Gitter, die die Weld bedeuten Das Gefängnis im Film
Trübe Farben. Wie bei einer Fabrik erstrecken sich die Gefängnisgebäude über das abgeriegelte Gelände. Im Innern bewegen sich die Menschen gemäß einer ausgeklügelten Mechanik, kaum lebendiger als die Webmaschinen, an denen sie arbeiten, freudlose Bilder wie aus einer Dystopie der ultimativen Arbeitsgesellschaft, in der alles auf ein funktionalistisches Minimum reduziert ist. In der Anfangssequenz von The Getaway (1972) komprimiert Regisseur Sam Peckinpah in lediglich fünf Minuten loser Szenen die beklemmende Monotonie des Gefängnisalltags.
Nicht nur ist das Gefängnis eine beliebte Filmlocation. Obendrein sind einige der größten Filmklassiker Gefängnisfilme – Cool Hand Luke (1967), Papillon (1973), The Great Escape (1963), um nur eine Handvoll zu nennen. Und noch mehr: An der Spitze der »IMDb-Charts« – quasi der Weltrangliste des Films – thront seit Jahren The Shawshank Redemption (1994), von fast drei Millionen Menschen im Durchschnitt mit 9,3 von 10 möglichen Sternen bewertet. Der beliebteste Film der Menschheitsgeschichte ist ein über zwei Stunden langer Gefängnisfilm.
Das Kino braucht offenbar Gefängnisse mit ihren drastischen Alltagsbedingungen – ein idealer Nährboden für Helden und Antihelden, der Stoff, aus dem Hollywoods Drehbücher sind. In diesem Zusammenhang und angesichts des Verbreitungsgrads von (Hollywood-)Filmen, die teils über viele Generationen hinweg auch noch lange nach ihren Entstehungsjahren geschaut werden, lässt sich fragen: Wie viele Menschen haben jemals ein Gefängnis von innen gesehen, die Haftbedingungen verspürt? Und wie viele Menschen kennen demgegenüber mindestens einen Gefängnisfilm? Zugespitzt: Speist sich das Wissen über Gefängnisse in unserer Gesellschaft nicht überwiegend aus dem Gefängnisfilm – der zudem nicht immer, aber oft reale Geschichten aufgreift? Diese Überlegung allein gibt jedenfalls Anlass genug zu einem Blick auf die lange Historie des Gefängnisses im Film.
Zunächst: Der Gefängnisaufenthalt wird auf der Leinwand zumeist weder verklärt noch romantisiert. Dem schiebt allein schon die Ästhetik einen Riegel vor. Die ersten Gefängnisdarstellungen waren naturgemäß in der ohnehin kälteren, frugaleren Schwarz-Weiß-Kinematografie gehalten und zeigten karge Betten mit dünnen Decken und maroden Matratzen. Triste Wände, in denen Gitterstäbe das Fenster als buchstäblich einzigen Lichtblick verfinsterten. Ein niedriger Tisch oder eine Kiste für Karten- und Brettspiele bildet das kulturelle Zentrum der engen Zweier- oder Viererzellen. In Brute Force (1947), einem Klassiker des Gefängnisfilms, hält das in expressionistische Kälte und Düsternis getauchte »Westgate Penitentiary« seine Insassen mit einer kriegstauglichen Wachapparatur inklusive fest installierten Maschinengewehren in den Wachtürmen in Zaum. Oft erblickt die Kamera eine auf maximale Effizienz und Raumnutzung ausgerichtete Zellarchitektur, die sich über mehrere Etagen erstreckt und an Legebatterien erinnert.
