Islamistischer Antisemitismus im 21. Jahrhundert Eine existenzielle Bedrohung Israels und von Jüdinnen und Juden weltweit

Von Thorsten Hasche

Nach den grausamen Anschlägen der Hamas vom 7. Oktober 2023 offenbart eine genauere Betrachtung der polarisierten öffentlichen Auseinandersetzungen um die anhaltenden Kampfhandlungen zwei besonders relevante Veränderungen dieses »Jahrhundertkonfliktes«[1] in der MENA (Middle East and North Africa)- und Golf-Region. Unterhalb der zunächst unverändert erscheinenden Oberfläche eines langanhaltenden, auf allen Seiten verhärteten und gleichsam eingefrorenen Konfliktsystems, das regelmäßig zu Gewaltausbrüchen führt, haben nämlich signifikante regionale und zunehmend auch globale Machtverschiebungen stattgefunden. Diese beiden akuten und neuartigen Aspekte des palästinensisch-israelischen Konfliktes lassen sich mithilfe einer eingehenden  zeithistorischen Analyse erklären. Das enorme Ausmaß der Gefahr für die Existenz des Staates Israels und von Jüdinnen und Juden weltweit ergibt sich dabei nicht allein durch die Perfidität der Hamas-Anschläge. Besonders die dahinterstehenden veränderten Machtkonstellationen bestimmen in vielerlei Hinsicht zahlreiche Dimensionen des weiteren Konfliktverlaufs und vor allem der globalen Konfliktwahrnehmung. Ohne eine angemessene Berücksichtigung und Erklärung dieser Sachverhalte liefe eine politische Analyse, vor allem aus Deutschland[2], empirisch sowie normativ ins Leere.

 

Zweierlei veränderte Realitäten im palästinensisch-israelischen Konflikt

 

Der erste neuartige Aspekt der Anschläge des 7. Oktobers 2023 betrifft die besondere und für den bisherigen Konfliktverlauf beispiellose Grausamkeit der Attacken der Hamas. Hervor stechen ihr kopierter »IS-Stil«[3] und ihr zur Schau gestellter eliminativer Antisemitismus[4], der die Angriffe motivierte und für Teile der Öffentlichkeit weltweit auch legitimierte. Israelische Zivilistinnen und Zivilisten sind in dieser Sichtweise legitime Ziele uneingeschränkter Gewaltanwendung. Die schockierenden Exekutionen und die wahllose Geiselnahme von Personen unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten stellte ein Novum in der Gewaltanwendung der Hamas dar. Das bis dato unbekannte Ausmaß der Gewalt verursachte bei Juden und Jüdinnen weltweit einen massiven Schock und ein gravierendes Trauma und erschütterte das Sicherheitsgefühl der israelischen Bevölkerung massiv. Die innenpolitische Auseinandersetzung um mögliche Fehleinschätzungen der eigenen Militär- und Sicherheitsdienste im Vorfeld der Anschläge hält unterdessen an.

Bis zum 7. Oktober 2023 sind seit der Shoah nicht so viele Jüdinnen und Juden innerhalb kürzester Zeit ermordet und als Geiseln verschleppt worden. Dadurch ist die konfliktive Auseinandersetzung zwischen Israel, den palästinensischen Gebieten und seiner arabischen Nachbarschaft[5] weitgehend auf die Dimension eines manichäischen Kampfes der Hamas gegen Israel reduziert worden. Die Hamas erreichte dadurch das seit ihrer Gründung forcierte Ziel: die Erzeugung einer existenziellen Bedrohung des Staates Israels und damit der einzigen staatlich-souveränen Zuflucht von Jüdinnen und Juden weltweit.

