Burgwedel und Bellevue Freundschaftsbündnisse, öffentliche Skandale und das Amt des Bundespräsidenten

Von Franz Walter

Oft trifft es im Drama der Wirklichkeit die sozialen Aufsteiger. Denn die social climbers haben in ihrem Fortkommen nicht selten das Gefühl, dass ihnen nach all den anstrengenden Wegen nun zusteht, was ihnen von Herkunft her lange vorenthalten, anderen jedoch bereits leistungslos in die Wiege gelegt wurde. Und nicht ganz wenige Politiker, die eine Scheidung hinter sich haben, fühlen sich unter Druck, jenseits von Diäten zusätzliche Einnahmequellen oder wenigstens kleinere geldwerte Erleichterungen zu erschließen. Ein öffentliches Thema ist das eher weniger, aber ein Thema im Leben der Politiker ist es sehr.

Ein Bundespräsident sollte die Reflexion im Innehalten ermöglichen

Die Aufstiegssoziologie hat schon früh festgestellt, dass gerade diejenigen aus den unteren Schichten individuell am weitesten nach oben klettern konnten, die sich ohne viel Aufhebens und ohne innere Sentimentalität von der jeweiligen Vergangenheit zu verabschieden in der Lage waren.[9] Je weniger sie sich von sozialmoralischen Geboten integrieren und einbinden ließen, desto offener bot sich ihnen die Zukunft nach vorn und oben an. Und all das, was für die weitere Strecke nicht taugte, all diejenigen, welche das Tempo nicht mitgehen konnten, wurden entsorgt bzw. zurückgelassen. Aufsteiger wechselten daher in den diversen Abschnitten ihres Karrierewegs nicht ganz selten ihre Ehepartner. Diese müssen zu den sich potenzierenden Ambitionen passen, dürfen nicht Grund für Blamage oder Stagnation sein.

Doch wäre es ganz falsch, das Thema auf eine soziale Gruppe zu beschränken und damit die Politik und ihre Systeme zu entlasten. Politologen pflegen die politische Technik wechselseitiger Unterstützung als »Akkomodierung« zu bezeichnen.[10] Akkomodierung soll heißen, dass sich die handelnden Figuren in Parteien, Verwaltungen und Verbänden über Interessenausgleich und gegenseitig nützliche Tauschvorgänge miteinander vereinbaren. Nicht Konflikt, nicht Wettbewerb, nicht Konkurrenz werden angestrebt, sondern Formen des Übereinkommens durch gütliche Arrangements, gegenseitige Patronage und sicherheitsspendende Versorgung. Bezeichnenderweise treten die Akkomodierer allesamt dezidiert pragmatisch auf. Ideologie, Programm, Weltanschauungen sind ihnen suspekt und zuwider. Akkomodierung funktioniert nur in einem entpolitisierten Raum, wo »geerdete Männer«, die keinen »fixen Ideen« anhängen, sich im informellen »Freundschaftsbündnis« auf »vernünftige Lösungen« für die Kommune, das Bundesland, die Nation verständigen. Dass gerade der Entzug eines ideellen Ethos den Raum zur Selbstbereicherung und zu Vorteilsannahmen öffnen und weiten kann, haben die Akkomodierer nicht präsent. Insofern ist der öffentliche Skandal tatsächlich unverzichtbar, um den Dunkelraum von Protektionen zu durchleuchten und die stillen Einvernehmlichkeiten der oft gerühmten politischen Pragmatiker, zu denen auch der im Juni 2010 gewählte Bundespräsident zuvor als niedersächsischer Landespolitiker unzweifelhaft gehörte, der legitimen Kritik auszusetzen.