Diese klaustrophobische Disposition machte das Gefängnis jedenfalls zu einem idealen Objekt und Hintergrund der Noir-Epoche in den 1940er und 1950er Jahren, anschließend für sozialkritische Anmerkungen jüngerer Regisseure und Drehbuchautoren, die das Filmgefängnis immer wieder gerne als Indiz für die Mängel und Untiefen der Gesellschaft heranzogen. Eine der absurdesten Notizen der Filmgeschichte ist sicherlich Stacy Keach in der Rolle des Jonas Candide, der als The Traveling Executioner (1970) im Jahr 1918 die Südstaatengefängnisse abklappert und mit seinem mobilen elektrischen Stuhl für hundert Dollar pro Kopf grausame Hinrichtungen vollstreckt (die Todgeweihten entspannt er zuvor mit einfühlsamen Erzählungen von den »fields of Ambrosia«).
Ganz oft spricht der Gefängnisfilm dem Gefängnis eine seiner elementarsten Funktionen ab – die bezweckte Rehabilitation scheitert entweder an der unverbesserlichen, im Knast allenfalls noch gesteigerten Kriminalität der Verbrecher oder wird von mal gleichgültigen, mal arglistigen Direktoren und Bewachern unterbunden. In White Heat (1949) mit James Cagneys psychopathischem Muttersöhnchen oder The Criminal (1960) mit Stanley Bakers schlagfertigem Ganovenparvenü ist das Gefängnis eine Brutstätte künftiger Verbrechen, in der unheilvolle Bünde und neue Pläne geschmiedet werden – mithin ein Begegnungsort krimineller Masterminds, die nur darauf warten, auf freien Fuß gesetzt zu werden, um das nächste große Ding zu drehen. Sehr häufig erschweren im Film die Gefängnisse die offiziell angestrebte Rehabilitation, ja teilweise sämtliche Bemühungen der Häftlinge, sich zu bewähren, und machen es, wie in Convicted (1950), beinahe unmöglich, sich unter den Haftbedingungen nicht in noch weitere kriminelle Akte zu verstricken. Convicted ist einer der wenigen Filme, in denen ein Gefängnisdirektor alles dafür tut, damit ein durch die Inkompetenz seines Anwalts unglücklich in Haft geratener Mann wieder freikommt – und selbst hier droht dies an den knast-internen Strukturen zu scheitern, weil Glenn Fords Joe Hufford trotz lange Zeit guten Betragens in einem kurzen Moment der Verzweiflung drakonisch bestraft wird und sich obendrein einem Ehrenkodex unverbrüchlicher Solidarität verpflichtet fühlt.
Gefängnisse im Film erschienen jedenfalls oft genug als Inkubatoren, in denen kriminelle Energie nicht abgebaut, sondern aufgeladen wird. Seit den späten 1960er Jahren, ganz im Geiste des gesellschaftskritischen New Hollywood-Kinos, das damals heraufzog, porträtierten Gefängnisfilme dann immer stärker miserable, teils unmenschliche Haftbedingungen. In Cool Hand Luke schuften werktags die Gefangenen als Straßenbauer, bei Ordnungsverstößen werden sie in die »Box« gepfercht, wo sie in der gleißenden Südstaatensonne brutzeln. In Bloody Mama (1970) liefert sich der Great Depression-Bankräuber Herman Barker (Don Stroud) lieber ein auswegloses Maschinenpistolen-Shootout mit der Polizei, als noch einmal ins Gefängnis zu gehen. Und in Papillon, angelehnt an wahre Begebenheiten, vegetiert Steve McQueen als französischer Häftling an der Küste von Französisch-Guyana in Einzelhaft und ernährt sich von Ungeziefer, während ihn die Einsamkeit und das vorenthaltene Tageslicht zermürben. Auch Kiss of the Spider Woman (1985) zeigt menschenunwürdige Lebensbedingungen, unter denen zwei Häftlinge jahrelang auf engstem Raum in einem Gefängnis einer lateinamerikanischen Militärdiktatur klarkommen müssen. An den fettig-verschmierten Wänden kleben eskapistisch Bilder und Zeitungsausschnitte, man kann sich gut vorstellen, was für eine Luft, was für Gerüche dort herrschen müssen – erst recht, als die beiden abwechselnd unter verdorbenem Essen leiden, doch ihre Zelle nicht verlassen können.
