»Blumen in einer Wüste leer gewordener Konventionalität« Ein Gespräch mit Heinrich Detering über den Nonkonformismus in Gesellschaft und Literatur
Die Ausgangsfrage dieses Heftes lautet: Zeichnet sich unsere Gegenwartsgesellschaft eher durch Konformismus und eine Tendenz zur Anpassung aus, wie die selbsterklärten Musterrebellen aus den Jugendkohorten der späten 1960er Jahre gerne monieren? Oder stimmt eher das Gegenteil? Wie schätzen Sie das für den Bereich der Literatur ein? Und damit zusammenhängend: Was bedeutet überhaupt Nonkonformismus in der Literatur; bezieht er sich eher auf den Autor und seine Biografie – oder auf die Art, wie er schreibt?
Sie sprechen damit zwei ganz verschiedene Bereiche an: einen sehr weiten gesellschaftlichen und einen im engeren Sinne literarischen. Ich würde zunächst für beide sagen, dass Konformismus und Nonkonformismus Verhaltensmuster von Individuen sind. Das ist banal, aber nicht unwichtig. Ich beschäftige mich gerade mit den Schriften von Irmgard Keun, einer definitiv nonkonformistischen Autorin, und zwar in einem ganz konkreten politischen und sozialen Sinne. Meine Arbeit besteht darin, zu rekonstruieren, mit welchen Schreibverfahren und Publikationsstrategien sie zwischen 1933 und 1935 in dem extrem auf Konformismus ausgerichteten Gesellschaftssystem des sich konsolidierenden Nationalsozialismus versucht, sie selbst zu bleiben; welche Allianzen sie bildet, wie sie schließlich scheitert und 1936 ins Exil gehen muss. Da gibt es – und deshalb erwähne ich das Beispiel hier – einen maximalen gesellschaftlichen Konformitätsdruck, aber auch Beispiele individueller Verweigerung. Diese praktiziert Irmgard Keun in der Weise, in der sie schreibt. Ihre Texte spiegeln das Programm eines konsequenten Individualismus. Der wird im nationalsozialistischen Deutschland irgendwann unmöglich oder führt ins Martyrium, aber er ist so lange wie möglich der Leitfaden.
Gibt es keinen Zusammenhang zwischen (nonkonformistischer) Autoren-Biografie und literarischen Darstellungsweisen, die ihrerseits nonkonformistisch sind?
Um 1915 konstituiert sich in Moskau und Sankt Petersburg die durchaus heterogene und vielstimmige Gruppe der Russischen Formalisten – eine der
bis heute aufregendsten Avantgarde-Bewegungen der europäischen Kultur im 20. Jahrhundert. Nicht alles, was sie als revolutionär neu bezeichneten, war auch tatsächlich revolutionär neu. […]
Das Interview führten Jöran Klatt und Matthias Micus.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016