Die Revolution, dieses Rhizom Von Trotzkis Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung bis zum postmodernen Wissen

Von Robert Misik

Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil Mandel und seine Mitstreiter in der Vierten Internationale eine Theorie aufstellten – wenn es denn eigentlich überhaupt eine Theorie war. Jedenfalls haben wir es Theorie genannt, weil wir damals alles gern eine Theorie nannten; das klang irgendwie großtuerischer. Und diese Theorie nannte sich die »Theorie von der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung«. Eigentlich kommt sie ja von Trotzki her, der in der »Permanenten Revolution« diese Theorie sogar ein »Gesetz« nannte. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach: Sie besagt, dass die Welt vernetzt ist, im Großen global und grenzübergreifend, aber auch im Kleinen, die einzelnen Gesellschaften in sich; dass an dem einen Punkt das eine geschieht, an einem anderen Punkt das Gegenteil – wobei sich all das in der realen Welt beeinflusst, teilweise verstärkt, teilweise auch wechselseitig blockiert. Und dass man ebendiese Vektoren und Kräfteparallelogramme genau studieren muss in der wirklichen Welt, weil keine Gesellschaft einfach die Entwicklungsdynamik anderer Gesellschaften kopieren wird. Und so weiter. Man kann dieses Gesetz natürlich auch so formulieren: Alles ist irgendwie kompliziert – und alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Aber das klänge natürlich weniger gelehrt.

Da gab es die Demokratiebewegungen im Osten und zugleich die antikolonialen Revolutionen in der Dritten Welt und obendrein die Erschöpfung der Sozialdemokratien in Westeuropa und dazu noch einmal die Thatcher- und Reagan-Revolution im angloamerikanischen Raum; spontane Arbeitskämpfe, aber zugleich den Gewichtsverlust der Gewerkschaften. Nichts folgte einer rein linearen Logik, alles war gewissermaßen mit Fußnoten versehen. Wahrscheinlich hat mich das verdammt geprägt. Den Mandel’schen franko-deutschen Sound von der »Tseorie der ungläichzeitigen …«: Den hab ich nicht mehr aus dem Ohr verloren.

Ich muss, wenn ich mich heute zurückerinnere, daran denken, dass andernorts zugleich ein Denken an Boden gewann, das wir damals natürlich überhaupt nicht wahrnahmen, das aber auf andere Weise eine ähnliche Spur aufnahm: nämlich der ins Postmodern-Spekulative gewendete Post-Strukturalismus. Für uns war das damals nur konterrevolutionäre Entpolitisierung, der Abschied rebellischer Intellektueller von der Rebellion. Aber so einfach war das natürlich nicht, wie wir heute alle wissen.

Nehmen wir nur die postmoderne Theorie des Wissens: Das postmoderne Wissen zerstört ja nicht nur Wissen und die überkommene Idee der Wirklichkeit, sondern etabliert ein neues, das für das zeitgenössische Verständnis der Wirklichkeit prägend wird. Wissen entwickle sich nicht linear, sondern als »Wurzelwerk«, als »Rhizom«, schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem bahnbrechenden Konvolut »Tausend Plateaus«. Es entfalte sich in horizontalen Netzwerken ohne Zentrum: »Ein Rhizom kann an jeder Stelle unterbrochen oder zerrissen werden, es setzt sich an seinen eigenen oder an anderen Linien weiter fort. Man kann mit Ameisen nicht fertigwerden, weil sie ein Tier-Rhizom bilden.«

Wie im Gehirn die Neuronen mit ihren synaptischen Verschaltungen, so sind auch moderne Gesellschaften und Wissenskulturen eher wie Wurzelbüschel zu denken, die Plateaus verbinden. Das Wissen baut nicht auf, sondern verknotet sich, fällt sich ins Wort. Die Sprache gibt uns gar nicht die Möglichkeit, das richtig darzustellen, weil sie aus Gründen der Darstellbarkeit, Konvention und Bequemlichkeit dazu verleitet – nein: regelrecht dazu zwingt –, eines nach dem anderen abzuhandeln, ebenso wie man Bücher, die einer linearen Logik folgen und Seite für Seite von einem zum nächsten kommen, von vorne bis hinten weiterblättert.