Stonehaven, das Hochsicherheitsgefängnis in Runaway Train (1985), liegt inmitten der Schneewüste von Alaska und wirkt mehr wie ein Außenposten auf einem fernen Planeten denn eine Justizvollzugsanstalt der USA. Der Knast erscheint als postapokalyptischer Ort, in dem die Gefangenen wie Raubtiere in ihren Zellen lauern und der die Insassen bis hin zur Gewaltexplosion aufheizt, sodass zwei Häftlinge lieber die Flucht durch eine menschenfeindliche Umgebung wagen – als einer von ihnen nach dreijähriger Isolationshaft das erste Mal ans Tageslicht tritt, muss ihm jemand eine Sonnenbrille reichen. Und in Midnight Express (1978) wird der US-amerikanische Haschischschmuggler Billy Hayes von der türkischen Justiz zermalmt – das Gefängnis in Istanbul gerät hier zu einem grauenvollen Schreckensort, zum beklemmenden Synonym für aussichtsloses Dahinvegetieren unter seelischen wie körperlichen Torturen. Den Insassen wird bei noch so nichtigen Vergehen systematisch die Menschenwürde aberkannt; der schiere Aufenthalt deformiert mit der Zeit ihre Körper und Seelen. Die Wärter werden als verschwitzte, schmierige Typen dargestellt. Sie prügeln, knüppeln und zeigen keinerlei Mitgefühl; diese Praxis bringt zugleich quislinghafte Mithäftlinge hervor, die sich für keine Niedertracht zu schade sind, solange sie dadurch einen Vorteil erlangen. In Oliver Stones Drehbuch-Fassung von Hayes’ literarischer Vorlage, einer realen Leidensgeschichte, begegnen uns jedenfalls bedenkliche kulturelle Stereotype, deren Wirklichkeitsgehalt im Unklaren bleibt – Stone freilich gewann für sein Drehbuch einen Oscar.
Besonders in The Longest Yard (1974) verkehren sich die moralischen Fronten: Im Angesicht von brutalen und korrupten Gesetzeshütern finden sich die verurteilten Verbrecher letztlich in der Rolle von Opfern wieder. Eddie Albert spielt den hinterlistigen Knastchef Hazen, der vor rücksichtsloser Gewaltanwendung nicht zurückschreckt und seine Häftlinge in sadistischer Manier zur Knochenarbeit in den Sümpfen verdonnert. Ganz oft stachelt im Gefängnisfilm die Willkürherrschaft und Selbstgerechtigkeit der Gefängnisdirektoren und ihrer Belegschaft eine Gewaltbereitschaft an, die unter den Häftlingen zu noch mehr Verbrechen und Morden führt. Die Tyrannei ist ein uralter Aspekt des Gefängnisfilms: Brute Force überraschte 1947 so manchen Kritiker – denn plötzlich übertrafen Staatsbedienstete wie der sadistisch-hinterlistige Chefaufseher Captain Munsey (Hume Cronyn) auf der Leinwand die eingesperrten Verbrecher in Sachen Brutalität und Rücksichtslosigkeit. In Brute Force wurde die Sympathie des Publikums nicht mehr nur auf einzelne Personen gelenkt, sondern in den simplen Kategorien des moralisch sittsamen Hollywoodkinos jener Zeit auf das »gute« Häftlingskollektiv versus die »bösen« Wachmannschaften – zwanzig Jahre vor dem ikonoklastischen New Hollywood-Kino. Eine der sehenswertesten Szenen dazu findet sich in Cool Hand Luke, in dem der damalige Superstar Paul Newman einen aufmüpfigen Kerl in einem Knast in Florida spielt. Im stets bedrohlichen Südstaatensingsang und mit halb geschlossenen Augen setzt der Gefängnischef zu einer Strafpredigt an – als ihn der Protagonist des Films mit einem süffisanten Spruch provoziert, prügelt er ihn eine Böschung hinunter; während der Gefesselte im Staub liegt, ringt der von Strother Martin gespielte Chefaufseher um Fassung und spricht den Satz, der danach zur oft zitierten Sentenz geworden ist und mit dem auch der Guns’-N’-Roses-Song Civil War aus dem Jahr 1990 beginnt: »What we’ve got here is … failure to communicate.