Selbstoptimierung im Stadtformat Wie Darmstadt als Smart City in die digitale Zukunft schreitet

Von Michael Kulmus

Fast vierzig Meter hoch ist das Denkmal für Ludwig den Ersten auf dem Luisenplatz. Gegen die geplante Videoüberwachung des Platzes hat der Chaos Computer Club mit anderen Gruppen schon eine Demo organisiert. Nur ein paar Straßen weiter steht das zentrale Stadthaus. Während Konten online eröffnet und Flugtickets im Internet gebucht werden, müssen Pässe oder Meldebescheinigungen immer noch direkt auf dem Amt abgeholt werden. Zukünftig will die Stadt ihre Dienstleistungen allerdings digital bündeln. Wie in Estland soll es eine Art elektronisches Bürgerkonto geben. Ob Anmeldung für die Wasserversorgung, Geburtsurkunden, Fahrkarten für Bus und Bahn: Herzkammer der Überlegungen ist eine zentrale Datenplattform. »Auf der Plattform werden unterschiedliche Datentöpfe zusammenlaufen und wir wollen damit vor allem auch unsere einzelnen IT-Systeme harmonisieren«, erklärt Simone Schlosser. Informatiker Holz meint indessen, personenbezogene Daten sollten »niemals auf einer zentralen Datenplattform zusammengeführt oder gar an externe Dienstleister weitergegeben werden«. In der Vergangenheit habe es immer wieder Datenlecks und Probleme bei der Zugriffskontrolle bei öffentlich erreichbaren Datenbanken gegeben. Einer seiner Mitstreiter hat erst vor wenigen Monaten eine Datenpanne bei Online-Anträgen fürs Anwohnerparken in der Nachbarstadt Frankfurt aufgedeckt.[7] Datenschutz und Cybersicherheit »stehen bei allen unseren Überlegungen an erster Stelle«, betont Schlosser. An der TU laufe momentan etwa ein spezielles Projekt, das sich nur mit der Absicherung der Schnittstellen zur Datenplattform befasst. Laut Schlosser hat die Datenplattform »so hohe Anforderungen, dass wir damit sicher mehr Zeit benötigen werden als die zwei Jahre der Projektphase«.

WER PROFITIERT VON DER SMART CITY?

Gerade unter nationalen Sparorgien leidenden Städten falle es besonders leicht, wertvolle Daten gegen Angebote wie freies WLAN oder modernste Verkehrssteuerungssoftware einzutauschen, »da Daten etwas sind, was in der Buchhaltung von kommunalen Verwaltungen in der Regel nicht auftaucht und von daher für sie auch keinen Wert darstellt«, schreiben die Technologieexpertin Francesca Bria und der Technikpublizist Evgeny Morozov in ihrer Studie »Die smarte Stadt neu denken«.[8] Sie kritisieren zudem, dass die oftmals neoliberalen Konzepte der immer weiteren Privatisierung öffentlicher Infrastruktur Vorschub leisten würden. Grundsätzlich begrüße der Chaos Computer Club zwar mehr städtische Online-Angebote, erklärt Marco Holz. »Wir teilen aber Befürchtungen, dass die Stadt Projekte durch Dritte umsetzen lässt und sich dabei in langfristige Abhängigkeiten einzelner Hersteller begibt oder öffentliche Infrastrukturdaten nicht als Open Data bereitgestellt werden, sondern als Geschäftsgeheimnisse der Plattformanbieter behandelt werden.« Den Umstieg der Stadtverwaltung auf quelloffene Software würde sein Verein befürworten. »Freie Software stellt die Grundlage für eine souveräne Verwaltung dar, die unabhängig von den Produkten einzelner Softwarehersteller ist«, sagt der Informatiker. Solche Vorhaben sind laut Simone Schlosser in der Projektphase allerdings nicht geplant: »Wir arbeiten in gewachsenen Strukturen und können nicht von heute auf morgen alles umstellen und auf der grünen Wiese experimentieren.«

Andere Städte arbeiten schon an Digitalkonzepten ohne die großen IT-Konzerne, Barcelona etwa. Francesca Bria, die auch die Digitalstrategie der spanischen Millionenmetropole leitet, setzt auf eine Abstimmungsplattform, Open-Source-Software und Entwicklungen vor Ort. Freilich sind das andere Dimensionen: Ihr Team besteht aus rund 300 Mitarbeitenden.[9]

Darmstadt ist weit über die Grenzen Hessens hinaus als Crypto-Hochburg bekannt. In der Stadt wurde das erste deutsche Rechenzentrum gegründet, die Europäische Raumfahrtagentur steuert von hier ihre Weltraummissionen. Über das ganze Stadtgebiet sind Gebäude der Technischen Universität, mehrere Hochschulen und Dutzende Forschungseinrichtungen verteilt. »Darmstadt ist seit 20 Jahren Wissenschaftsstadt. Dass es uns ausgerechnet im Jubiläumsjahr gelingt, Digitalstadt für Deutschland und Europa zu werden, ist kein Zufall«, freute sich Bürgermeister Partsch. »Sicher bietet Darmstadt gute Voraussetzungen für Studierende und AbeitnehmerInnen im IT-Bereich«, sagt Marco Holz. Andere Städte wie etwa Berlin, Bonn oder Heidelberg seien aber offener und organisierten Projekte wie Jugend Hackt oder Veranstaltungen zu digitalen Themen in ihren Stadtbibliotheken. »Hier kann sich Darmstadt noch viel von anderen Kommunen abschauen«, meint der IT-Experte. Zwar ist nach Angaben von Schlosser für kommenden Herbst eine städtische Konferenz mit Vorträgen und Debatten zur Digitalisierung geplant, ein digitales Ökosystem zwischen der Stadt und zivilgesellschaftlichen Gruppen besteht laut Chaos Computer Club bislang aber nicht.

