»Man muss sich angegriffen fühlen« Ein Gespräch mit Harald Welzer über Widerstand, Autonomie und Klimawandel
Gesellschaften hören nicht auf Weckrufe. Das ist ein Mythos. Ich glaube vielmehr, eine ganz andere Korrelation zwischen der Dringlichkeit des Klimawandels und den Verkaufszahlen für SUVs zu erkennen: Die Käufer solcher Fahrzeuge denken womöglich viel eher darüber nach, dass es aus ökologischen Gründen verboten werden könnte, SUVs zu fahren – deswegen kaufen sie sich jetzt noch schnell so ein Ding. Als Sozialpsychologe muss ich die autonome Aneignungsfähigkeit und Interpretation der Menschen einkalkulieren. Das aber wird viel zu selten getan und auch deshalb ist dieser ganze Umweltdiskurs schief. Und daher glaube ich auch, dass es am Ende tatsächlich darauf hinausläuft, dass Menschen den Ist-Zustand halten, wenn sie keine lohnende Alternative sehen. Und der ist in einer der reichsten Gesellschaften der Welt ja alles andere als unangenehm. Und das mehr oder weniger vorhandene Öko-Gewissen lässt sich doch durch Industrieprodukte mit Öko-Label befriedigen. Und damit sind dann all Konflikte erledigt. Nochmals, das reicht nicht für eine öko-soziale Wende, aber solange wir nichts anzubieten haben, ist hier für die meisten das Ende der Fahnenstange erreicht.
Bewegt man sich letztlich in einem simulativen ökologischen Zeitalter, wo dann gesagt wird, ich kaufe keine Avocados, aber ich fliege dreimal um die Welt?
Na ja, die Avocados kaufen sie ja zusätzlich noch, sofern sie aus ökologischem Anbau kommen. Da ist also sicher viel Simulation dabei, aber ich würde das den Einzelnen gar nicht moralisch ankreiden. Jeder macht was er kann, nach seinen Lebensumständen und Fähigkeiten. Aber als politische Frage greift das zu kurz: Um Gesellschaft zu verändern, und da sind wir am Anfang unseres Gesprächs, braucht es eine Idee, sonst bleibt alles weitestgehend Kosmetik oder Simulation. So wie die Klimakonferenzen, die maßnahmenfreie Beschlüsse quasi als Depeschen ans Klima senden. Das ist ja hochgradig simulativ.
Aber was wäre denn das alternative Angebot?
Ich versuche da auf zwei Ebenen zu argumentieren, also einerseits den Menschen das Bestehende und Anerkannte, das »immer mehr«, madig zu machen. Das funktioniert auch ganz gut, weil die Hyperkonsumangebote die meisten Menschen überfordern. Meine Behauptung, die ich empirisch nicht belegen kann, ist, dass kaum jemand Christmas Shopping in New York betreiben will. Die wenigsten wollen das, sind aber aufgrund eines gewissen Drucks, etwa des Mithalten-Könnens, gefangen. Es gibt aber gute Anzeichen dafür, dass es sich nicht auszahlt, alles mitzumachen. Andererseits möchte ich über eine freiere, offenere lebensqualitätsvollere, gerechtere Welt sprechen. Wenn ich nun das eine madig mache und das andere attraktiv, dann kann vielleicht zwischen den beiden Polen eine produktive Spannung entstehen. Eine Spannung, aus der neue Ideen, neue Fortschritte, neue Zukünfte entstehen können. Deshalb interessieren mich persönlich Zukunftsbilder der Menschen. Wovon Menschen jenseits der Konsumbefriedigung träumen, ist ja ebenso interessant wie wenig erforscht.
Weil es, vermittelt über die Werbeindustrie ausreichend Traumanbieter gibt? Ist es nicht, in Zeiten lernender Algorithmen und deren Dauergegenwart via Smartphones, längst ein systemisches Problem, weil nahezu jeder Traum ein Preisschild besitzt, einen Anbieter?
Genau so funktioniert das in der Tat, jedem nach seiner Sehnsucht das passende Produkt verkaufen. Aber das funktioniert vielleicht nur, solange es nichts Anderes, nichts Attraktiveres gibt. Menschen träumen doch eher von einer glücklichen Beziehung, von eigenen Kindern, vielleicht noch davon, einmal Prinzessin zu sein, als von Konsumartikeln. Es könnte doch sein, dass die meisten Träume gar nicht materieller Art sind. Das wäre eine zu untersuchende Hypothese. Dem will ich mich ganz persönlich mehr widmen, auch weil in der Nachhaltigkeits- und Ökologieszene zu viel, und auch viel zu erfolglos, auf Sendung gesetzt wurde und wird statt auf Empfang. Deshalb sollten wir wieder mehr zuhören, uns fragen, was Menschen umtreibt. Wenn dabei herauskäme, alle träumten nur von einem iPhone, dann wäre das äußerst unglücklich, aber dann würde ich mir die Idee mit den Zukunftsbildern aus dem Kopf schlagen. Aber ich glaube das nicht. Und erst davon leitet sich die Frage nach dem Weg in eine andere Zukunft ab. Das kann ich doch nicht implementieren, wie die ganze Ökoszene denkt. Im Gegenteil – soziale Utopien sind in Menschen sehr tief verankert, sie artikulieren sich nur anders.
