Editorial

Von Jens Gmeiner  /  Matthias Micus

Für einen Parteienforscher, so lautete schon vor Jahren ein Bonmot am Institut für Demokratieforschung, ist die Beschäftigung mit der Sozialdemokratie eine Jobgarantie. Denn in Krisenzeiten sucht die Öffentlichkeit nach Erklärungen, erschallt der Ruf nach wissenschaftlicher Expertise – und Krise ist bei der Sozialdemokratie immer.

Insofern geht dem Analytiker des Sozialdemokratischen die Arbeit nie aus. Einerseits. Andererseits wiederholt sich vieles, weisen die Krisen von gestern und heute zahlreiche Ähnlichkeiten mit jenen von vor- und vorvorgestern auf. Ständig originelle, bisher unbekannte Deutungen zu ersinnen, fällt angesichts dessen nicht leicht. Das gelangweilte Schulterzucken ist die Kehrseite der Omnipräsenz. Und auch die Ankündigung des Schwerpunktes der vorliegenden Ausgabe der INDES mag bei manchem für Augenrollen und Verwunderung gesorgt haben – zu vorhersagbar das Geschriebene, zu oft gelesen, zu oft schon formuliert und diskutiert.

Doch soll in diesem Heft eben nicht die in der Tat schon ermüdend oft beschworene Krise der Sozialdemokratie im Mittelpunkt stehen. Im Gegenteil wollen wir auf ihre Perspektiven und Möglichkeiten, ihre gesellschaftlichen Ressourcen und Interpretationsangebote, ja ihre Notwendigkeit verweisen – sowohl mit Blick auf die Vergangenheit als auch die Zukunft.

Die Sozialdemokratie jedenfalls, so pathetisch das klingen mag, ist mehr als eine Partei – sie ist eine Vorstellung, Ideologie, Gesellschaftsform, politische Richtung, ist Wunsch und Anspruch zugleich. In ihr manifestiert sich die Hoffnung auf eine sozial gerechtere Gesellschaft und der Wille, sie herbeizuführen. Den Zielen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit haben Generationen an Aktivisten ihre gesamte Kraft und Zeit geopfert; das richtige Leben im falschen führen zu können, bauten sie ein dichtes gegenkulturelles Vereinsnetz auf. Auch Verfolgung und Zuchthaus, selbst Todesdrohungen konnten die überzeugungsstarken Anhängerkerne nicht von ihrem Glauben abbringen – ja in diesen Phasen zeigte die Bewegung ihr heroisches Gesicht. Mithin: Wie kaum eine andere politische Richtung brachte die Sozialdemokratie Idealismus hervor. Ihr historisches Wirken überragt – und ist Pfund und Last zugleich.

Denn ihre einst fundamentalistischen Antriebskräfte haben sich im Zeitverlauf reformistisch erschöpft. Von der geschichtsteleologischen Ankunftsgewissheit der kommunistischen Idealgesellschaft ist das tastende Suchen nach der »guten Gesellschaft« geblieben. Wenn überhaupt, denn die Erfolge sozialdemokratischer Politik haben einen Teil der Sozialdemokraten, und ihren aktiven zumal, mit den bestehenden Verhältnissen versöhnt. Sie haben sie entfremdet von jenen, die den Aufstieg nicht schafften, und an die Stelle grundstürzender Diesseitsutopien eine beflissene Gegenwartszufriedenheit gesetzt.

Unter einem anderen Blickwinkel hat der bedeutende liberale Soziologe Ralf Dahrendorf schon zu Anfang der 1980er Jahre ganz ähnlich die Normalisierung des Sozialdemokratischen mit seinem kommenden Ende assoziiert. Indem ihre Forderungen auch von den politischen Konkurrenten übernommen worden seien, habe die Sozialdemokratie, so Dahrendorf, ihren Daseinszweck erfüllt. Ihrer Ideale enteignet, ihrer Mission beraubt, ihrer Anhänger entfremdet, erscheint die Sozialdemokratie heute verstaubt, ja überflüssig.

Indes mehren sich seit längerem schon die Anzeichen, dass durchaus Bedarf nach sozialdemokratischer Politik besteht, dass sich ihre Kernanliegen nicht erledigt haben, sondern in der Bevölkerung auf breite, in Umfragen von Mehrheiten geäußerte Zustimmung stoßen – dass aber die Sozialdemokratie selbst mit ihrer Politik im 21. Jahrhundert diese majoritären gesellschaftlichen Erwartungen enttäuscht hat. Dieser Deutung zufolge hat nicht die Verallgemeinerung ihrer Prinzipien die spezifisch sozialdemokratischen Parteien überflüssig gemacht, sondern die fahrlässige Abkehr von den eigenen Idealen eine moralische Leerstelle und politische Repräsentationslücke entstehen lassen – und den gesellschaftlichen Wurzelgrund der Sozialdemokratie ausgetrocknet.

Man sieht schon: Ganz ohne Krise wird auch dieses Heft zur Sozialdemokratie nicht auskommen. Aber im Mittelpunkt stehen doch andere Fragen: Wie muss sich die Sozialdemokratie heute und perspektivisch positionieren? Welchen Bedarf gibt es im 21. Jahrhundert an sozialdemokratischen Inhalten? Was kann die Sozialdemokratie aus ihrer eigenen Geschichte lernen und in die eigene Zukunft mitnehmen? Und nicht zuletzt: Wie sehen die bündnispolitische Perspektiven der Sozialdemokratie jenseits der Großen Koalition aus? Ist die linke Sammlungsbewegung ein Ort sozialdemokratischer Revitalisierung? Diesen und weiteren Fragen will die vorliegende Indes nachgehen. Wie stets, mit einem breiten Spektrum an Texten und Deutungen. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018