Selbstoptimierung im Stadtformat Wie Darmstadt als Smart City in die digitale Zukunft schreitet
»Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache«, schrieb Georg Büchner, Darmstadts berühmter Sohn, im Jahr 1834. Gepflegt geht es auch in einem Projektvideo der südhessischen Stadt zu. Morgens gehen die Rollläden automatisch hoch. Die smarte Uhr übermittelt Gesundheitswerte zum Arzt. Der Kühlschrank bestellt gesunde Bioware nach, die ein lächelnder Bote mit dem Lastenrad liefert. Den Weg zur Arbeit steuern Algorithmen. »Das Leben in der digitalen Stadt wird so effizient und bequem, so bürgernah und umweltfreundlich sein wie in keiner anderen europäischen Stadt«, erklärte enthusiastisch Bernhard Rohleder, Geschäftsführer des IT-Branchenverbandes Bitkom.[1]
Er hatte unter mittelgroßen Städten einen Wettbewerb für die Stadt der Zukunft initiiert. Darmstadt ging daraus Mitte 2017 als Gewinnerin hervor.
Montagmorgen, unzählige Menschen drängeln von den Bahnsteigen des Darmstädter Hauptbahnhofs die Treppen hoch. Wer in der Bahnhofshalle nach oben blickt, wird vom Jugendstil begrüßt. Die Industrialisierung menschlich formen war ein Ziel der Künstler, Architekten und Designer des Jugendstils. Mit der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe war die Stadt schon einmal Modellkommune. Vor dem Hauptbahnhof rauschen Straßenbahnen und Busse an einem kleinen Park und bunten Haltestellenwürfeln vorbei. Eigentlich sollten schon zwei Elektrobusse durch die Straßen rollen, die sind aber beim Hersteller abgebrannt. Unweit des Bahnhofs hat Simone Schlosser ihr Büro. Direkt im Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie, dessen weiße Fassadenteile wie Pixelblöcke wirken. »Wir sind jetzt fünf Mitarbeiter, zehn sollen es werden«, sagt die kaufmännische Geschäftsführerin der städtischen Digitalstadt-GmbH. Leiter des Instituts ist Michael Waidner. Die Verwaltung hat den Informatikprofessor und Experten für Cybersicherheit für den Posten des »Chief Digital Officer« ins Boot der Digitalstadt geholt. Er meint, für diese brauche es sowohl digitale Enthusiasten als auch Digitalskeptiker, die den Ideen die notwendige Bodenhaftung geben.[2]
Mit der Straßenbahn sind es vom Hauptbahnhof nur wenige Minuten in die Innenstadt. Tickets buchen und zahlen ist mit der Smartphone-App des regionalen Verkehrsverbundes schon seit Jahren möglich. Künftig sollen Nutzer mit einer einzigen App nicht nur Tickets für die Tram kaufen, sondern auch Elektroautos mieten und Fahrräder ausleihen können. Papiertickets werde es aber auch in Zukunft noch geben, glaubt Simone Schlosser. Richtung Lichtwiese nehmen die meisten Buslinie K. Das Areal ist Park, Campus und Sportzentrum in einem. Hier forschen sie an den Mobilitätskonzepten, der Architektur und dem Bauen von Morgen. Die kommunale Abfallwirtschaft testet auf dem Gelände seit Monaten die Müllabfuhr der Zukunft. Sensoren in den Behältern registrieren, ob sie geleert werden müssen. So entfallen überflüssige Fahrten. Außerdem können die Tonnen mit kleineren, elektrisch betriebenen Fahrzeugen abgeholt werden. Diese sollen mithilfe von Verkehrsdaten auch nur dann fahren, wenn kaum Verkehr ist. Eine App könnte signalisieren, wann die Mülltonnen auf die Straße gestellt werden sollen. Das ist aber noch Zukunftsmusik. »Wir legen keinen Schalter um und sind dann Digitalstadt. Die meisten Projekte spielen sich auch eher im Hintergrund ab«, erklärt Schlosser, die für die Stadt lange im Controlling tätig war.
