Hannah Arendt Ein Zuhause für den zivilen Ungehorsam
1970 trug Hannah Arendt auf Einladung der New Yorker Anwaltsvereinigung auf einem Symposium zum Thema »Ist das Gesetz tot?« ihre Thesen zum zivilen Ungehorsam vor. Zu jener Zeit sah sich die Bevölkerung der USA der verfassungswidrigen Führung des Vietnamkriegs ausgesetzt, die Bürgerrechtsbewegung, die nun schon seit 15 Jahren fortdauerte, war mittlerweile in die Antikriegsbewegung übergegangen und an den Universitäten rebellierten die Studierenden. Unter den verschiedenen reformerischen oder radikalen politischen Zielen dieser Bewegungen und den entsprechenden theoretischen Begründungen kursierte auch der Begriff des zivilen Ungehorsams, wie er von David Henry Thoreau geprägt worden war. Thoreau hatte sich 1846 geweigert, seine Steuern gegenüber dem Bundesstaat Massachusetts zu begleichen, um nicht die amerikanische Regierung und deren Duldung der Sklaverei und des expansiven Mexiko-Kriegs zu unterstützen. Seine Schrift, »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« beeinflusste libertär eingestellte Amerikaner in ihrer grundlegenden Abneigung gegenüber staatlicher Bevormundung ebenso wie den gewaltfreien Widerstand von Mahatma Gandhi und Martin Luther King.
Im Bereich der neueren politischen Philosophie bedeutend war »Die Rechtfertigung des bürgerlichen Ungehorsams« von John Rawls im Jahr 1969, der nach den Gründen suchte, die ein solches Handeln in der konstitutionellen Demokratie rechtfertigen können. Nahezu zeitgleich entwickelte Arendt ihre Thesen eines zivilen Ungehorsams, der auf den Prinzipien des politischen Handelns basieren und nicht etwa mit persönlichen Gewissensentscheidungen gerechtfertigt werden sollte. Daran schlossen sich in den 1970er und 1980er Jahren Diskussionen an, unter denen in Deutschland der Aufsatz von Jürgen Habermas »Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat« hervorstach. Inzwischen gibt es im Zusammenhang mit nationalen und internationalen Protestbewegungen gegen die Auswirkungen der Globalisierung erneute Überlegungen zum zivilen Ungehorsam.
Im Folgenden soll nicht der historische Gang der Diskussionen nachvollzogen werden, sondern Arendts Text als Ausdruck republikanischen Denkens in den Mittelpunkt gestellt und die Unterschiede zu den Überlegungen der Liberalen Rawls und Habermas sowie dem Radikaldemokraten Étienne Balibar betrachtet werden. Dabei bietet sich an, den Text Arendts nicht nur zu berücksichtigen, sondern ihn auch im Kontext ihres Denkens, besonders ihres Buches »Über die Revolution«, zu betrachten. Erst in diesem Zusammenhang werden die knappen Thesen ihres Aufsatzes in deren existenzphilosophischer und republikanischer Tragweite verständlich. […]
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018