Aber kann ein politischer Pragmatiker überhaupt der Richtige für das Amt im Schloss Bellevue sein? Nun, man wird einräumen müssen: Einfach haben es Bundespräsidenten generell nicht mehr. In den 1980er und 1990er Jahren reüssierten sie noch, wenn sie Ruckappelle Richtung Volk sandten und den Machttrieb der Parteien anprangerten. Aber bald trivialisierten sich die ewige Schelte über die Parteienstaatlichkeit und die eifernden »Innovations«-Kampagnen, da die Losungen allgegenwärtig wurden, schließlich in zahllosen Internetforen zu einem gröblich verfassten Dauerschmäh avancierten – und auf diese Weise zunehmend an Wert und Bedeutung einbüßten. Selbst veritable Intellektuelle machten ja zeitgleich diese Erfahrung: Irgendwann in den frühen 1980er Jahren lief ihre stete Pose des »J’accuse« folgenlos ins Nichts. Niemand hörte ihnen dabei mehr zu, keiner ließ sich davon noch mobilisieren.[11] Denn das »J’accuse« war zur seichten Alltagsmelodie verkommen, die bald aus allen Medien Tag für Tag hinausschallte und infolgedessen kräftig an Resonanz und Wirksamkeit verlor. Heute gebe es daher, so spöttisch Eckhard Fuhr, »diesen Typus des Intellektuellen nur noch in der Schrumpfform des Bloggers. Das sind lemurenhafte Kreaturen aus der Internet-Unterwelt, die nie an die frische Luft gehen, dafür aber zu allem eine Meinung haben.«[12]

So muss man wohl als erstes von einem wünschenswerten Kandidaten für Schloss Bellevue erhoffen, dass nicht auch er der virulenten Versuchung erliegen mag, stets ein weiteres Brikett nachzulegen, um das Feuer der Aufmerksamkeit fortwährend zu schüren. Er sollte den extrovertierten Drang einiger vorangegangener Amtsinhaber, durch demonstrative Abfälligkeiten gegenüber dem Alltagsbetrieb der Politik Punkte bei Medien und Volk zu sammeln, vernünftigerweise abbremsen.

Und er könnte so zur gelungenen Verkörperung eines der derzeit umstrittensten, aber wohl weiterhin essenziellen Regelungs- und Manifestationsgedanken der Moderne werden: der Repräsentation. Zur Repräsentation gehört das in hochmobilen Gesellschaften bitter nötige Innehalten. »Der Bundespräsident ist wie kein anderer führender Politiker der ›Politik des Augenblicks‹ enthoben. Mehr als jeder andere kann er sich der Sklaverei der aufgezwungenen Medien-Präsenz entziehen«[13]. Doch muss man dabei auch das beherrschen, was das Innehalten erst veredelt, zumindest legitimiert: die gründliche Reflexion über den Prozess, den man gedanklich unterbricht, um sich über den Charakter und das Ziel des ruhelosen Fortbewegens klar zu werden, dabei zu erwägen, ob die Richtung noch stimmt, ob alle mitkommen, beieinander bleiben. Dem durchschnittlichen Parteipolitiker in seinem Hamsterrad fehlt für solcherlei Rück- und Vorschau Zeit und Muße; ein Bundespräsident aber sollte die Reflexion im Innehalten mit anderen systematisch ermöglichen.

Wahrscheinlich ist es gerade jetzt nötiger denn in allen Jahrzehnten bundesdeutscher Geschichte zuvor. Es ist offensichtlich, dass zum Ende des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert etwas gründlich zu Ende gegangen ist, dass bis dahin gültige gesellschaftliche und ökonomische Axiome zerbrochen sind. Und doch gibt es nirgendwo eine auch nur vage Skizze für die Zeit danach, für den »Postsozialismus«, »Postkapitalismus«, das »Postchristliche«, auch den »Postliberalismus« oder »Postkonservatismus« in den ideell rundum ausgenüchterten europäischen Gesellschaften. Wohl in keiner neuzeitlichen Krise herrschte eine solche Begriffslosigkeit bei der Betrachtung von Zukunft, bei den Erörterungen über das »Danach« wie in der gegenwärtigen. Nochmals: Die im Bundestag vertretenen Parteien, die auf Konflikten basieren, können das Neue strukturell nicht antizipieren. Verantwortlich dafür ist keineswegs die oft gern attestierte Abgehobenheit der Parlamentarier in Deutschland. Im Gegenteil: Der demokratische Rundum-Anspruch auf öffentliche Präsenz und Transparenz der Volksvertreter in Medien und Bürgerberatungen, bei Feuerwehr und Schützenfesten, als aktive Blogger oder Twitterer und dergleichen mehr hat zu einer atemlosen, häufig genug auch sinnlosen Umtriebigkeit geführt, in der stille Orte gründlicher Analyse und weitsichtiger Perspektivbildung sich nicht mehr haben halten können.

