Editorial

Von Matthias Micus  /  Katharina Rahlf

»Über Grenzen« – der Titel der neuen Ausgabe von INDES wurde bewusst doppeldeutig gewählt, denn dieses Heft thematisiert in seinem Schwerpunkt unterschiedlichste Arten von Trennlinien, Identitäten und Zugehörigkeiten. Ein Teil der Beiträge befasst sich – zum einen – mit dem Einhegenden und Abgrenzenden von Demarkationen und also mit Grenzen in ihrer ursprünglichen Wortbedeutung. So analysiert Jan Michael Kotowski die voranschreitende Abschottung der USA und die Militarisierung ihrer Grenzpolitik gegenüber dem südlichen Nachbarn Mexiko. Der Text von Dietrich Thränhardt handelt von aktuellen Mauerbauten – ein offenbares Paradoxon und weitgehend übersehenes Geschehen, besteht doch seit der Implosion des Ostblocks, dem Ende der Ost-West-Konfrontation und dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 der vermeintliche Trend eher darin, Mauern niederzureißen als neu zu errichten. Zumal Grenzen auch insofern Phänomene einer vergangenen Epoche zu sein scheinen, als die Globalisierung und das Internet überkommene Schranken überwinden und noch die entlegensten Winkel der Erde miteinander vernetzen.

Diese Entwicklung begründet die Ambivalenz der Titelgebung. Denn das Wortpaar »über Grenzen« kann – zum anderen – auch in dem Sinne verstanden werden, Getrenntes zu verbinden und Gegensätze aufzuheben. Dies gilt in ganz vielfältiger Hinsicht. Steinerne Grenzen, die ursprünglich in trennender Absicht gebaut wurden, können ihre historische Funktion verlieren und von Spaltungsfaktoren zu Stätten der Begegnung werden. Ganz so, wie der Hadrianswall heute. Menschliche Grenzen können durch Wagemut, Risikobereitschaft und Höchstleistungen überschritten werden, hierauf verweisen die Ausführungen von Karl-Heinz Bette zum Extremsport. Und politische Grenzen sind ebenfalls nicht unüberwindbar, das zeigten in den vergangenen 150 Jahren nicht zuletzt die hier von Franz Walter porträtierten »Grenzgänger des Sozialliberalismus«.

Womit sich die Frage stellt, ob Grenzen per se negativ sind, ob sie bloß begrenzen, zwingen oder einengen? Können Menschen, mit anderen Worten, überhaupt ohne Grenzen leben, ohne Separation ihre Identität ausbilden? Besitzen Grenzen vielleicht auch eine entlastende und friedensstiftende Funktion? Auch diesen grundlegenden, im philosophischen Metier angesiedelten Überlegungen widmet sich die aktuelle INDES. Indirekt und unterschwellig in einer ganzen Reihe von Beiträgen, ganz explizit in dem Entwurf von Konrad Paul Liessmann für eine »Philosophie der Zugehörigkeit«.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2012| © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012