»Wenn Kirchen sich politisch einmischen, dürfen sie nicht vorgeben, unpolitisch zu sein« Ein Gespräch mit Hans Joas über Kirchen, Politik und Moral
Herr Joas, Sie sprechen von der Kirche als Moralagentur. Was haben wir darunter zu verstehen?
Wichtig ist, dass wir die beiden Bestandteile einzeln erörtern: Moral und Agentur. Beginnen wir mit der Moral. Ich weiß natürlich, dass es keine einheitliche Definition des Begriffs »Moral« gibt, ebenso wenig wie es eine einheitliche Definition von Religion gibt. Aber in meinen Arbeiten spielt die Unterscheidung von Moral und Religion seit Jahrzehnten eine große Rolle. Die Moral ist dabei definiert durch ihre Restriktivität. Bestimmte Sachen, heißt das, darf man nicht tun – eben aus moralischen Gründen, die bisweilen sogar rechtlich kodifiziert sind. Oder man darf sie prinzipiell tun, aber bestimmte Mittel zur Erreichung des Zieles nicht verwenden.
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Nehmen wir als Beispiel den Konsum von Alkohol. Es gibt Länder, in denen verboten ist, Alkohol zu trinken. Bei uns ist es nicht verboten, aber ich muss für die Flasche, die ich im Laden holen will, bezahlen. Bei uns ist verboten, die Flasche einfach aus dem Laden mitzunehmen. Die Moral ebenso wie die Normen schränken meine Handlungsmöglichkeiten insofern ein. Ich kann zwar versuchen, zu schmuggeln – aber auch das darf ich nicht. Die Religion dagegen ist meinem Verständnis nach durch ihren attraktiven Charakter gekennzeichnet. Zwar trifft es selbstverständlich zu, dass auch das Attraktive restriktive Konsequenzen hat: Wenn ich mich etwa in jemanden verliebe, tue ich das nicht, weil ich dazu verpflichtet bin – Letzteres schließt Ersteres geradezu aus –, sondern weil ich mich, aus welchem Grund auch immer, angezogen fühle von dieser Person. Stehe ich nun aber in einer Liebesbeziehung zu einer Person, dann resultieren daraus Formen von Verbindlichkeit, die meine Handlungsmöglichkeiten einschränken. Wenn also bspw. der Mensch, mit dem ich in einer Liebesbeziehung stehe, krank wird, so empfinde ich wie selbstverständlich die Verpflichtung, mich um diesen geliebten Menschen zu kümmern. Das gilt übrigens auch in Freundschaften. Die Unterscheidung von restriktiv und attraktiv, von Moral und Religion, ist daher nicht so zu verstehen, dass aus Religion, dem Attraktiven, der Anziehung durch ein Vorbild, dass aus all dem niemals normative Konsequenzen folgen würden. Nur darf meines Erachtens bei der Religion die Betonung nicht auf der Moral liegen. Im Zentrum muss das stehen, was jemanden begeistert – also im Christentum zum Beispiel das Vorbild Jesus Christus, das motiviert und orientiert. Die religiöse Botschaft muss eine Botschaft der Begeisterung sein und nicht eine Botschaft des maßregelnden Zeigefingers. […]
Das Interview führten Lars Geiges und Matthias Micus.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.&1nbsp;-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017