« Auch in Lock Up von 1989, in dem Donald Sutherland als Institutionschef Sylvester Stallones redlichen Häftling quält, geht die schlimmste Missachtung der Menschlichkeit vom obersten Glied der Hierarchie einer staatlichen Einrichtung aus, von demjenigen also, der offiziell für die penible Einhaltung der Regularien bürgen soll, letztlich aber der Kopf einer faktischen Monokratie ist. In Runaway Train bringt Gefängnischef Ranken (John P. Ryan) diese Konstellation auf den Punkt, als er seinen Häftlingen die Gefängnishierarchie erklärt: »First there’s God. Then the warden. Then my guards. Then the dogs out there in the kennel. And finally you – pieces of human waste.«
Auch ficht das Gefängnis im Film – buchstäblich – die Unbestechlichkeit des Staats an. In Papillon nutzen Häftlinge Bargeldreserven, die sie in kleinen Tornistern in ihrem Darm versteckt halten, um die Wärter zu bestechen. Mit Brubaker (1980), gedreht im investigativen Geist der elitenskeptischen 1970er Jahre, widmete sich ein ganzer Film der Justizvollzugsanstalt als ihrerseits verbrecherischer Einrichtung: Der reformorientierte Gefängnisdirektor Henry Brubaker (Robert Redford) tut alles dafür, innerhalb einer offenbar erstarrten Institution ein illegales System von Korruption und Gewalt zu entlarven – das Gefängnis ist selbst zum Sumpf des Verbrechens geworden.
Dass Gefängnisse im Film bestialische Haftbedingungen nicht nur sporadisch oder, wie in Ben-Hur (1959) – wo Mutter und Schwester des Titelhelden im Kerker der Römer schließlich an Lepra erkranken –, als historisch entrückte Phänomene zeigten, sondern dass selbst zu Zeiten des production code – Hollywoods bis ans Ende der 1950er Jahre reichender Selbstzensur mit ihren strengen Moralgeboten – im Gefängnisfilm diabolische Figuren wie in Brute Force existierten, zeugt eigentlich von einem seit Langem erschütterten Vertrauen in die Infrastruktur des US-amerikanischen Justizvollzugs. Die Isolation und Abgeschiedenheit des Gefängnisses machen es jedenfalls im Film immer wieder zu einem von außen undurchsichtigen Raum, der Machtmissbrauch und Korruption begünstigt.
Aber über diesen – kinodramaturgisch naheliegenden – Aspekt hinaus erscheint das Gefängnis im Film oft genug auch als erstaunliche Kraft- und Inspirationsquelle, die Energien und Erfindergeist freisetzt, genialische Improvisationskunst beflügelt. Da ist zum einen die Gemeinschaftsgenese, die Verinnerlichung eines Kollektiv- und, wenn man so will, Klassenbewusstseins. In der Trostlosigkeit der türkischen Haftanstalt von Midnight Express geben kleine Gruppen den einzigen Halt in einer komplett unwägbaren Lage, in der einfach niemand weiß, wann oder ob er jemals wieder das Licht der Freiheit erblicken wird. In La Grande Illusion (1937) bringt die Kriegsgefangenschaft, die Inhaftierung in einer deutschen Festung während des Ersten Weltkrieges, unter den französischen Gefangenen ein starkes Gemeinschaftsgefühl hervor und befördert moralisch weithin gutgeheißene Werte wie Solidarität und Mitmenschlichkeit.