Der zweite Aspekt betrifft insbesondere Facetten der umgehend nach den Anschlägen und den darauffolgenden Militäraktionen der israelischen Streitkräfte (IDF) einsetzenden transnationalen Solidaritätsbekundungen mit der palästinensischen Bevölkerung. Diese waren und bleiben von ihrer Zusammensetzung sowohl arabisch und türkisch als auch schiitisch und sunnitisch geprägt, was nicht unbedingt zu erwarten war. So gab es bis zu den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 zahlreiche diplomatische Bemühungen um eine Normalisierung der arabisch-israelischen Beziehungen, die nun jedoch mindestens mittelfristig torpediert sein dürften.[6] Unabhängig von der Frage, ob und in welchem Maße die Ausführung der Anschläge durch die Hamas von ihren internationalen Unterstützern wie dem Iran oder sogar der Russischen  Föderation beeinflusst wurde, sind ihre negativen Auswirkungen auf die Beziehung Israels zu seinen Nachbarn enorm. Israel ist somit durch die Anschläge und die eingefrorenen diplomatischen Beziehungen außenpolitisch sehr stark isoliert worden – und das in einer ohnehin sehr kritischen Phase, in der bereits zuvor nicht nur der  soziale Zusammenhalt, sondern auch  Fortbestand der liberalen israelischen Demokratie unter der Regierung Benjamin Netanyahus in Gefahr schienen.[7]

Zusätzlich erfuhren diese transnationalen Solidaritätsbekundungen einen bisher unbekannt hohen Zuspruch in den sozialen Medien, insbesondere in den Öffentlichkeiten der westlichen Einwanderungsländer. Das enorme Ausmaß der Teilnahme an pro-palästinensischen Demonstrationen und das dortige Ausblenden der Gewaltherrschaft der Hamas über den Gaza-Streifen und der zynischen Inkaufnahme ziviler Opfer auf palästinensischer Seite durch die Hamas zeigten eine weitreichende und besorgniserregende Verschiebung der Konfliktwahrnehmung an. Antisemitische Stereotype und eine grundlose Feindschaft gegenüber Israel[8] bleiben nicht mehr beschränkt auf die loyale Gefolgschaft der Hamas und ihrer staatlichen und nicht-staatlichen Unterstützer, sondern haben in verschiedenen Milieus weltweit diskursive Hegemonie erlangt. In diesen Milieus wird Israel nicht nur das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen, sondern vielmehr sogar die Schuld und Verantwortung an den Taten der Hamas selbst zugeschrieben.[9] Diese diskursive Machtverschiebung hin zu einem globalen Antisemitismus als default setting in zahlreichen Milieus und die dahinter stattgefundenen realen Machtverschiebungen in regionaler und globaler Perspektive machen die neuartige existenzielle Bedrohung des Staates Israels und von Jüdinnen und Juden weltweit aus. Eine Rekonstruktion der Genese der Hamas als islamistischer Bewegung und eine Analyse ihrer Ideologie und transnationaler Unterstützungsnetzwerke sowie der regionalen und internationalen Einbettung des Konflikts hilft, diese neuartige Bedrohungssituation zu erklären. Zusätzlich können dadurch mögliche Folgen für die Sicherheitslage Israels und die zukünftigen Handlungsspielräume westlicher Außenpolitik in der MENA- und Golf-Region abgeschätzt werden..

 

Was kennzeichnet den sunnitischen Dschihadismus der Hamas?

Die Gründung der Hamas im Jahr 1988 als eines regionalen Ablegers der ägyptischen Muslimbruderschaft[10] ist am besten zu verstehen im Licht der fundamentalen Umbrüche der MENA- und Golf-Region nach dem globalen und regionalen Schlüsseljahr 1979.[11] Während mit dem Camp-David-Abkommen 1978/79 durch die USA eine Stabilisierungsdynamik zwischen den vornehmlich säkularen arabischen Staaten und Israel eingeleitet worden war, entfaltete sich parallel dazu infolge der Islamische Revolution im Iran, des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan und der Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch militante Islamisten eine islamistische Revolte gegen ebendiese Staatsordnungen, die nach dem Ende der britischen und französischen Kolonialherrschaft und besonders wirkungsvoll mit Gründung der laizistischen Republik der Türkei 1923 entstanden waren.

In den Schlüsseltexten sowohl schiitischer als auch sunnitischer Islamisten[12] bildeten Antisemitismus und Anti-Amerikanismus oftmals die geteilte ideologische Basis. Die Trennung von Staat und Religion der neu gegründeten Staaten war zentraler Ausgangspunkt der Legitimation ihrer inkrementellen und gewaltsamen, ihrer politischen sowie terroristischen Kämpfe gegen Israel, die säkularen Staaten der MENA-Region sowie die USA als geopolitischen Nachfolger der britischen und französischen Kolonialreiche.[13] Dabei stießen ihre religiös fundierten, laienhaft theologisch gerahmten und doch vornehmlich politisch ausgerichteten Schriften nicht nur in ihren eigenen Netzwerken und Unterstützerkreisen, sondern auch in Teilen der arabischen, iranischen und türkischen Öffentlichkeiten auf ein breites Interesse.