Aber weder die Geschichte noch die Schichten an Wissen funktionieren wie ein Buch, bei dem Seite für Seite umgeblättert wird – sie wirken gleichzeitig aufeinander ein, die Seiten kleben aufeinander, sie bilden Eselsohren und werden vollgestopft mit Post-Its auf denen wie auf Pop-up-Büchern die jeweiligen Assoziationen Platz finden, die sich auf das beziehen, was auf dieser Seite steht.

»Ideal für ein Buch wäre, alles […] auf einer einzigen Seite, auf ein und derselben Fläche auszubreiten. […] Ein Rhizom verbindet unaufhörlich semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kämpfen.« Autoren wie Deleuze und Guattari revolutionieren nicht nur das Wissen, sondern versuchen konsequent, auch die Darstellungsweise von Wissen zu revolutionieren.

In einer bemerkenswerten Volte, an der freilich nichts Mysteriöses ist, wurden dieselben Theorien, die in den 1980er Jahren den Soundtrack zur Entpolitisierung der ermüdeten Siebziger-Jahre-Linken lieferten, zwanzig Jahre später zu Ideenlieferanten für eine neue Politisierung junger Aktivisten, aber auch von Künstlern, Globalisierungskritikern und anderen. Widerständige, minoritäre Praxen von Marginalisierten, Initiativen und Refugees, von Bewegungen, die flüchtig sind, sich aber stets neu gruppieren, die keine Masse oder keine Partei bilden, in denen die Einzelnen aufgehen, sondern als flexible Bündnisse von Singularitäten vorgestellt werden, erschienen plötzlich als Königsweg zu einer Repolitisierung – das Echo etwa von Lyotards »Patchwork der Minderheiten« ist dabei ebenso unüberhörbar wie Deleuzes und Guattaris Vernetzungslogik.

Dass vom »System Politik« mit seinen verknöcherten Organisationen – wie Parteien, Gewerkschaften, Parlamenten und Ähnlichem – keine Rettung zu erwarten, stattdessen die Hoffnung auf Basisbewegungen, Aktivismus, Nichtregierungsorganisationen zu legen ist, das ist für viele Linke heute Common Sense; ebenso, dass das Anderssein des Anderen, also die Differenz, zu achten ist und alle Versuche zur Vereinheitlichung vermieden werden müssen.

Dass die Marginalisierten für sich selbst sprechen sollen, dass auf diese Weise Passivität überwunden werden und zu Aktivierung beigetragen werden kann: All das gehört heute bei linken Tischgesprächen zum guten Ton. Und natürlich auch ein paar andere Standards des postmodernen Wissens: etwa dass Sprache Wirklichkeit konstitutiert (»Wer das Binnen-I nicht benützt, der stabilisiert den Sexismus.«) und schon die Wortwahl Hierarchisierungen sowie die herrschende Ordnung festigen kann. Dass es so etwas wie Wahrheit nicht gibt, jedes Agieren vielmehr immer auch ein Spiel mit Zeichen und das sogenannte Reale eine »symbolische Ordnung« ist: Das alles ist tief in den linken Instinktfundus hinabgesunken, was sich, beispielsweise, wiederum in der Sprache selbst niederschlägt (»Wir müssen ein Zeichen setzen, und sei es nur symbolisch.«).

Dass Demonstrationen selten auf faktische Weise eine Änderung dessen erzwingen, wogegen demonstriert wird, sie aber selbst Bilder und Zeichen produzieren – also zuallererst auf der Ebene der symbolischen Ordnung der Zeichen agieren –, ist jedem instinktiv klar, der an ihnen teilnimmt; ebenso, dass faktischer Erfolg dann wahrscheinlicher ist, wenn diesem ein Erfolg auf der Ebene des Zeichenhaften vorausgeht. Selbst die platteste Medienkritik kommt heute nicht ohne ein paar Versatzstücke über die »mediale Konstruktion von Wirklichkeit« aus, und jeder Spin-Doctor im Dienste eines Ministers oder einer Premierministerin weiß dazu spontan etwas zu sagen.

Das postmoderne Wissen ist eines, das heute die meisten irgendwie haben, ein Wissen, das sich nicht mehr vergessen lässt. Für so ziemlich jedes zeitgenössisch-moderne Individuum gilt: Wir sind alle postmoderner, als wir glauben würden.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Sonderheft-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016