Kiss of The Spider Woman fügt dem Gefängnis als Schule der Gesellschaft noch eine soziale Integrationsleistung, politisch-lebensweltliche Pluralität, hinzu, indem es einen transsexuellen Hedonisten und einen politischen Idealisten auf engstem Raum zwingt, den konträren Wertehorizont des Gegenübers kennenzulernen – die Gefängniszelle nötigt hier also zwei Menschen, die sich im Leben draußen höchstwahrscheinlich niemals begegnet wären, niemals angefreundet hätten, zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Weltanschauungen, zum vertraulichen Austausch von Werten und Erfahrungen. In La Grande Illusion treffen zwei Jagdflieger aufeinander, der deutsche Lagerkommandant und ein französischer Offizier in Gefangenschaft – der Kriegskonstellation gemäß verfeindet, erhalten sie Einblick in den Charakter ihres Gegenüber, respektieren einander. Auch lenken Gefängnisse im Film den Blick auf die Überforderung durch die Gesellschaft – etwa, wenn der Veteran Luke Jackson, der Titel-(Anti‑)Held von Cool Hand Luke, in der Haft, wie zuvor in der Armee, in feste Strukturen eingebettet ist und diese erzwungene Verminderung seiner Handlungsmöglichkeiten ihn in gewisser Weise zu entlasten scheint.
Ebendieser Luke Jackson steht auch beispielhaft für die Mobilisierung ungeahnter Kräfte und Talente, die der Gefängnisfilm immer wieder innerhalb der Mauern und Zäune hervorhebt. So muss sich Jackson seinen Platz in der Hierarchie seiner Gefängnisbaracke erkämpfen, ist zur Durchsetzungskraft gezwungen, will er nicht untergehen. Im »echten« Leben ein Versager, ein Tunichtgut, der sich selbstgefällig in provokantem Nonkonformismus verliert und den die Justiz wegen der alkoholisierten Beschädigung von Parkuhren eingebuchtet hat, läuft Jackson nur in geschlossenen, klar systematisierten Strukturen zu Höchstleistungen auf – sei es in der Armee, wo er sich zahlreiche Auszeichnungen erworben hat, oder eben im Gefängnis, wo er sich den Respekt seiner Mithäftlinge verdient, indem er binnen einer Stunde fünfzig Eier vertilgt. The Shawshank Redemption zelebriert den enthusiastischen Aufbau einer Bibliothek durch und für die Häftlinge und zeigt einen Fluchtversuch, der schier übermenschliche Beharrlichkeit und immense Präzision erfordert. In The Longest Yard rekrutiert der Ex-Profi-Quarterback Paul Crewe (Burt Reynolds) auf Anweisung des Gefängnisdirektors einige Mithäftlinge für eine Footballmannschaft, die in einem Spiel gegen das Wachmannschaftsteam als Motivationsbooster verheizt werden soll. Statt sich zu unterwerfen, beschwört Crewe jedoch einen widerständigen Korpsgeist, durch den die strukturell Unterlegenen sich in einer energischen, gewaltsamen Gemeinschaftsanstrengung schließlich auf dem Spielfeld gegen die willkürlichen Schikanen ihrer Peiniger auflehnen.
Immer wieder wachsen im Gefängnisfilm Menschen über sich hinaus oder erlangen als informelle Organisatoren des Häftlingsalltags einen sozialen Status, den sie außerhalb der Gefängnismauern nie erreichen würden. The Loneliness of the Long Distance Runner (1962) zum Beispiel kreist um Colin Smith (Tom Courtenay), einen Halbwaisen aus dem Proletariat im trist-industriellen Norden Englands, der sich im Jugendknast zum Leistungssportler hochtrainiert und schließlich im Wettkampf die besser privilegierten Jungs der Public School abhängt – ein Underdog, der plötzlich das Zeug zum Champion hat. Birdman of Alcatraz (1962) erzählt die (wahre) Geschichte von Robert F. Stroud, einem zweifachen Mörder, der am Ende seiner Teenagerzeit in den Knast kam und sich ohne jegliche Vorbildung durch selbstständige Forschungen und ausgiebige Lektüre immenses ornithologisches Wissen aneignet, mit dem er schließlich zur weltweit führenden Autorität im Bereich der Vogelkrankheiten avanciert, von der Fachwelt respektierte Bücher und Artikel veröffentlicht – nur nicht freikommt. Burt Lancasters Vogelkundler offenbart das Erkenntnis- und Kreativitätspotenzial, das sich im Options- und Mobilitätsverlust einer Haftstrafe entfalten kann. In Bad Boys (1983) spielt der junge Sean Penn einen unscheinbaren Teenager, der in der Jugendstrafanstalt vom Unterdrückten zum respektierten Anführer aufsteigt. Und in Kiss of the Spider Woman sind wenige Quadratmeter, in einem Knast irgendwo in Südamerika, Raum genug für eine ganze Welt aus Fantasie, Sehnsucht und Idealen, wenn Luis Molina (William Hurt) ein erzählerisches Talent entfaltet, mit dem er seinen Zellengenossen Valentin Arregui (Raul Julia) gedanklich in einen seiner Lieblingsfilme entführt, als fiktiven Ausweg aus der monotonen Realität des Lochs, in dem sie leben.
