer Regeln sprechen wir in der politischen Bildung nicht gerne – schließlich geht es uns um kritische Urteilskraft und nicht um politische Gehorsamkeit. Hier ergeben sich durchaus neue Fragestellungen, die in der Zukunft aufmerksamer in den Blick genommen werden müssen. Gleichzeitig geht es aber auch um Fragen der Partizipation in Krisenzeiten. Denn die Pandemie hat auf schockierende Weise sichtbar gemacht, wie instabil und fragil Partizipations- und Anhörungsrechte zum Beispiel von jungen Menschen sind – kaum wird es ein bisschen turbulent, geraten diese völlig aus dem Blick.
Thomas Grundmann, Philosophie
Gerade in Krisensituationen wie der Corona-Pandemie dürfen politische Entscheidungen den Boden wissenschaftlicher Tatsachen nicht verlassen. Doch woran können Laien erkennen, was wissenschaftliche Tatsachen sind – zum Beispiel über die tatsächliche Sterblichkeit Infizierter oder bevorstehende Ansteckungswellen? Der beste verfügbare Indikator ist die qualifizierte Mehrheitsmeinung einschlägiger Spezialist:innen – die es auch zu Corona gab, trotz abweichender Einzelmeinungen. Wissenschaftliche Mehrheitsmeinungen sind aber für Laien nicht immer leicht zu erkennen, auch weil falsche Expert:innen sich bewusst in den Vordergrund drängen. Gleichzeitig versuchen Verschwörungstheoretiker:innen und sogar manche Politiker:innen, die ganze Aufmerksamkeit auf ihnen passende Mindermeinungen zu lenken. Die Medien betonen diese aus Sensationslust oder weil sie unparteilich sein wollen. Das Erkenntnisproblem kann meines Erachtens nur gelöst werden, indem Wissenschaften und Medien gemeinsam daran arbeiten, den wissenschaftlichen Konsens öffentlich deutlicher sichtbar zu machen.
Anna Neumaier, Religionswissenschaft
Ich würde noch nicht von Erkenntnissen sprechen, dazu sind wir noch zu sehr im Forschungsprozess. Aber um mal zu skizzieren, was in meinem Feld – der Forschung zu Religion und digitalen Medien – heraussticht: Viele Religionsgemeinschaften, darunter auch die großen Kirchen, haben sich jahrzehntelang schwergetan mit der Digitalisierung ihrer Formate, auch mit der Präsenz ihrer Themen, Personen und Organisationen in den sozialen Medien. Es gab wenige Leuchtturmprojekte, nur vereinzelt systematische Anstrengungen. Angesichts der Kontaktbeschränkungen kurz vor Ostern 2020 sind diese Religionsgemeinschaften gewissermaßen Hals über Kopf in eine maximale Auseinandersetzung mit Digitalität geschmissen worden. Es ist hochspannend zu beobachten, was sich da dann tat: in welchem Maße und in welchen Formen religiöse Inhalte digital gingen, welche Aushandlungen und Neubestimmungen dafür nötig waren und sind, wo Innovationen gewagt werden.
Paul Nolte, Zeitgeschichte
Aus historischer Perspektive wird man das erst später sicherer bestimmen können. Aber von heute aus: Bemerkenswert und auch überraschend ist das Ausmaß, in dem individuelle und kollektive »Gesundheit« ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken konnte. Auch: das Ausmaß, in dem freie Gesellschaften eine umfassende Zäsur in ihren Operationsweisen vollzogen haben; der Begriff »Lockdown« beschreibt das nur unzureichend. Das ist, außerhalb von Kriegszeiten (ja, dieser Vergleich erscheint mir sinnvoll!), historisch singulär, ebenso wie die Totalisierung der medialen Aufmerksamkeit: Über Monate hinweg betrafen mindestens sechs von zehn Meldungen in der tagesschau-App die Corona-Pandemie. Für die Spanische Grippe vor hundert Jahren galt das Gegenteil. Corona ist aus historisch-kulturwissenschaftlicher Sicht vor allem als Diskursphänomen spannend. Vielleicht passt das, unabhängig von dem Virus, zu einem allgemeinen Trend des frühen 21. Jahrhunderts. Die zunehmende Diskursivierung sozialer Konflikte prägt auch andere Arenen (Identitätspolitik, Antisemitismus und so fort).
