Editorial

Von Felix Butzlaff  /  Katharina Rahlf

Die 1980er Jahre? Im Rückblick wirken die Jahre zwischen der zweiten Öl­krise und der deutschen Wiedervereinigung noch wenig klar charakterisier­bar, jedenfalls deutlich unschärfer als die 1960er und 1970er Jahre. Vielleicht ist dies schlichtweg dem Gang der Dinge geschuldet: Zu Beginn des neuen Jahrtausends rückten, nachdem zuvor das Jahrzehnt der Studentenrevolte im Fokus stand, zunächst die 1970er Jahre in den Blick, schrieben Historiker und Literaten an ihren Einordnungen und Interpretationen.

Nun also, der Logik der endenden Archivsperrfristen folgend, gelangt das Jahrzehnt von Helmut Kohl, Tschernobyl und den Yuppies in den Fokus. Nicht zuletzt auch deswegen, weil das Interesse am retrospektiven Erforschen der Zeitgeschichte von der Zugehörigkeit zu bestimmten Geburtsjahrgängen ge­speist wird. Dem kann sich auch die INDES-Redaktion kaum entziehen: Ein Großteil der Redaktionsmitglieder ist während der 1980er Jahre aufgewachsen oder geboren worden, so dass eine autobiografische Anknüpfung die Neu­gierde weckt. Zumal: Einen Konsens darüber, was die 1980er Jahre denn nun waren, welche Bedeutung sie für uns haben und wie wir sie begreifen kön­nen, gibt es eben noch nicht. Die 1970er Jahre haben mit den Arbeiten von Axel Schildt, Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael, Konrad H. Jarausch und nicht zuletzt Gabriele Metzler Gestalt angenommen, sind plastisch und in ihrer Bedeutung für uns verständlich und fassbar geworden. Ähnliches fehlt – jedenfalls in dieser Ausführlichkeit - für die 1980er bislang noch.

Denn es handelt sich um ein Jahrzehnt, in dem in Deutschland und Eu­ropa viele Entwicklungen erstmals mit Macht und neuer Dynamik an die Oberfläche drängten, die uns gleichwohl bis in die heutigen Tage prägen: von dem Bewusstsein für Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit und der Skepsis gegenüber vermeintlichen Zukunftstechnologien über die (erneuten) Debatten um Frieden und Atomkrieg bis hin zu den »neuen« Diskussionen um Staatsverschuldung und neuliberale Wirtschaftsparadigmen, welche mit den Regierungsübernahmen von Reagan und Thatcher nun auch an der Wahlurne mehrheitsfähig wurden. Zudem aber sowohl gesellschaftlich als auch in der Perspektive der einzelnen Menschen eine Art „neue Globalisie­rung“ und Moderne, von der Andreas Rödder im Gespräch mit uns erzählt.

Die Jahre zwischen der iranischen Revolution und dem Ende des Kal­ten Krieges sind also mitnichten lediglich eine Periode des konservativen Rollbacks, einer Verlängerung der 1970er Jahre oder gar einer vermeintli­chen „geistig-moralischen Wende“ – sondern vielmehr eine Zeit, in der sich das Versanden älterer und die Geburt neuer Entwicklung überschnitten und überkreuzten. Die Analyse eines ganzen Jahrzehnts ist dabei natürlich immer ungemein schwierig zwischen zwei Heftcovern zu kondensieren. Uns treibt die Erkundung eines Zeitgefühls an, wir wollen gewissermaßen ein Dekaden- Kaleidoskop erstellen. Dieser (Retro-)Perspektive, den drängenden Fragen der 1980er Jahre selbst und was davon einerseits prägend blieb, was ande­rerseits klanglos versandete - dem wollen wir uns mit unserem Heft widmen.

