Editorial

Von Matthias Micus  /  Luisa Rolfes  /  Tom Pflicke

Wer heute aufmerksam durch die angesagten Viertel deutscher Großstädte flaniert und diese urbanen Sehnsuchtsorte der neuen, mit reichlich ökonomischem und kulturellem Kapital ausgestatteten Mittelklasse kritischen Blickes betrachtet, sich also nicht blenden lässt von fein restaurierten Stuckfassaden gründerzeitlicher Herrlichkeit, der wird unweit auf die nicht nur soziale Kehrseite urbanen Wohnens treffen: beengte Plattenbausiedlungen und unsanierte Altbauten, längst im Besitz internationaler Investmentfonds und großer Immobilienkonzerne, die auf die nächste Gentrifizierungswelle warten.

Oft beobachtet man schlicht Leerstand. Denn bis diese Häuser von jenen bewohnt werden, die sie bezahlen könnten, bleiben sie für jene unbezahlbar, die sie bewohnen könnten. In Zeiten steigender Mieten und niedriger Zinsen ist auch für viele Privatpersonen der städtische Immobilienkauf eine verlockende, weil sichere Kapitalanlage. Der urbane Zuzug ist so immens, die Nachfrage nach Wohnraum so groß, dass auf den hiesigen großstädtischen Immobilienmärkten trotz Mietpreisbremse und Mietendeckel eine regelrechte Goldgräberstimmung herrscht – oder jedenfalls bis vor kurzem herrschte, die Folgen der Corona-Pandemie sind auch für den Immobiliensektor noch nicht absehbar.

Die Folgen der jüngeren Entwicklung dagegen sind offenkundig: Sozial und ökonomisch Schwächere werden verdrängt aus ihren angestammten Vierteln und Kiezen, die nun Wohn- und Lebensraum der jungen urbanen, überwiegend in der Wissensökonomie und im Kunst- und Kulturbetrieb tätigen Elite werden. Stellenweise ist die Homogenität hinsichtlich der Alters- und Sozialstruktur sowie des Habitus in manchen Vierteln so frappant, dass man alte Menschen ebenso wie die andere, die depravierte Seite der Gesellschaft kaum mehr wahrnimmt.

In Städten wie Berlin, Hamburg oder München – um von den internationalen Metropolen an dieser Stelle zu schweigen – geben Geringverdienende im Schnitt rund vierzig Prozent ihres Gehalts fürs Wohnen aus. Sie arbeiten also, dies muss man sich immer wieder klarmachen, beinahe die Hälfte des Monats nur dafür, um einen privaten Rückzugsort in Gestalt eines Daches über dem Kopf zu haben. Auch die Zahl der Wohnungslosen ist in den letzten zehn Jahren rasant gestiegen – und die Lage verschärft sich proportional zum wachsenden Zuzug in die Städte.

Damit klingen die zentralen Stichworte der jüngeren Wohndebatten und -proteste an: steigende Mieten, Entmietung, Privatisierung, Gentrifizierung, Verdrängung, Segregation, soziale Entmischung etc. Ob eine Reaktivierung des sozialen Wohnungsbaus neben den sich derzeit verstärkenden staatsregulierenden Eingriffen in den Wohnungsmarkt ausreichen wird, um ein menschenwürdiges Wohnen für Jeden zu gewährleisten, ist jedenfalls bis dato fraglich.

Die formal-juristische Ebene ist ebenso wenig angetan, Zuversicht zu schaffen. Im Grundgesetz wird zwar die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) geregelt, ein Grundrecht auf Wohnen, wie es die Weimarer Republik und die DDR kannten, existiert allerdings nicht, obwohl es seit der Wiedervereinigung mehrfach Initiativen und Vorstöße gab, das soziale Menschenrecht des Wohnens grundgesetzlich zu verankern. In vielen deutschen Länderverfassungen findet man ein solches Recht auf Wohnen und Wohnraum übrigens durchaus. Allerdings cum grano salis, denn nach herrschender Rechtsauffassung wird es lediglich als objektiv-rechtliche Staatszielbestimmung interpretiert und damit nicht verstanden als subjektive Rechtsnorm mit einklagbarem Anspruch des Einzelnen auf Wohnung.

