»Man muss sich angegriffen fühlen« Ein Gespräch mit Harald Welzer über Widerstand, Autonomie und Klimawandel

Interview mit Harald Welzer

Hieße das, eine andere Ästhetik und eine Rückkehr zu mehr Radikalität könnten mehr Erfolg versprechen?

Ja, denn Nichtradikalität lädt gerade dazu ein, etwas für zumutbar zu halten. Denken Sie an das Verbot des Rauchens: Es wäre vor dreißig Jahren völlig undenkbar gewesen, Menschen in öffentlichen Räumen das Rauchen zu verbieten, eine Kulturrevolution, geradezu radikal. Es ist aber dennoch passiert und hat die öffentliche Benutzeroberfläche komplett verändert.

Also dann doch radikale Verbote?

Verbote, ja, aber auch radikale Forderungen. Niemand traut sich zum Beispiel, SUVs zu verbieten. Dabei gibt es nicht einen einzigen Grund, weshalb es solche Fahrzeuge gibt. Ordnungspolitisch wäre das überhaupt kein Problem. Aber es wird, wie bei vielem anderen auch, wieder das Stichwort Kerosinsteuerbefreiung, nicht angegangen, auch nicht von den Grünen, die der Mut verlassen hat, unbequem zu sein.

Wenn Politik scheitert, bräuchte es dann, in Anschluss an Václav Havel, für den Versuch, in einer gerechten, ökologischen, freiheitlichen Wahrheit zu leben, Öko-Dissidenten?

Der Kapitalismus kennt ja differenzierte Lebenswelten, baut Dissidenzen sogar ein. Insofern glaube ich, müsste es schon beides geben, also Veränderungen des praktizierten Lebensstils oder auch der Wirtschaftsweisen auf der einen, aber auch politische Artikulation auf der anderen Seite. Es gibt viele, sehr gute und zukunftsweisende Praxisprojekte, aber nicht wenige sind im Kern viel zu unpolitisch. Erst wenn die Gesamtheit der transformativen Akteure auch politische Forderungen artikuliert, nicht nur im Sinne eines für etwas sein, sondern durchaus auch in Gegnerschaft zu den Verhältnissen, wenn das Ganze eine politische Dimension erhält, dann wird es interessant. So gelten nachhaltig wirtschaftende Unternehmen bspw. als Pioniere, am Markt aber haben sie mit vielen Nachteilen zu kämpfen. Dieses systematische Defizit sollte politisch bekämpft werden, ohne Scheu vor Konflikten. Es ist der neoliberalen Ideologie geschuldet, dass immer alles Win-Win sein muss. Gesellschaftliche Veränderungen sind das aber nie. Sie sind immer Ergebnis von Konflikten, in denen jemand gewinnt und jemand verliert.

Und wenn Sie jetzt zwei oder drei Ansatzpunkte skizzieren müssten, an denen politisch angesetzt werden sollte, um Wandel zu erreichen: Welche wären das und sehen Sie derzeit Akteure, die dazu in der Lage sind?

Zunächst und nochmals: Die Evidenz, dass eine tiefgreifende Veränderung auf der ökonomischen Ebene notwendig ist, ist und bleibt glasklar. Der Widerstandsanlass hierzulande wäre also weiterhin die ökosoziale Frage. Insofern glaube ich, steckt in diesem Gedanken eines Widerstandes, aus im weitesten Sinne ökologischen Motiven, schon noch etwas drin. Es gibt viele Versuche des guten Lebens und der ökosozialen Gerechtigkeit; was aber fehlt, ist, dass die Leute tatsächlich etwas Anderes wollen. Und notwendig ist eine neue, andere Symbolik. Tiefgreifende Veränderungsprozesse entstehen immer dann, wenn der Druck zu groß wird. Der Druck ist aber nicht groß genug in unseren Gesellschaften. Die demoralisierende Erkenntnis ist ja leider viel mehr die, dass Widerstand häufig in jenen Gesellschaften viel heftiger ist, in denen auch die Zwangsverhältnisse viel größer sind.

Fehlender Veränderungswille, fehlender Veränderungsdruck, die falschen Symbole – braucht es eine Öko-Ideologie, einen politischen Ökologismus?