Oratorische Fähigkeiten und intellektueller Glanz gelten bei der Kür des ersten Mannes als nachrangige Kriterien

Insofern bildet das durch das Grundgesetz eingeräumte quasi-monarchistische Privileg eines Einzelnen, in der politischen Arena den ruhenden Pol bilden zu dürfen, zwar einen Störfaktor im parlamentarischen Grundgerüst, aber auch eine komplementäre Chance. Repräsentation des Staates und Volksganzen schließen schrille Wechselhaftigkeiten oder erratische Winkelzüge aus. Ein Bundeskanzler wird häufig genug ein Situationist sein müssen, ein Bundespräsident sollte dies tunlichst vermeiden. Mehr noch: Beginnen auch Bundespräsidenten damit, bei jeder Gelegenheit in die Trompete zu blasen, um Aufbrüche anzukündigen, unbekannten Ufern entgegenzustreben und für permanente Neu-Erfindungen der Nation zu plädieren, dann wird man sich nicht grundlos fürchten müssen, dass cäsaristische Absichten dahinterstecken, dass das große Plebiszit des Volkes für den Retter vorne angestrebt wird. Natürlich lauert darin eine Gefahr: Im Zuge stets steigender Verdrossenheitswerte über Parteien und parlamentarische Regierungen mag die Versuchung den sämtlichen alltagspolitischen Niederungen und Zwängen selbst-entrückten Präsidenten zu locken, sich zum Sprecher und auserwählten Organ des Volkswillens zu stilisieren und auf französische Vorbilder zu schielen. Schließlich herrscht sowieso eine Art postmoderne Hindenburg-Stimmung im überkommenen deutschen Bürgertum. »Für das Vaterland beide Hände, aber nichts für die Parteien«, hieß es 1925, als zu Ehren der Hindenburg-Wahl eine Münze geprägt wurde, welche eben diese Aufschrift verpasst bekam.[14] Im Jahr 2012 gilt der Schwur nicht mehr – man ist nunmehr europäisch, wenn nicht gar weltbürgerlich – dem Vaterland, aber an der elitären Verachtung von Parteien, Interessengruppen, vom »Kuhhandel« in jeder Kompromissbildung hat sich bei den »Gebildeten« ebenso wie im »Volk« in Deutschland nichts geändert.

Gerade deshalb hat die bis auf Weiteres schwer ersetzbare parlamentarische Parteiendemokratie einen luziden Deuter und geduldigen Erklärer ihres komplizierten Mechanismus nötig. Was die hektische Tagespolitik und die über Dauerstress klagende Zivilgesellschaft nicht zu leisten im Stande ist, könnte ein Bundespräsident darüber hinaus konstituieren und absichern: Runden der Refexion, die nicht im Scheinwerferlicht stehen und durch Termindruck belastet sind, mit kundigen Repräsentanten ihrer Lebenswelten, wozu auch solche gehören, die seit Jahren sozial exkludiert sind, es aber nicht sein wollen und die auf das präsidiale Integrationsgebot Hoffnung setzen dürfen. Hieraus Ideen und Impulse zäh, geduldig, listig und dabei doch loyal in das parteienstaatliche und parlamentarische Getriebe hineinzuschleusen, wäre eine Aufgabe für einen Präsidenten mit institutioneller Erfahrung und intellektueller Neugierde gleichermaßen. Vermutlich wäre dafür der Typus des eigensinnigen und unkorrumpierbaren professionellen Politikers mit festen Wurzeln in einer von der Politik unabhängigen Eigenständigkeit besser geeignet als die stets allseits gepriesenen und postulierten »Enthobenen vom Parteiengezänk«. Denn diese heben sich dann in der Tat gerne vom Parteienstreit ab, mehren dadurch auch ihre eigene Popularität, aber ihre Reden bleiben letztlich stets deklamatorisch, sind Aufreger für zwei Tage und verpuffen ohne gravierende Folgen. Inspirierende Integration – die Kernaufgabe eines Bundespräsidenten – indes benötigt Zielstrebigkeit, Dauer, Raffinesse und institutionelle wie personale Träger. Über einige Sekundärtugenden dieser Art verfügen auch die ausschließlichen Laufbahnpolitiker; aber ihnen fehlen in aller Regel die innere Unabhängigkeit, die intellektuelle Weite, Eindringlichkeit und Courage, die Freiheit von den alten Bindungen und Gruppenerwartungen. Die Eigenständigen innerhalb der politischen Professionalität sind für diese genuin präsidiale Aufgabe am Ende doch stärker gerüstet als Außenseiter diesseits davon oder abhängige Insider aus der Mitte des Geschäfts.