Und werden ja auch gelebt, in Ökodörfern, durch verschiedene Formen bewussten Handelns, durch Verzicht und anderes. Aber die Akteure und deren Ideen werden nicht selten belächelt, oft ins Lächerliche gezogen, manchmal sogar bedroht. Wie erklärt sich das?
Nun, sie zeigen ganz real, was es in der Konsequenz bedeutet, so zu leben, und sie zeigen, dass es die Möglichkeitsräume längst gibt. Psychologisch lässt sich das wohl nur so interpretieren: Es gibt Menschen, die nehmen die öko-soziale Utopie ernst und weisen dadurch darauf hin, dass die allermeisten Menschen sie ganz unernst betrachten. Die halten ja selbst denen den Spiegel vor, die zwar den ökologischen Durchblick haben mögen, es aber beim Durchblick bewenden lassen; aber auch jenen, denen solche Utopien abgehen. Aber eine Beschämung ist es ja in beiden Fällen …
… und deshalb stehen immer die Falschen unter Rechtfertigungszwang, jene, die Widerstand gegen den Klimawandel leisten, und nicht jene, die ihn mit ihren SUVs mitverursachen?
Genau, und ich würde dieses Argument generalisierend stark machen. Egal, ob es Ökodörfer sind oder eine Transition Town oder initiative Unternehmen, die in Deutschland Textilien umweltfreundlich fabrizieren: Sie bekommen von nahezu allen Journalisten die Frage gestellt, was das eigentlich bringe und ob das skalierbar sei. Und das nicht-nachhaltige Großexperiment, das gegenwärtig dominiert, wird nie daraufhin befragt. Obwohl, siehe Klimakonferenz, klar scheint, dass dieses Experiment scheitern dürfte. Diese Perspektive umzudrehen, ist ein zentraler Schritt. Die Rechtfertigungszwänge müssten eigentlich die anderen haben und nicht jene, die anfangen, etwas Anderes zu machen. Die sollten sich nicht rechtfertigen müssen, wofür auch? Dass sie es besser machen?
Ein klares Plädoyer für einen Perspektivwechsel. Aber haben wir den nicht längst, nur aus der falschen Richtung? Schließlich scheint die Moderne jenseits der Wunschträume einer ökosozialen Moderne in eine hoch regressive Phase eingetreten zu sein.
In der Tat haben wir es im Moment mit einer sehr regressiven Phase zu tun, in jeder Hinsicht. Und diese Regression ist sicher hochgradig brisant und sehr bedrohlich, aber zumindest insofern nicht überdramatisch, als sie einer gewissen Entwicklungslogik folgt, die uns auch herausfordert, unsere Komfortzonen zu verlassen. Im Angesicht manch aktueller Konflikte habe auch ich mich dabei ertappt, dass ich viel zu lange und viel zu naiv geglaubt habe, dass es so etwas wie die Fortsetzung eines hegemonialen Modells gibt – so als sei unsere Moderne universalisierbar. Man rechnet natürlich immer mit Rückschlägen. Aber dass es überausschlagende Rückschläge gibt, wie wir sie derzeit erleben, das hat die bundesrepublikanische Gesellschaft in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren doch nicht erleben müssen. Mit der Folge, dass nicht mehr mit einer fundamentalen Gegnerschaft zum Bestehenden gerechnet wurde. Aber es gibt sie, die Gegner, und sie werden, wie die neurechte Bewegung zum Beispiel, nach einer langen Phase der scheinbaren Ohnmacht, wieder mächtiger. Und da ist es, Stichwort Konflikt, im Zusammenhang mit dieser regressiven Entwicklung wichtig, sich auch emotional angegriffen zu fühlen. Immer wieder höre ich in Veranstaltungen die Frage, wie man die Produzenten und Mitläufer der Neuen Rechten wieder auf die richtige Seite ziehen könne, immer wieder wird dann die Forderung erhoben, jenen zuhören, einen Dialog auf Augenhöhe führen zu müssen.
Doch mein Gefühl ist, dass sich die Pädagogisierer und Zuhörer in ihrem Gegenüber, der neurechten Bewegung, täuschen. Die neurechte Regression will die Lebensform, die von der Mehrheitsgesellschaft favorisiert wird, vernichten. Denen geht es nicht um Aushandlung, sondern um Hegemonie. Sie haben auch kein pädagogisches Konzept, ihre Gegner umdrehen zu wollen, sondern sie greifen an. Und eine adäquate Reaktion auf einen Angriff ist, sich angegriffen zu fühlen! Sich angegriffen zu fühlen schärft zudem nochmal die Sinne dafür, dass es sich nicht um ein pädagogisches Problem handelt, weshalb der Instrumentenkasten der Pädagogik zugunsten des politischen Konfliktes bisweilen zurücktreten darf.
Und es bringt uns an den Ausgangspunkt des Gespräches zur Formierung von Widerstand: Man muss es auch persönlich nehmen. Man muss sich angegriffen fühlen durch ein falsches Leben, durch eine falsche Konsumlandschaft, falsche ideologische Angebote und auch durch manifeste Angriffe! Ich glaube, so gedreht könnte Widerstand die notwendigen Debatten anstiften.
Das Interview führten Michael Lühmann und Marika Przybilla-Voß
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018