Editorial

Von Michael Lühmann  /  Matthias Micus

2017 jähren sich zum 500. Mal die Abfassung und Verbreitung von Martin Luthers berühmten 95 Thesen. Ob sie wirklich an das Hauptportal der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen wurden, ist unter Historikern umstritten, kein Zweifel kann aber daran bestehen, dass sie eine große öffentliche Beachtung fanden und die Reformation auslösten. Um und über das nicht zuletzt durch Luther neu aufgesetzte Verhältnis von Politik, Macht und Kirche wird – wenn auch nicht nur und nicht allein – im Angesicht des Reformationsjubiläums in diesem Jahr gerungen.

Während die protestantischen Kirchenoberen den Reformator Luther in den Vordergrund stellen, der den einfachen Gläubigen ein radikales Heilsversprechen macht, indem er dem gestreng strafenden einen verzeihenden Gott entgegenstellt, der seinen Sohn stellvertretend für die Menschen deren Sünden auf sich nehmen lässt, monieren renommierte Universitätstheologen, ein solches Bild verzerre den historischen Luther bis zur Unkenntlichkeit. Derweil die Katholische Kirche auf den Jubiläumszug aufzuspringen versucht, indem sie die sachliche Berechtigung der inhaltlichen Kritik Luthers an der mittelalterlichen Kirche eingesteht, unterdessen nicht zuletzt Papst Franziskus mit der Rede von einer »bereits versöhnten Verschiedenheit« die Gemeinsamkeiten zwischen Katholiken und Protestanten hervorhebt und beide Kirchen das Gedenken gemeinsam als »Christusfest« zu begehen beabsichtigen, was ein katholischer Kirchenkritiker wie Hans Küng begrüßt – zur selben Zeit wehren sich namentlich Protestanten gegen die Verwischung von Unterschieden, als deren Folge die Evangelische Kirche ihre Existenzberechtigung einzubüßen drohe.

Besonders unversöhnlich wird freilich darüber gestritten, ob sich die Kirchen, und namentlich die Evangelische Kirche, mit der Art und Weise ihres Reformationsgedenkens nicht zu sehr der politischen Sphäre anverwandeln und religiös-theologische Gründe für das Reformationsgedächtnis unzulässig in den Hintergrund rücken. Manchen EKD-Repräsentanten interessiert insbesondere die »konstruktive Bedeutung« der Reformation »für das heutige Selbstverständnis nicht nur der Kirchen, sondern auch der Demokratie, der Menschenwürde, der Partizipation«. Dem hält etwa der Luther-Biograf Georg Diez entgegen, dem Reformator seien »weltliche politische Fragen ziemlich egal« gewesen – und »politische Freiheit war nichts, was Luther interessierte«. Dennoch: Wann und, wenn ja, wie sollte Kirche sich in Politik einmischen? Diese Frage stellt sich schon deswegen mit zunehmender Dringlichkeit, weil sich die demokratischen Gemeinwesen in der jüngeren Vergangenheit sukzessive immer weitergehend säkularisiert haben. Eine Diagnose, die im Übrigen nicht nur Deutschland betrifft, sondern zumindest in Westeuropa ganz generell Gültigkeit zu beanspruchen vermag. Wenn aber Kirchen nur noch Durchgangsstationen für Passageriten sind, wenn religiöses Leben und Denken sich kaum noch lebensweltlich abbildet – welche auch politische Interventionsmacht besitzt dann noch »Kirche«?

Eine besondere Relevanz gewinnen dergleichen Überlegungen aktuell noch dadurch, dass die Kirchen in der Bundesrepublik – und wiederum: auch die nationalen Grenzen überschreitend – in den letzten zwei Jahren wie selten zuvor von der Notwendigkeit zur Barmherzigkeit gegenüber Millionen Flüchtenden, die in ganz Europa zum Spielball der Politik geworden sind, herausgefordert wurden. In einer Zeit, in der beide Großkirchen mit der Politik um ihren Begriff von Humanität ringen; in der die Hardliner beider Konfessionen europaweit auf den Straßen gegen die gesellschaftlichen Liberalisierungen der vergangenen Dekaden mobil machen; in der die Großkirchen schrumpfen und Kleinkirchen sowie charismatische Bewegungen weltweit wachsen; in der schließlich das »christliche Abendland« insgesamt als bedroht suggeriert wird – in einer solchen Phase stellen sich die Fragen zur politischen wie gesellschaftlichen Rolle und Stellung der Kirchen mit besonderer Dringlichkeit und Brisanz.

Zur Erhellung des Themas hat sich die vorliegende Ausgabe der INDES nicht allein in der Gegenwart umgesehen, sondern auch nach der Vergangenheit und Zukunft des spannungsreichen Wechselverhältnisses von Kirche und Politik gefragt. Dabei ist vor allem eines deutlich geworden: Das Thema Kirche stellt für alle Autorinnen und Autoren in diesem Heft, für Theologen ebenso wie für Politologen, Historiker und Fachjournalisten, nicht nur einen beliebigen wissenschaftlichen Interessenschwerpunkt dar, einen Forschungspfad, den man irgendwann im Verlauf der eigenen Ausbildung eingeschlagen und sodann beibehalten hat, die eigene Expertise in der Folgezeit nach und nach vervollkommnend. Bemerkenswert – und für uns durchaus überraschend – ist, vielmehr die aus den Beiträgen sprechende Leidenschaft, die auf einer nicht zuletzt persönlichen und emotionalen Involviertheit zu gründen scheint, wodurch diese Ausgabe kontroverser und debattenfreudiger und etwas weniger wissenschaftlich-gediegen geraten ist, als das sonst für gewöhnlich der Fall ist. Ob Kirchen Moralagenturen sein sollen oder auch nur dürfen; ob ihre gesellschaftliche Relevanz weitgehend geschwunden oder ihre Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt nahezu ungebrochen ist; inwiefern sie noch Knotenpunkt lebensweltlich-religiös homogener regionaler Milieus sind; und welcher Art ihre öffentlichen Stellungnahmen angesichts von rechtspopulistischen Wahlerfolgen, grassierender Islamfurcht und wiederkehrenden nichtkirchlichen Beschwörungen eines christlichen Bollwerks Europa sein sollten: Das alles ist aktuell heftig umkämpft.

Die vorliegende Ausgabe der INDES kann auf diese Fragen nur vorläufige Antworten geben, sie kann die Debatten um die wünschbare Gestalt, die Reformfähigkeit und die Zukunftspotenziale der Kirchen allenfalls bereichern, aber nicht abschließen – und will das auch gar nicht. Zu weitergehenden Diskussionen könnte zudem ein Text über die Deutschlandpolitik Russlands in den Anfangsjahren der Hitlerdiktatur anregen, in dem Bernhard H. Bayerlein anhand lange verschlossener, mittlerweile zugänglicher Dokumente aus russischen Archiven belegt, wie wenig die deutschen Antifaschisten im Kampf gegen den Nationalsozialismus auf Stalins Unterstützung hoffen durften. Wir wünschen eine spannende Lektüre.

Seite ausdrucken Download als PDF

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.&1nbsp;-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017