Indes, der Anspruch gerade von Haushalten mit unteren Einkommen und von Personen, die sich etwa aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Altersarmut in einer oft sozial isolierenden und stigmatisierenden Lage befinden, der Anspruch also von ökonomisch und sozial Marginalisierten auf menschenwürdiges Wohnen geht über verfassungsrechtliche Fragen und Debatten weit hinaus. An die Erfolge etwa des staatlich gelenkten und vielfach genossenschaftlich organisierten sozialen Wohnungsbaus der Weimarer Republik konnte die Bundesrepublik nicht anschließen. Vielmehr trat der soziale Wohnungsbau in der zweiten deutschen Republik in eine rapide Abwärtsspirale ein. Bis er schließlich – etwa zu Beginn der 1980er Jahre, d. h. im Zuge der zunehmenden Deregulierung des Wohnungsmarktes im anbrechenden neoliberalen Zeitalter und nicht zuletzt diskreditiert durch den Neue-Heimat- Skandal 1982 – weitestgehend aufgegeben und bis heute nicht im erforderlichen Maße reaktiviert wurde.

Erst seit Kurzem versucht die öffentliche Hand, insbesondere unter dem zuletzt gehörig gestiegenen Druck der MieterInnenbewegung, gegen die krassesten Auswüchse des Wohnungsmarktes mittels Instrumenten wie der Mietpreisbremse und des Mietendeckels vorzugehen und lokale Wohnungsmärkte wieder stärker zu regulieren. Doch wird die vollmundige Verkündigung des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, dass der soziale Wohnungsbau intensiviert werde, dadurch relativiert, dass es an zentraler Lenkung und Regulierung fehlt, weil seit 2006, infolge der Föderalismusreform I, die soziale Wohnraumförderung bei den Ländern liegt.

Gleichwohl: Die Wohnungsfrage ist zurück auf der politischen Agenda. Gegenwärtige wohnpolitische Kontroversen drehen sich dabei in erster Linie um die Frage des bezahlbaren Wohnens für alle. Was aber ist das gute Wohnen? Diese essenzielle Frage wird kaum gestellt in einer Debatte, die allzu lang allzu sehr auf quantitative Aspekte – Wohnfläche, Lage, Infrastruktur – reduziert war. Jedoch schießen in vielen Städten und Gemeinden selbstorganisierte, genossenschaftlich oder öffentlich verwaltete Wohnprojekte mit oftmals emanzipatorischem Anspruch empor, die zu zeigen versuchen, dass ein anderes Wohnen möglich ist.

Gewiss geht es hier um Verfügungsgewalt, um den Ausbruch aus einem Spekulationskarussell, das aus einem der wichtigsten Güter eine Ware macht, deren Marktwert sich von ihrem Gebrauchswert weitgehend entkoppelt hat – und gleichsam an den Bedürfnissen eines Großteils der Menschen vorbeigeht. Jene innovativen, oftmals integrativen Wohnprojekte stehen also auch im Zeichen der drängenden Frage danach, wie in Zeiten rapider gesellschaftlicher Veränderungen Wohnformen realisiert werden können, die mehr als nur Schutz und Rückzug vor den Belastungen und Entbehrungen des Alltags zu ermöglichen vermögen.

Nicht zuletzt deshalb, weil durch die Individualisierung und wachsende Mobilitätsanforderungen eines flexibilisierten Arbeitsmarkts das vertraute Konzept eines Haushaltes, der gemeinsam von der bürgerlichen Kleinfamilie bewohnt wird, ins Wanken gebracht worden ist. Insbesondere Einpersonenhaushalte und die früher einmal so genannten alternativen Wohnformen gewinnen im Zuge dieser Entwicklungen an Bedeutung.

Mit diesem Trend diffundiert zugleich die gewohnte Grenzziehung zwischen öffentlich und privat, lose verkoppelter Gesellschaft und familiärer Gemeinschaft, Straße und Wohnraum. Die gegenwärtigen Corona-Zeiten, die unverkennbar aufzeigen, dass Wohnen heute nicht mehr als das Andere des Erwerbslebens und ebenso wenig als das Andere des gesellschaftlichen Lebens gedacht werden kann, haben diese Grenzverwischung ins allgemeine Bewusstsein gehoben.

Kurzum: Die Wohnungsfrage ist auch eine soziale Frage und die Frage nach dem guten Wohnen auch eine nach dem guten Leben für alle. Dem will die vorliegende Indes gerecht werden. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2020 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2020