Darmstadt habe jetzt die Gelegenheit, »Zukunft zu erproben und Digitalisierung zu gestalten, anstatt sie mit uns geschehen zu lassen«, sagte Jochen Partsch, der grüne Oberbürgermeister. Das Projekt werde ohne die Einbindung und Mitsprache der Bürgerschaft aber keinen Erfolg haben. Beim Darmstädter Chaos Computer Club würden sie sich dagegen mehr Mitsprache wünschen. »Seit der Preisverleihung gab es keine öffentlichen Beteiligungswerkstätten mehr«, berichtet IT-Aktivist und Informatiker Marco Holz. Auch städtische Hackathons[3] oder offene Workshops und Tagungen vermisst der Hackerverein, der nur einen Steinwurf von den Büros des Projektteams entfernt regelmäßig zusammenkommt. Die Stadtbewohner sollten nicht nur Kunde oder Produkt sein, sondern aktiv an den Projekten beteiligt werden, so die Kritik der Darmstädter IT-Aktivisten. Laut Schlosser soll noch im Sommer eine städtische Online-Beteiligungsplattform an den Start gehen. In Südkorea, Indien oder Portugal haben IT-Konzerne schon ganze Smart Cities auf dem Reißbrett geplant und gebaut. Google gestaltet gerade einen Stadtteil in Toronto. Technokratische Visionen und Scheinlösungen für die sozialen und ökologischen Probleme seien das, schrieb der Informationsarchitekt Adam Greenfield schon 2014 in seiner Streitschrift »Against the Smart City«.[4] Schlosser meint, die Digitalisierung werde an der Stelle häufig überschätzt. »Brave New World«, wie sie es ausdrückt, sei mit dem Projekt nicht zu erwarten. »Wir wollen als Stadt Themen aktiv aufgreifen und bestimmte Angebote vereinfachen.«
DIE DIGITALSTADT ALS RIESIGES INVESTITIONSPROJEKT
Bis heute steht in Darmstadt die Engel Apotheke, aus der sich der Pharma- und Chemieriese Merck formte. Zum 350-jährigen Firmenjubiläum reiste Anfang Mai die Kanzlerin an. Das Unternehmen unterstützt junge Forscher und Start- Ups in einem neu gebauten Innovationscenter. Der Bau im Darmstädter Norden ist innen komplett offen, die sechs Ebenen sind spiralförmig angeordnet. Man bekennt sich hier zur Digitalstadt und ist etwa mit Flüssigkristallen für Displays auch gut im Geschäft. Auch andere lokale Unternehmen, die neben der Pharma- und Chemiebranche vor allem in der IT und dem Maschinenbau zuhause sind, möchten in die Digitalstadt investieren. Das Land Hessen zeigt sich mit zehn Millionen Euro für das Leuchtturmprojekt ebenfalls spendabel. Vodafone plant ein 500-Mbit-Mobilfunknetz. Auch die Deutsche Bahn, Intel, Roland Berger, HP, ebay und SAP wollen sich mit ihren Produkten und Dienstleistungen beteiligen. Doch selbst wenn Unternehmen Gelder verschenken – jede Investition über 200.000 Euro muss ausgeschrieben werden. Der Chaos Computer Club fordert, dass die Stadt dabei auf offene Datenstandards und die Herausgabe des Quellcodes der für die städtische Infrastruktur relevanter Software besteht. »Grundsätzlich gehen alle Projekte der Digitalstadt den gleichen Gang durch Politik und Verwaltung wie andere«, erläutert Simone Schlosser. Nach Schätzungen von Consultingunternehmen, »wird der Smart- City-Markt demnächst die Grenze von drei Billionen US-Dollar knacken und damit alle traditionellen Wirtschaftszweige überflügeln«.[5]
Mitten in Darmstadt steht das Residenzschloss und gleich um die Ecke die Universitäts- und Landesbibliothek, die aus der Luft wie ein kleines »b« aussieht. Die Straßenlaternen sollen nicht nur hier zukünftig mit Sensoren bestückt werden. Je nach Lichtverhältnissen könnten sich die Lampen dann selbst steuern. Digitale Anzeigen könnten den Fahrrad- und Fußgängerverkehr regeln. »Mit diesem Projekt wird die Digitalstadt sichtbar und wir erhöhen die Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger«, erklärt Schlosser. Im niederländischen Eindhoven verbreiten solche Straßenlichter sogar Orangenduft, um das Aggressionspotenzial in einer beliebten Ausgehstraße zu senken. Hören und sehen können die smarten Lampen in Eindhoven längst. So wird etwa die Notrufzentrale alarmiert, wenn die Sensoren Hilferufe erfassen.[6]
Solcherlei Vorkehrungen sind laut Schlosser in Darmstadt aber nicht geplant. Die Laternen steckten momentan noch in der Entwicklungsphase. In den Niederlanden übernehmen häufig auch private Unternehmen die digitalen Dienste. Und sammeln damit viele wertvolle Daten. Smarte Laternen sollten laut Chaos Computer Club generell »datensparsam« etwa nur mit Lichtsensoren ausgestattet werden.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201