Erinnerungskultur digital Die Ortlosigkeit virtueller Räume als Katharsis postmodernen Gedenkens

Von Stefan Haas  /  Christian Wachter

Im Frühling des Jahres 2018 lud das internationale Auschwitz-Komitee die Rapper Kollegah und Farid Bang, diesjährige Träger des Musikpreises Echo, zu einem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ein. Die Liedtexte der Musiker waren in einer breiten öffentlichen Debatte als antisemitisch und frauenverachtend eingestuft worden. Mehrere Preisträger hatten aus Protest gegen die Preisverleihung ihre Auszeichnungen zurückgegeben. Kurz darauf wurde der Echo, der von der deutschen Musikindustrie im Wesentlichen nach Verkaufszahlen vergeben worden war, abgeschafft. Der Ort, der konkrete physische Ort des ehemaligen Vernichtungslagers, an dem das Andenken an die Opfer des Naziterrorapparates aufrechterhalten wird, sollte eine kathartische Wirkung haben, sollte die Rapper vom falschen Weg, auf den sie sich mit ihren antisemitischen Texten begeben hatten, abbringen.

Etwa zur selben Zeit starb der schwedische Musiker Tim Bergling alias DJ Avicii unerwartet im Alter von 28 Jahren. Im Internet, jenem großen Überall und Nirgendwo, bildeten sich Räume, in denen Fans ihrer Trauer Ausdruck verleihen konnten. Die Ortlosigkeit wirkte verbindend über Entfernungen und Grenzen hinweg. Die traditionelle Konkretheit eines Ortes, eines konkreten Wo, spielt scheinbar keine Rolle mehr, wenn virtuelle Gemeinschaften in kollektiver Trauer ein wenig Trost erleben können. [...]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201