Editorial
Die Stadt – laut und dreckig, aber auch bunt und alternativ. Ein zerfaserter und anonymer Moloch einerseits, ein verdichteter sozialer Nahraum andererseits; eine unnatürliche Betonwüste und zugleich ein Ort bunter Artenvielfalt, ein Experimentierfeld der Zukunft. Städte verkörpern das betonierte Scheitern von stadtplanerischen Großentwürfen, sie sind wahrscheinlich das Synonym für Verkehrskollapse und überdurchschnittliche CO2-Bilanzen, vielleicht aber ebenfalls die entscheidenden Orte für eine Wende zum Besseren.
Schließlich sind die Städte der Welt, so Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Initiator der Symposiumsreihe »Die große urbane Transformation«, jüngst auf der Konferenz »4C: Changing Climate, Changing Cities« in Hongkong, die »100.000 Laboratorien, in denen die Moderne neu erfunden und damit der Übergang zur Nachhaltigkeit erprobt und umgesetzt werden kann.« Die Teilnehmer dieser Zusammenkunft, darunter eine Reihe von Nobelpreisträgern, richteten einen dringenden Appell an die Öffentlichkeit und insbesondere an Stadtregierungen, urbane Projekteschmieden sowie die Privatwirtschaft, um sie in die Pflicht zu nehmen, sich für die Zukunft des Planeten Erde einzusetzen und zukünftig noch mit verstärktem Engagement Konzepte und Lösungswege zu entwickeln und anzuwenden.
Dass die Hoffnung sich dabei vor allem auf den verdichteten städtischen Raum richtet, liegt in einer doppelten Erfahrung von Stadt begründet. Zum einen ist die Stadt in ihrem breiten Facettenreichtum häufig ein produktiver Ort von gesteuerten Innovationen gewesen – die mittelalterlichen Stadtrechte, von denen Peter Aufgebauer im Interview berichtet, mögen ein Beleg dafür sein. Auch Jörg Knieling weist den Städten bezüglich ihrer Planungskompetenz eine zentrale Verantwortung zu, wenn nicht unbedingt für die Lösung, so doch aber für die Herausforderung jenes Teils der multiplen Krise der vergangenen Jahre, der unter der ökologischen Herausforderung subsumiert wird.
Zum anderen ist die Stadt neben diesem planerisch-legislativen Zugriff – der nicht selten gescheitert und in seinen Erfolgsaussichten insofern ausgesprochen zweifelhaft ist, wie die Inspektionen von Salzgitter und Göttingen-Holtensen zeigen – auch immer ein Ort der Erneuerung von unten gewesen. Andreas Reckwitz hat mit seinen Überlegungen zur »Erfindung der Kreativität« etwa am Beispiel der kreativen Stadt aufgezeigt, wie in der Spätmoderne die Idee der Kreativität, entstanden in Abgrenzung zum Funktionalitätsversprechen des Fordismus und ausgehend von minoritären Gegenkulturen, die Mehrheitsgesellschaft verändert hat. Blieben historische Vorgänger – von der Romantik bis zur Lebensreformbewegung – auf kleine, zahlenmäßig randständige Kreise beschränkt, so ist die von Planern, Architekten und Gegenkulturen getragene Kulturalisierung der Stadt in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Leitbild geworden. Städte sollen und wollen kreativ sein, messen sich und konkurrieren im internationalen Wettbewerb und versuchen dabei, wie Marlon Barbehön im Heft ausführt, nicht nur ein bestimmtes Bild nach außen abzugeben, sondern vergewissern sich zugleich ihrer selbst.
Doch die creative city könnte, nachdem – vielleicht auch: indem – sie von Stadtplanung und Stadtmarketing flächendeckend aufgegriffen worden ist, schon wieder Geschichte sein. Jedenfalls wird sie neuerdings herausgefordert durch wachstumskritische Initiativen in sogenannten Transition Towns. Blumen und Gemüse auf innerstädtischen Brachen, Repair-Cafés und FabLabs: An die Stadt des 21. Jahrhunderts richten sich zahlreiche Ansprüche von unten, sie wird an und von der Basis neu gedacht. Konsum, Mobilität und die dominierende Verwertungslogik werden von einer New School grüner Utopie kritisiert, deren Facetten Christa Müller und Karin Werner beleuchten, während der Architekturphilosoph Van Bo Le-Mentzel seine Vision der nachhaltigen, konsumkritischen upcycling city entwirft und Sebastian Feldhusen und Eduard Führ einem Architekturbegriff das Wort reden, der das Verhältnis von Architektur und Stadt nicht als gegeben und allenfalls langfristig veränderlich behauptet, sondern als Aushandlungsprozess versteht und dadurch permanent gegebene Gestaltungsfreiräume aufzeigt.
Dass die ökologische Herausforderung dabei nicht minder auch eine soziale ist, darauf hat Ulrich Brand unlängst hingewiesen. Auch die vorliegende Ausgabe der INDES wird deshalb nicht nur das urbane Ökotopia ausleuchten, sondern auch und gerade die Herausforderungen thematisieren, die unter den Stichworten Gentrifizierung und Segregation verhandelt werden. Nicht nur von einer segensreichen Zukunft künden die hier versammelten Texte, sie handeln auch von gesellschaftlichen Spaltungen, gruppenbezogenen Perspektivlosigkeiten und alt-neuen Herausforderungen durch weltweite Krisen.
Dabei wollen verschiedene Autoren dafür sensibilisieren, wie schwierig etwa Stadt zu machen, zusammenzuhalten, ja allein schon zu beobachten ist. Am Beispiel eines Flüchtlingslagers zeigen Daniel Kerber und Isabelle Poncette die Widersprüche von verallgemeinerten Annahmen und konkretem Leben in einem Flüchtlingscamp. Ein weiterer Text mahnt mit Blick auf vermeintliche »Problemviertel« einen grundlegenden Perspektivwechsel an. Während sich Franz Walter dem komplexen Zusammenhang von Protest im urbanen Kontext auf eine Weise nähert, wie es ein knappes Jahrhundert zuvor für den Flaneur charakteristisch war, dem Felix Butzlaff und Robert Mueller-Stahl eine Hommage widmen.
Dass die aktuelle Ausgabe der INDES damit das vielgestaltige, unübersichtliche und paradoxe Bedeutungsgewebe Stadt in Gänze zu erfassen vermag, soll trotz des umfänglichen Schwerpunktes dieser Ausgabe nicht behauptet werden und war auch gar nicht unser Anspruch. Vielmehr war unser Ziel enger und realistischer, den Blick durch interessante Beiträge auf eben jenen an Bedeutung, Größe und Verantwortung wachsenden Raum zu schärfen, in dem sich im Angesicht eines rasanten globalen Wachstums von Megastädten die soziale, die ökologische und auch die demokratische Frage mutmaßlich am drängendsten stellen und in deren Kontexten sie womöglich am ehesten auch gelöst werden können.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015