Denn einerseits ist sehr gut erschlossen, wie erfolgreich die nationalsozialistische Diktatur ihren Antisemitismus und ihre Feindschaft zum britischen Empire in die arabische Welt tragen konnte und auf welche Rezeptionsnetzwerke sie dabei gestoßen war.[14] Auf der anderen Seite sollte in Erinnerung gerufen werden, wie stark die Öffentlichkeiten der MENA- und Golf-Region auch abseits islamistischen Einflusses durch die – in Teilen herrschaftlich-instrumentelle – Auseinandersetzung mit der europäischen Kolonialherrschaft geprägt waren und bleiben.[15] Aus dieser Perspektive ist die Gründung des Staates Israels eben keine gerechtfertigte Reaktion auf die Vernichtung des europäischen Judentums (Holocaust, Shoa) durch die nationalsozialistische Politik und Ideologie, sondern sie wird als Nakba (Katastrophe, Unglück) infolge einer umfassenden Verschwörung gegen die arabischen und islamischen Interessen betrachtet.

Die Hamas markierte demnach aufgrund ihrer Genese als dschihadistischer Organisation, also als gewaltbereiter islamistischer Bewegung, von Beginn an einen fundamentalen Wandel in der palästinensischen Politik. Ihre Ideologie eines eliminativen Antisemitismus bildete eine extreme Zuspitzung des Konflikts mit Israel ab, der aus dieser Sicht nur durch die Vernichtung des Staates Israel zu beenden wäre.[16] Dies schränkte den Spielraum diplomatischer Lösungen des palästinensisch-israelischen Konflikts und politische Vorhaben, wie eine »Zwei-Staaten-Lösung« oder die Vorschläge des Osloer Abkommens von 2003, sukzessive immer stärker ein. Der Aufstieg der Hamas seit den 2000er Jahren, der Bruch mit der säkularen Fatah ab 2007, die unterschiedlichen Entwicklungen palästinensischer Politik im Gaza-Streifen und im Westjordanland, das heißt letztlich die Fragmentierung und Radikalisierung der palästinensischen Politik insgesamt[17], waren Ergebnisse der unbedingten Operationsweise der Hamas als dschihadistischer Organisation.[18]

 

Wie funktioniert das »System Hamas« im Gaza-Streifen?

 

Infolge ihrer Machtdurchsetzung und der Transformation der palästinensischen Politik des Gaza-Streifens hin zu einer Ausprägung des sunnitischen Dschihadismus mitsamt gesellschaftlicher Funktionsübernahme etablierte sich die Hamas als bestimmende Organisation in den zentralen Bereichen der palästinensischen Selbstverwaltung. Als einziger innenpolitischer Rivale im Gaza-Streifen verblieb der sogenannte Islamische Dschihad, der jedoch in keinerlei Hinsicht eine zivilere oder im Umgang mit Israel moderatere Kraft darstellt. In diesem Transformationsprozess bildete die Hamas organisatorische und personelle Ressourcen aus, um öffentliche Güter bereitzustellen, und übernahm die Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Sie verband diese quasi-staatliche Funktionsübernahme jedoch stets mit ihren militärischen Zielen der Herstellung eines umfangreichen und befestigten Tunnelsystems, der Produktion von ballistischen Kurzstreckenraketen, dem Ausbau von versteckten Kommandoposten und dem Anlegen von Waffenlagern und militärischen Ausbildungscamps. Somit monopolisierte die Hamas große Teile der Ressourcen des Gaza-Streifens für ihre dschihadistischen Zwecke. Für die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen bedeutet dies eine praktische Unentrinnbarkeit vor dem umfassenden gesellschaftlichen Einfluss der Hamas.[19] Gleichermaßen schöpfte die Hamas Teile der internationalen Hilfsleistungen der EU, USA und UNO für die palästinensische Bevölkerung ab, was die internationalen Geldgeber vor das unlösbare Dilemma stellte, die Zivilbevölkerung zu unterstützen, ohne gleichzeitig den bewaffneten Kampf der Hamas gegen Israel mitzufinanzieren.[20]