Eine logische Konsequenz des Gefängnisses im Film ist aufgrund ihres dramatischen Potenzials freilich der Ausbruch, die Flucht. Das Freiheitsstreben mancher Häftlinge mündet in minutiös koordinierte, auf einem filigranen Netz der unwegsamen Zusammenarbeit basierende Anstrengungen, die oftmals enorme Organisations- und Kommunikationsfähigkeiten voraussetzen, mit denen den unglückseligen Häftlingen »draußen« eigentlich grandiose Karrieren beschieden wären. Werkzeuge und Waffen werden in die Zellen geschmuggelt, manchmal sogar eine kleine Bombe gebastelt. In Brute Force schmiedet Joe Collins (Burt Lancaster), der unangefochtene Anführer seiner Zelle, einen wagemutigen Ausbruchsplan, den er in seiner unbeugsamen Entschlossenheit dann auch ausführt – was in einer martialischen Schlacht gegen die Wachmannschaften gipfelt. In Escape from Alcatraz (1979) nötigen die drastischen Bedingungen des berüchtigten Hochsicherheitsgefängnisses auf einem Felsen in der Bucht von San Francisco Clint Eastwoods Häftling Frank Morris zu einer enormen mentalen und technischen Anstrengung, um ausgerechnet dort einen Ausbruchsversuch zu wagen, wo jegliche Ausbruchsversuche qua Design als unmöglich gelten. Auch in Papillon stellt die Flucht von der Teufelsinsel besonders heftige Anforderungen an körperliche Fitness, geistige Improvisationskunst und mentale Hartnäckigkeit. Und in dem Kriegsfilmklassiker The Great Escape organisieren die internierten Soldaten der alliierten Streitkräfte während des Zweiten Weltkrieges mitten in Deutschland einen Ausbruch, wie ihn ihre Bewacher noch nicht erlebt haben – ein Kollektivakt, der an den Korpsgeist der in japanischer Gefangenschaft gepeinigten Briten in The Bridge on the River Kwai (1957) erinnert.
Darin liegt eine der zentralen Ambivalenzen des Gefängnisfilms: Eine Infrastruktur – darauf ausgelegt, Immobilität zu erzwingen – wird auf der Leinwand zum Ort extremer Dynamik, von Gruppen und Ideen. Immer wieder zwingt die drastische, nötigenfalls mit Knüppeln, Prügeln und Wasserschläuchen forcierte Routine die Häftlinge zu Einfallsreichtum und Improvisation, um sich das Bedürfnis nach geheimen Nischen oder dem Griff nach der Freiheit zu erfüllen. Der Aufbau von informellen Parallelstrukturen innerhalb der streng regulierten Haftanstalt bringt eine – nach konventionellen Maßstäben geradezu vorbildliche – Innovationskraft hervor. Erst im Gefängnis, nicht in der Freiheit, entfalten die Individuen ihr originelles Potenzial, erreichen Status und Rollen, die ihnen in der Mehrheitsgesellschaft verschlossen sind. Das ist die eigentlich bedenkenswerte Quintessenz des Gefängnisfilms.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.4-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024