Inwiefern sie im Dagger-Komplex am westlichen Rand Darmstadts in städtische und andere Aktivitäten eingebunden sind, ist streng geheim. US-Geheimdienste sollen hier tief unter der Erde Datenspionage betreiben. Auch die Lincoln-Siedlung war einst militärisches Sperrgebiet. Stück für Stück werden die Barracken umgebaut und renoviert, nachdem die Stadt das marode Gelände vor einigen Jahren aufgekauft hatte. Auch genossenschaftliche Wohnprojekte mit einem hohen Anteil an Sozialwohnungen sind geplant, denn von Wohnungsnot und Mietenexplosion sind immer mehr Darmstädter betroffen. In ein paar Jahren könnten elektrische Minibusse durch das Gebiet tingeln. Dank Laser, Kameras und GPS sind die Gefährte ohne Fahrer unterwegs. Bislang gab es aber nur kurze Teststrecken, die als Privatgelände ausgewiesen sein müssen: Betreten auf eigene Gefahr. »Wir überlegen momentan, wo wir eine Strecke zum Testen dieser Fahrzeuge einrichten können«, sagt Simone Schlosser. Eine neue Haltestelle der Straßenbahn hat das Gelände schon. Auch die Tram soll zukünftig autonom fahren – teilautonom zumindest. Am Maschinenbau-Institut der Universität werden solche Fahrzeuge entwickelt. Digitalstadt-Geschäftsführerin Schlosser geht davon aus, dass voraussichtlich bis 2021 mit einer solchen Linie gerechnet werden könne.

DIGITALE INFRASTRUKTUR UND BIG-BROTHER IS WATCHING YOU

Die Verkehrskolonnen, die sich tagtäglich nach, aus und durch Darmstadt schieben, werden schon heute von einem digitalen Hirn orchestriert. Kameras erfassen anonymisierte Bilder der Verkehrsdichte. Die Ampelanlagen sind über ein Lichtwellennetz miteinander verbunden und senden Daten in Echtzeit. Das System erkennt sogar Fußgänger, die über eine Kreuzung wollen. Busse und Bahnen melden sich bei den Ampeln per GPS-Signal an und bekommen Vorfahrt. Über eine Open-Data-Plattform für Verkehrsdaten – die bislang erste in Deutschland – sind die Daten öffentlich zugänglich. Ums Parken in der Stadt kümmert sich künftig die Deutsche Telekom. Das Unternehmen will die städtischen Parkplätze zukünftig mit Sensoren ausstatten. Eine App zeigt dann freie Parkplätze an, die auch sofort gebucht und bezahlt werden können. Vorstellbar sei laut Telekom auch, etwa Schwarmdaten aus dem Mobilfunknetz für die Vorhersagen zum Parkraumangebot zu nutzen.[10] Dass solche Dienstleistungen nach der Projektphase voraussichtlich etwas kosten werden, wissen sie bei der Stadt. »Wir sind darauf eingestellt«, erklärt Schlosser.

Nur ein paar Kilometer Luftlinie von Darmstadt entfernt, steht in Frankfurt mit DE-CIX der größte Internet-Knoten der Welt: In Spitzenzeiten strömen hier über sechs Terabit pro Sekunde durch die Leitungen. Auch bei den jährlich rund 40.000 stationären Patienten des Darmstädter Klinikums fallen eine Menge Daten an. Neue Patientenakten werden digital angelegt, die alten wurden eingescannt und digitalisiert. Überall hängen große Displays zur Stationsplanung. Mit einem mobilen Visitewagen rufen Ärzte über WLAN etwa Röntgenbilder auf und besprechen Befunde mit den Patienten. Bald soll auch das Pflegepersonal damit Puls, Blutdruck, Temperatur und Atmung der Patienten dokumentieren. Über die Datenplattform sollen Patienten zukünftig ebenfalls auf ihre Krankenakte zugreifen können sowie in virtuellen Chaträumen Fragen und Beschwerden mit Ärzten erörtern. »Solche Daten auf zentralisierten Plattformen halten wir grundsätzlich für sehr bedenklich«, erklärt IT-Aktivist Holz. Nach dem Gebot der Datensparsamkeit sollten seiner Ansicht nach auch keine biometrischen Merkmale erfasst werden, sofern nicht unbedingt nötig. Das geplante Gesichtserkennungsprojekt für Medizingeräte am Klinikum sieht Holz deshalb kritisch.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201