In diesem Sinne lässt sich die von der Hamas ausgehende Gewalteskalation nur verstehen, wenn man ihre spezifische Operationslogik als dschihadistische Gewaltunternehmung nicht außer Acht lässt. Im Rahmen dieser Logik dienen die allokierten strategischen Ressourcen des Gaza-Streifens allein dem militärisch-terroristischen Zweck der Bekämpfung des Erzfeindes Israel. Dies umfasst die gezielte Inkaufnahme ziviler Opfer im Gaza-Streifen und die Unterordnung der palästinensischen Gesellschaft unter das Ziel der Zerstörung Israels, was keinen Spielraum für diplomatische Verhandlungen zur Erreichung einer »Zwei-Staaten-Lösung« oder einer dauerhaften Beilegung der Kriegshandlungen mit Israel lässt.

 

Stabilisierungstendenzen nach den Verwerfungen des »Arabischen Frühlings«

 

Doch die Hamas hätte diese politisch-militärische Monopolstellung im Gaza-Streifen und ihre wirkmächtige Außenwahrnehmung als gewissermaßen legitime Speerspitze des palästinensischen Widerstands gegen Israel ohne zwei internationale Unterstützungsnetzwerke unterschiedlicher Art nicht erreichen können. Auf der einen Seite ist die Hamas fest eingebunden in die Finanz-, Ressourcen-, Technologie- und Waffenverbreitungsnetzwerke der schiitischen Theokratie des Irans, die wiederum nicht nur in verschiedene lokale Konflikte der Region verstrickt ist, sondern ihre Außenpolitik weiterhin am Primat der Bekämpfung der USA und Israels ausrichtet, sodass die sunnitische Hamas einen geeigneten Verbündeten ihrer Regionalpolitik darstellt.[21] Auf der anderen Seite spielt die Hamas gerade in der (sozialen) Medienstrategie des Emirats Qatar und des dort ansässigen al-Jazeera-Mediennetzes eine gewichtige Rolle. Die Unterstützung für die palästinensische Sache und des Widerstandes der Hamas gegen die als Besatzungspolitik bezeichneten Aktionen und die regionale Stellung Israels sind ein zentraler Topos der Außen- und Medienpolitik des finanzstarken und zunehmend global einflussreichen Emirats.[22]

Nachdem die massiven gesellschaftlichen Verwerfungen im Zuge der zunächst als »Arabischer Frühling« bezeichneten Massenaufstände in der MENA- und Golf-Region in den 2010er Jahren zu intern und extern verursachten Regimewechseln und zahlreichen langanhaltenden bewaffneten Konflikten und dem Aufstieg des Islamischen Staates geführt hatten,[23] zeichnet sich inzwischen ein Trend der autokratischen und theokratischen Re-Stabilisierung ab, der mit verschiedenen regionalpolitischen Machtverschiebungen einhergeht. Einerseits lässt sich inzwischen deutlich erkennen, inwiefern der fossile Reichtum und Wirtschaftsaufschwung der ressourcenstarken Golf-Staaten nicht nur deren diplomatische und regionalpolitische Rolle verbessern, sondern auch zu einer wirtschaftlichen Erholung in der Region geführt haben, infolgedessen sich einige autoritäre Regimes und Monarchien (gerade Ägypten, Marokko und Tunesien, in Teilen der Irak) zu stabilisieren vermochten.[24]