Ich würde das anders formulieren: Was fehlt, ist Zukunft, eine irgendwie vorstellbare andere Welt, eine, die auch noch attraktiv ist. Wenn ich unter extrem ungerechten Verhältnissen lebe, dann ist es relativ leicht, eine Vorstellung einer gerechteren Welt zu haben, und auch die Legitimität, eine solche haben zu wollen, ist vorhanden. Daraus erklärt sich auch Widerstand. Aber es gibt kein Zukunftsbild, das dem gegenwärtigen so überlegen wäre, dass das Kämpfen lohnte. Das nicht beschrieben zu haben, nicht beschreiben zu können, ist ein großes Defizit aufseiten der Sozialwissenschaften, der sozialen Bewegungen, auch der Intellektuellen.

Zukunftsbilder funktionieren meist über den Begriff des Fortschritts. Der aber hat in der Spätmoderne einen schlechten Leumund, auch weil der bundesrepublikanische Fortschrittsglaube längst der durchaus realen Einsicht gewichen ist, dass es den eigenen Kindern möglicherweise nicht mehr besser gehen wird als einem selbst.

Aber das stimmt ja vielleicht gar nicht, ist zumindest nicht belegbar. Und warum eigentlich nicht den Fortschrittsbegriff nutzen, der, anders als der leere Begriff der Innovation, über seine notwendige Referenz gerettet werden kann? Fortschritt lässt sich schließlich mit Inhalt füllen, etwa als sozialer oder sozial-ökologischer Fortschritt. Fortschritt abzulehnen, nur, weil er linear gedacht dem Konzept der Moderne inhärent scheint, halte ich für intellektuell verspannt und wenig zielführend.

Aber politisch scheint die Innovation gesiegt zu haben. Führten die Grünen Mitte der Nullerjahre einen durchaus auch fortschrittskritischen Diskurs über die Ökologie, obsiegte nach wenigen Jahren der Green New Deal und beendete sämtliche politischen Grundsatzdiskussionen. Seither gilt zumindest in der politischen Auseinandersetzung ein märchenhaft anmutendes Fortschrittsmodell, das ganz stark auf Innovation setzt und dabei Rebound- oder Backfire-Effekte ignoriert. Bräuchten wir in Anbetracht dieser Verkürzungen nicht eine neue intellektuelle und politische Debatte?

Aber natürlich brauchen wir die. Der Niedergang der Grünen ist ja der beste Anlass dafür; aber es ist ja eigentlich viel dramatischer. Nicht nur die Grünen verlieren, sondern auch die Sozialdemokraten, die Linken insgesamt. Alles das, was sich als fortschrittlich verstanden hat und versteht, ist mittlerweile in der Defensive und dabei zudem nur wenig in der Lage, Ökologie und Gerechtigkeit zusammen zu denken. Es scheint, als habe das fortschrittliche Lager verlernt, jenseits des Bestehenden denken zu können, dies in Ideen zu übersetzen und wirkmächtig zu machen. Da klafft eine riesige Lücke und die Grünen sind die leibhaftig gewordene Hilflosigkeit in dieser Hinsicht. Das ist eine Katastrophe und führt zu der Frage, ob Parteien überhaupt noch die richtigen Adressaten einer sozial-ökologischen Wende sein können.

Bräuchte es eine Art Neubeginn?

Aus wissenschaftlicher Perspektive würde ich sagen, dass es zunächst eine Modernisierungstheorie moderner Gesellschaften bräuchte. Eine, die zumindest die Anforderungen des 21. Jahrhunderts mitdiskutieren würde. Das zivilisatorische Projekt der Moderne ist ja bei der Industriemoderne stehengeblieben und hat darüber die Zukunftsvorstellung ebenso wie ihre gesamte Theorie verloren. Das ist gewissermaßen, Francis Fukuyama als Stichwortgeber nehmend, als Ende der Geschichte verstanden worden. Aber niemand hat sich infolgedessen Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen kann und soll. Das ist der Zustand, den wir im Moment haben.

Das beschreibt die theoretische Ebene, aber wie ist es mit der gesellschaftlichen? Bräuchte es nicht auch einen Weckruf? Und wie könnte der entstehen?

Das Interview führten Michael Lühmann und Marika Przybilla-Voß

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018