Nach dem Konflikt ist vor dem Konflikt? Zur Linearität und (Post-)Kolonialität in Peacebuilding und Transitional Justice-Prozessen
»Um den Preis des eigenen Gutseins darf es eine Gegenwartsbewältigung nicht geben.« (Max Czollek, Desintegriert euch![1])
Die deutsche Nachkriegszeit ebenso wie verschiedenste internationale Bemühungen um den Aufbau von nachhaltigem Frieden geben Aufschluss über ein Phänomen, das Max Czollek in seiner Streitschrift »Desintegriert euch!« zu Recht kritisiert: Werden Gewalt und Konflikt in der Vergangenheit verortet, so wird damit eine simplifizierende und dichotome Selbstidentifikation von heute und damals betrieben. Hinzu kommt, dass eine rigorose Trennung zwischen einer gewaltvollen Vergangenheit und einer friedvolleren Gegenwart – und schließlich einer friedvollen Zukunft – Kontinuitäten von Gewalt und Konflikt unsichtbar macht. Der Erfolg von AfD und Co. ist damit, wie Max Czollek treffsicher analysiert, weniger eine Überraschung als das Ergebnis davon, rechte Ideologien und Gewalt in der Vergangenheit zu verorten.
Internationale Bemühungen um Frieden und Gerechtigkeit, die unter den Begriffen Peacebuilding (dt.: Friedenskonsolidierung) und Transitional Justice (dt.: Übergangsjustiz und Vergangenheitsaufarbeitung) zusammengefasst werden, weisen eine ähnliche Logik auf: So liegt der Auseinandersetzung mit dem Thema Transitional Justice, das sich mit dem Ende der 1990er Jahre als eigenständiges Forschungs- und Praxisfeld etabliert hat, die Annahme zugrunde, dass nur ein »klarer Bruch« mit vergangenem Unrecht den Übergang (transition) von einer Diktatur oder einem (Bürger-)Krieg in eine Demokratie und friedliche Zukunft ermögliche und dass in dieser Phase Gerechtigkeit (justice) hergestellt werden müsse, um einen nachhaltigen Frieden zu verwirklichen. Die Herstellung von Gerechtigkeit lasse sich allerdings nicht mit alltäglichen Praktiken und Instrumenten erreichen, sondern bedürfe spezifischer Maßnahmen. Auf ähnliche Weise verfolgt auch das Peacebuilding-Konzept eine klare – d.h. lineare und nach vorn gerichtete – zeitliche Orientierung an der Zukunft. Demnach werden Ziele und Maßnahmen von Peacebuilding-Interventionen nicht anhand der Vergangenheit, d.h. unter der realistischen Annahme des Fortbestehens konflikthafter Strukturen auch nach der offiziellen Beendigung eines bewaffneten Konflikts, sondern an der Idealvorstellung einer zukünftig friedlichen bzw. friedvolleren Gesellschaft ausgerichtet. […]
Anmerkungen
[1] Max Czollek, Desintegriert euch!, München 2018.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019