Andererseits hat sich das Feld des Islamismus in seinen schiitischen sowie sunnitischen, in seinen gewalttätigen ebenso wie in seinen eher politisch agierenden Spielarten verändert. So war die ägyptische Muslimbruderschaft zu Beginn der Massenproteste ab Ende 2010 eine zentrale politische Kraft und konnte während der kurzen Präsidentschaft Mohammed Mursis signifikanten regionalen Einfluss ausüben, was als enorme Herausforderung der sunnitischen Orthodoxie, gerade in Saudi-Arabien, betrachtet worden ist. Ihre Niederschlagung hat die politisch orientierten Spielarten des Islamismus nahezu komplett ausgeschaltet und inzwischen sind die zentralen religiösen Bewegungen und Denkschulen der Schiiten und Sunniten wieder eng mit den jeweiligen Staatsführungen verbunden. Parallel dazu ist der nationalistische Islamismus à la Recep Tayyip Erdogans AKP in der Türkei infolgedessen langjähriger Präsidentschaft zu einem konservativen Mainstream geworden. Diese Veränderungen haben in der MENA- und Golf-Region eine ungewöhnliche Mixtur aus demokratischen und theokratischen Elementen in der politischen Praxis und Legitimation der Staatsführungen entstehen lassen.[25] Die gewalttätigen dschihadistischen Bewegungen wie die Überreste des Islamischen Staates und lokale Ableger der al-Qaida hingegen haben sich ideologisch wie operativ weiter radikalisiert und sind vor allem in lokale Gewaltökonomien eingebunden, ohne politische oder zivile Alternativen anbieten zu können.[26]

 

Die existenzielle Bedrohung Israels und das schwierige Fahrwasser für westliche Außenpolitik

 

Die perfiden Attacken der Hamas und die verschlechterte geopolitische Situation Israels lassen sich nur im Lichte dieser veränderten Konstellationen erklären, die von einer Machtverschiebung hin zu den sunnitischen Golf-Monarchien und einer Dominanz muslimischer Themen in der Außenpolitik gegenüber den westlichen Verbündeten Israels geprägt sind. Chinas Aufstieg in der Region und der anti-westliche Kurs Russlands zielen vor allem darauf ab, den europäischen Einfluss und die US-amerikanische Hegemonie zurückzudrängen, aber keine belastbaren Konflikteindämmungs- oder gar Konfliktlösungsmechanismen bereitstellen.[27] Die USA hingegen verfügen infolge ihrer gescheiterten militärischen Interventionen nach ihrem unipolaren Moment einer liberalen Hegemonie nicht mehr über die kulturellen oder militärischen Mittel, um das Konfliktsystem im Nahen Osten im Alleingang zu stabilisieren, und sind händeringend auf verlässliche regionale Partner angewiesen.

Schon die internationale, gegen Israel ausgerichtete BDS (Boycott, Divestment and Sanctions)-Kampagne erfuhr einigen Zuspruch in den westlichen Einwanderungsgesellschaften und konnte hier durchaus Einfluss entfalten, was und bereits einen gefährlichen Trend in der gezielten internationalen Isolation Israels anzeigte. Inzwischen ist – global betrachtet – in den sozialen Medien und zahlreichen Öffentlichkeiten ein dominantes ideologisches Amalgam aus Antisemitismus und Anti-Amerikanismus zu einer Bedrohung der israelischen Sicherheitslage geworden, da es Israels Außenwirkung massiv diskreditiert und aktuell komplexere diplomatische und regionale Friedenslösungen verhindert.[28]

Somit sind der Staat Israel und Jüdinnen und Juden nicht nur einem massiven Anstieg von Antisemitismus und Gewalt ausgesetzt, der in zahlreichen Milieus zu einer Art kulturellem Selbstverständnis geworden ist. Vielmehr fordern verschiedene Staaten der MENA- und Golf-Region sowie China und Russland sowohl verdeckt als auch offen die US-Hegemonie in der Region heraus, was die diplomatischen und militärischen Mittel der Schutzmacht Israels deutlich einschränkt. In diesem Sinne gibt es gute Gründe für die Annahme, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi bereits direkt nach den Anschlägen vom 7. Oktober formulierte: Der Westen kämpft in diesem Konflikt zu einem gewissen Anteil auch um die Zukunftsfähigkeit seiner liberalen Weltordnung kämpft.[29]

 

[1] Vgl. Michael Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Arabern und Juden, München 2021.

 

[3] Vgl. Asiem El Difraoui, Die Hydra des Dschihadismus. Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr, Berlin 2021 und Rüdiger Lohlker, Theologie der Gewalt. Das Beispiel IS, Wien 2016.

[4] Vgl. Charles Asher Small (Hg.), Global Antisemitism. A Crisis of Modernity, Leiden & Boston 2013 und Samuel Salzborn, Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Weinheim 2022.

