Von den Volksparteien zu den Catch-all parties Otto Kirchheimer revisited

Von Elmar Wiesendahl

Die Parteienforschung entwickelt sich in ihrem Erkenntnisstand über drei Impulsquellen fort.[1] Einmal – und das ist der stärkste Impulsgeber – über den Wandel des Untersuchungsgegenstandes selbst, also der Parteienwirklichkeit, an die der Wissensstand der Forschung angepasst werden muss, um nicht den Anschluss an die sich wandelnde Realität zu verlieren. Dann erfüllen neuartige methodische Ansätze und Instrumente des Erkenntnisgewinns eine Schrittmacherfunktion, den Untersuchungsgegenstand gründlicher und ergiebiger zu durchdringen und ihm bislang noch nicht zutage beförderte Aspekte abzugewinnen. Was bislang als empirisch gesichert gegolten hat, kann dadurch besser bestätigt bzw. hinterfragt, verworfen oder revidiert werden. Und schließlich kann der Wechsel des Standpunktes sowie der Zugangsperspektive das zu Erforschende in ein anderes Licht tauchen. Den Betrachtungswinkel zu verändern, bedeutet, die vorherrschenden Sichtweisen in Zweifel zu ziehen und ihnen einen anders ausgerichteten Interpretations- und Deutungsrahmen entgegenzustellen. Was also als Untersuchungsobjekt in einen evidenzbasierten Deutungsrahmen eingepasst war, erfährt eine partielle oder sogar grundlegende Neuansicht und Umdeutung.

Im Folgenden schlage ich, gestützt auf empirische Einwände, die zuletzt genannte Vorgehensweise ein und wage mich mit einer Deutungsrevision an das prominente Volksparteien- oder auch Catch-all party-Konzept von Otto Kirchheimer heran, das seit den späten 1960er Jahren zum kaum noch hinterfragten Kernbestand der internationalen Parteienforschung avanciert ist. Kirchheimers vor dem Erfahrungshintergrund der 1950er und frühen 1960er Jahre formulierte These vom unaufhaltsamen Aufstieg der Volksparteien zum Dominanztyp der westeuropäischen Nachkriegsparteiensysteme hatte in der Parteienliteratur bis zur Mitte der 1990er Jahre Bestand, um dann durch eine Nachfolgedebatte unter Druck zu geraten. Diese glaubt unter dem Label Party Change an einen entwicklungstypologischen Epochensprung, der die Volkspartei verdrängt habe. […]

Anmerkungen

[1] Der nachfolgende Beitrag fußt auf Gedanken, die der Autor auf einer Festveranstaltung zum Gedenken an Otto Kirchheimer am 12. Oktober 2016 in Berlin sowie unter dem Titel »50 Jahre ›Catch-All-Party‹ – zur Vitalität eines totgesagten Partytyps« auf der Jahrestagung des Arbeitskreises Parteienforschung der DVPW am 15. Oktober 2016 in Trier vorgetragen hat.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018