Nur: Besonders viele Exemplare eigenwilliger Originalität innerhalb desprofessionellen Politikbetriebes gibt es nicht mehr. Gerade im bürgerlichen Lager ist dieser Typus, der in früheren Jahrzehnten besonders bei den Honoratioren weit verbreitet war, rar geworden. Auf Anhieb jedenfalls fällt einem niemand ein, der einen intellektuellen Kontrast oder komplementären Ausgleich zur narrationsarmen Kanzlerschaft von Angela Merkel bilden könnte. Und: Selbst wenn es ihn oder sie gäbe, würde die Bundeskanzlerin ihn oder sie überhaupt wollen, nach vorn rücken, sodann ertragen? In kaum noch einer anderen politischen Frage ist das Gewicht der Parteien so groß wie in der Vorauswahl der Kandidaten für das Bundespräsidialamt. Hier verfügen sie während einiger Wochen über die Souveränität, die ihnen sonst nur noch höchst selten zukommt. Daher sind die Strategen der Parteien in ihrem Element, wenn sie nach einer Figur für Bellevue fahnden, die koalitionspolitisch passt und weitere Bündnismöglichkeiten nach Ablauf der Bundestagswahlen nicht versperrt. Oratorische Fähigkeiten, intellektueller Glanz, Problemsensibilitäten gelten bei der Kür des ersten Mannes als nachrangige Kriterien. Doch in der Amtszeit kommt es dann ausschlaggebend auf diese Begabungen und Fertigkeiten an, die im Auswahlprozess ausgeblendet werden. Und so kumulieren sich seit einiger Zeit die Autoritätskrisen im Amt des Bundespräsidenten der deutschen Republik.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Vincenz Leuschner »Politische Freundschaften« – Informelle, persönliche Beziehungen politischer Führungsgruppen zwischen privater und öffentlicher Sphäre, URL: http://www.oegpw.at/tagung06/papers/ak2_leuschner.pdf [eingesehen am 22.10.2011].

[2] Ders., Geben und Nehmen. Die informelle Struktur politischer Freundschaften, in: Polar#5, URL: http://www.polar-zeitschrift.de/polar_ 05.php?id=237 [eingesehen am 22.10.2011].

[3] Vgl. Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 2002, S. 11 ff.

[4] Vgl. Hans Leyendecker, Eine kleine Skandalkunde aus Sicht eines Journalisten, in: Stiftung Haus der Geschichte (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bielefeld 2007, S. 194–199.

[5] Vgl. Heinz Bude, Typen von Skandalpolitikern, in: Rolf Ebbinghausen u. Sighard Neckel (Hg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 1989, S. 396–411.

[6] Auch Sighard Neckel, Die Wirkung politischer Skandale, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 7/1990, S. 3–10, hier S. 7.

[7] Vgl. hierzu Steffen Burkhard, Medienskandal. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006, S. 178 ff.

[8] Vgl. auch Frank Bösch, Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 7/2006, S. 25–32, hier S. 26.

[9] Vgl. W. Lloyd Warner u.James C. Abegglen, Karriere in der Wirtschaft. Eine Untersuchung über die Erfolgreichen, Düsseldorf 1957, S. 127.

[10] Vgl. am Beispiel von Nordrhein-Westfalen sehr interessant Guido Hitze, Die Parteien und das Land: Der Mythos vom sozialdemokratischen Stammland NRW, in: Jürgen Brautmeier u. Ulrich Heinemann (Hg.), Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre Nordrhein-Westfalen, Essen 2007, S. 153–171, hier S. 168.

[11] Gert Kaiser, Das Schweigen der Intellektuellen, in: Der Tagesspiegel, 23.06.2000.

[12] Eckhard Fuhr, Wo sind die Intellektuellen?, in: Die Welt, 16.01.2009.

[13] Wolfgang Jäger, Die Bundespräsidenten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 16–17/1989, S. 33–47, hier S. 47.

[14] Vgl. Christian Graf von Krokkow u. Peter Lösche, Parteien in der Krise, München 1986, S. 7.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2012| © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012