[5] Aus der schieren Masse der Publikationen stechen durch ihr Detailwissen, ihre Klarheit und Prägnanz heraus: Muriel Asseburg &  Jan Busse, Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven, München 2020; Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München 2015 und Noam Zadoff, Geschichte Israels. Von der Staatsgründung bis zur Gegenwart, München 2020.

[6] Vgl. die Abraham-Abkommen, die ab 2020 zunächst zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain, später sogar mit Marokko und dem Sudan geschlossen worden sind. Noch ist unklar, wie Saudi-Arabien sich in Bezug auf die Abraham-Abkommen verhalten wird.

[7] Vgl. die Analysen in der Ausgabe 18–19/2023 der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte mit dem Schwerpunkt »Israel«.

[8] Vgl. Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus, Luxemburg 2021.

[9] Man nehme exemplarisch die starke öffentliche Kontroverse um die Stellungnahme der global prominenten Wissenschaftlerin Judith Butler, The Compass of Mourning, in: London Review of Books, 19.10.2023.

[10] Vgl. Jocelyne Cesari, What is Political Islam?, New York 2017 und Thorsten Hasche, Quo vadis politischer Islam? AKP, al-Qaida und Muslimbruderschaft in systemtheoretischer Perspektive, Bielefeld 2015.

[11] Vgl. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019.

[12] Vgl. Roxanne L. Euben & Muhammad Qasim Zaman (Hg), Princeton Readings in Islamist Thought. Texts and Contexts from al-Banna to Bin Laden, Princeton 2009.

[13] Vgl. Rolf Steininger, Die USA, Israel und der Nahe Osten. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2022.

[14] Vgl. Jeffrey Herf, Nazi Propaganda for the Arab World, London & New Haven 2009.

[15] Vgl. Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993 und Ders., Pulverfaß Nahost. Eine arabische Perspektive, Stuttgart 1997.

[16] Vgl. zur aktuellen Bedeutung der Hamas Charter von 1988, die 2017 aktualisiert worden ist, Bruce Hoffman, Understanding Hamas’s Genocidal Ideology, in: The Atlantic, 10.10.2023, http://tinyurl.com/indes233n01/.

[17] Vgl. die Übersicht auf der Webseite des European Council on Foreign Relations:  http://tinyurl.com/indes233n02.

[18] Vgl. Helga Baumgarten, Kampf um Palästina. Was wollen Hamas und Fatah?, Freiburg 2013 und Joseph Croitoru, Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat, München 2010.

[19] Vgl. Rubhash Singh, The Second Partition of Palestine. Hamas–Fatah Struggle for Power, London 2021.

[20] Vgl. Amid Loewenthal u. a., Aid and Radicalization: The Case of Hamas in the West Bank and Gaza, IZA Discussion Paper, Nr. 14265, Bonn 2021.

[21] Vgl. Jonathan Schanzer, Hamas as Tehran’s Agent, in: Middle East Quarterly, Sommer 2022, S. 1–12.

[22] Vgl. Guido Steinberg, Qatar’s Foreign Policy. Decision-making processes, baselines, and strategies, SWP Research Paper, 04.04.2023.

[23] Gilles Kepel, Chaos und Covid. Wie die Pandemie Nordafrika und den Nahen Osten verändert, München 2021 und Marc Lynch, The New Arab Wars. Uprisings and Anarchy in the Middle East, New York 2016.

[24] Sebastian Sons, Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss, Bonn 2023.

[25] Vgl. Nilay Saiya, The Rise of Theocratic Democracy, in: Journal of Democracy, H. 4/2023, S. 66–79.

[26] Vgl. Mona Kanwal Sheikh & Dino Krause, Transnational Jihadism: A Conflict to Be Resolved, a Movement

to Implode or an Ideology to Be Countered?, in: Perspectives on Terrorism,  H. 1/2022, S. 2–11.

[27] Vgl. Katarzyna W. Sidlo (Hg.), The Role of China in the Middle East and North Africa (MENA). Beyond Economic Interests?, European Institute of the Mediterranean 2020.

[28] Vgl. Richard C. Schneider, Israels 9/11. Der Terror der Hamas und das israelische Dilemma, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 11/2023, S. 43–52.

[29] Vgl. Isabel Serpa da Silva, »Defending the West«. Neue Gegner, neue Macht, neue Verantwortung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, H. 1/ 2023, S. 5–37.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023