Unsere Idee von INDES bringt es dabei mit sich, über die Analyse poli­tischer Großereignisse hinaus sehr vielfältige Ansätze zu versammeln, um ein solches Kaleidoskop in all seinen schimmernden Facetten entstehen zu lassen: Dazu zählen verschiedene wissenschaftliche Blickwinkel und Per­spektiven ebenso wie die Stimmen Beteiligter oder die literarische Reflexion. Einen Anspruch auf systematische und repräsentative Vollständigkeit kann ein solches Vorgehen folglich nicht erheben, möchte es auch gar nicht. Viel­mehr geht es darum, neben dem Einfangen einer Art Jahrzehntegeruches Interessantes, vielleicht Neues und Lesenswertes zu versammeln, das neu­gierig macht - und auch zeigt, wie verwirrend und auch oft widersprüch­lich ein ganzes Jahrzehnt sein kann. Hierzu zählt die ewige Frage nach der Periodisierung, danach, wie lang und von wann bis wann „die Achtziger“ eigentlich waren, ebenso wie die Betrachtung kleiner Details oder interna­tionaler Zusammenhänge.

Mit Andreas Rödder im Gespräch haben wir den Auftakt gemacht, haben uns vorgetastet - wie können wir die 1980er eigentlich fassen und welche Chiffren oder Signets sind möglicherweise charakterisierend? Frank Ueköt­ter betrachtet die „komfortabelste Risikogesellschaft aller Zeiten“ und spürt dem irritierenden „Kontrast zwischen materiellen Segnungen und mentalen Phobien“ nach, welcher so typisch für das Lebensgefühl dieser Dekade war. Ulrike Sterblich hat sich in ihrem Essay ebenfalls in das Lebensgefühl des Jahrzehnts zurückversetzt - aus der Perspektive einer Radiohörerin. Etta Gro­trian zeichnet die Geschichtsdebatten der 1980er nach, Miriam Nandi die fe­ministischen Positionen und Frieder Vogelmann die philophischen Diskurse um Verantwortung. Franz Walter schildert den Weg der Nachwuchsliberalen von der „jugendlichen Radikaldemokratie zum juvenilen Neuliberalismus“; die Wechselfälle eines singulären Protagonisten der 1980er Jahre illustriert Matthias Eckoldt in seinem Porträt Rudolf Bahros. Warum das Starnberger MPI Carl Friedrich von Weizsäckers zur „Erforschung der Lebensbedingun­gen der wissenschaftlich-technischen Welt“ gewissermaßen an der „Ungunst des Augenblicks“ scheiterte, erklärt Ariane Leendertz. Und Nicole Falken­hayner blickt zurück ins Jahr 1989, als die Affäre um Salman Rushdies Ro­man „Die Satanischen Verse“ Großbritannien in Aufruhr versetzte. Jöran Klatt, Jasper A. Friedrich und Fernando Ramos Arenas sowie Matthias Dell schließlich widmen sich den kulturellen Strömungen und Phänomenen des Jahrzehnts: den Cyberpunks, der Musikszene der DDR sowie dem „Yuppie­film“. Norbert Ahrens erklärt als langjähriger Hörfunkkorrespondent in La­teinamerika die Demokratisierungsprozesse und die Überwindung der Mi­litärdiktaturen auf dem Cono Sur.

In den Perspektiven widmet sich Martin Sabrow - passend zum ersten Heft des „Erinnerungsjahres 2014“ dem Paradigma der „Aufarbeitung“. In welcher Beziehung der Militärstratege von Moltke und der Anthroposoph Steiner in den Tagen des Ersten Weltkriegs standen, diese Beziehung por­traitiert Wolfgang Martynkewicz. Hans-Joachim Lang knüpft an die Kontro­verse des vorangegangenen Heftes über die Vergangenheit des Politologen Theodor Eschenburg während der NS-Zeit an und dokumentiert dessen Be­teiligung an der Enteignung Wilhelm Fischbeins. Zudem stellen Christoph Hoeft, Sören Messinger und Jonas Rugenstein die „Viertelgestalterin“ Ayse Massoud vor und präsentieren damit einen Blick in die Studie „Wer organi­siert die ‚Entbehrlichen‘?“.

Die Bebilderung zu diesem Heft lag - wie so oft - in den Händen von Julia Kiegeland. Auch wenn uns das Jahrzehnt noch schwer fassbar, wider­sprüchlich, facettenreich und schwer auf einen Nenner zu bringen scheint: Mit den Porträts von Pierre Littbarski und Joachim Löw sowie der geradezu ikonografischen Aufnahme Martina Navratilovas verbinden wir beim An­blick sofort eines - die 1980er.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014