Henrique Ricardo Otten, Verwaltungswissenschaften
Besonders relevant ist der große Nachholbedarf in puncto Digitalisierung und auch der entsprechenden Ausstattung in der öffentlichen Verwaltung; das ist freilich nicht neu, aber das Ausmaß zeigte sich doch überdeutlich. Erstaunlich war allerdings die Vielzahl der Abstimmungsprobleme in der öffentlichen Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen. Dass die öffentliche Kommunikation staatlicher Akteure in Krisenzeiten konsistent gestaltet werden muss und hier speziell die Organisation öffentlicher Gesundheitskommunikation zu überprüfen ist, gehört zu den zentralen Einsichten, die sich aus der Perspektive der öffentlichen Verwaltung aus der Pandemie gewinnen lassen.
Sophie Schönberger, Rechtswissenschaften
Am relevantesten für die Rechtswissenschaft war aus meiner Sicht die Intensität der Auseinandersetzung, mit der über sehr grundlegende Dinge gestritten wurde – sowohl im Hinblick auf die Freiheitseinschränkungen als auch mit Blick auf das institutionelle Setting, in dem sie vorgenommen wurden. Am Ende hat sich das verfassungsrechtliche System im Großen und Ganzen in der Krise bewährt, auch wenn man hier meiner Meinung nach noch einiges nachträglich aufarbeiten müsste – insbesondere die Fragen der Kompetenzverteilung zwischen Parlament und Exekutive einerseits und Bund sowie Ländern andererseits. Am meisten überrascht hat mich, wie groß die Unsicherheiten gerade im föderalen Gefüge zum Teil waren.
Hans-Jörg Sigwart, Politische Theorie
Aus demokratietheoretischer Perspektive hat die Corona-Pandemie Hinweise zu der Frage geliefert, unter welchen Bedingungen politische Strukturen und Prozesse auch unter dem Druck von fundamentalen Krisen- und Ausnahmesituationen weiterhin im Sinne demokratischer Standards funktionieren können beziehungsweise an welchen Stellen Demokratien im »Ausnahmezustand« anfällig sind. Neben dem Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Parlament und dem politischen Umgang mit unterschiedlichen Formen des öffentlichen Protests hat sich meines Erachtens vor allem die Art und Weise, wie sich die öffentliche Debatte in einer solchen Krisensituation (und unter den Bedingungen digitalisierter öffentlicher Kommunikation) entwickelt, als zentrale Frage erwiesen. Das Ausmaß der teilweisen Verhärtung, Polarisierung und Polemisierung der öffentlichen Debatte war vielleicht nicht wirklich überraschend, aber sehr bemerkenswert und demokratietheoretisch bedenklich.
Rolf van Dick, Sozialpsychologie
In unseren eigenen Studien haben wir immer wieder gefunden, dass sich die große Mehrheit unserer Befragten in mehreren repräsentativen Stichproben an die Regeln gehalten und sich während der letzten zwei Jahre sehr bemüht hat,
die Empfehlungen aus Wissenschaft und Politik umzusetzen. 85–90 Prozent gaben an, Abstände einzuhalten, Maske zu tragen usw. In der medialen Berichterstattung richtete sich der Fokus aber sehr häufig auf die zahlenmäßig eher kleinen Gruppen, die gegen die Coronaverordnungen protestiert oder die die Regeln verletzt haben, so wie die Jugendlichen, die auf dem Frankfurter Opernplatz ausschweifend gefeiert haben. Weiterhin haben wir immer wieder gefunden, dass das Gefühl »dazuzugehören« und sich zu identifizieren, zum Beispiel mit der Familie, der Nachbarschaft oder mit seinem Land, zu einer besseren Einhaltung der Regeln führte und auch zu einer besseren Verarbeitung der schwierigen Situation, das heißt zu weniger Stress.
Elmar Wiesendahl, Parteienforschung
Aus Parteienforschersicht bestätigte sich das Phänomen, dass Parteien bei politischen Entscheidungsnotständen als kollektive Politikformulierungs- und Entscheidungsakteure von den dominierenden Exekutivspitzen sowohl als außerparlamentarische als auch parlamentarische Mitspieler marginalisiert werden. Die Ausbootung der Parteien ging so weit, dass sie nicht einmal als Vermittlungs- und Mobilisierungsinstanzen von öffentlicher Unterstützung für die Umsetzung der Exekutiventscheidungen herangezogen wurden. Zu fragen ist, warum bei den mehrmaligen mühseligen Verhandlungen zwischen den Spitzen der Landesregierungen mit der Kanzlerin trotz der Aufgliederung nach A- und B-Ländern so gut wie keine auf gemeinsamer Parteizugehörigkeit fußende Lagerbildung entstand.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-4-2022 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2022