Rechtssetzung und Rechtsanwendung Notwendige Ungleichzeitigkeit

Von Christian Starck

I. Neue Fragestellung

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – das ist die Thematik dieses Sonderheftes. Von Ernst Bloch 1932 in die Welt gesetzt,[1] um zu erklären, dass nicht alle im Jetzt angekommen und andere aufgrund von Utopien zumindest gedanklich schon weiter sind. Der Bloch’sche Gedanke ist mehrfach aufgegriffen worden und er hat die Sozialgeschichte (Koselleck) und die Soziologie (Luhmann) beeinflusst. In diese Diskussion will ich mich als Jurist nicht einmischen. Meine erste Assoziation führt mich zu dem berühmten Goethe-Zitat aus »Faust I« (1973–1979):

»Es erben sich Gesetz und Recht
wie eine ew’ge Krankheit fort,
sie schleppen vom Geschlecht sich zum Geschlechte
und rücken sacht von Ort und Ort
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh Dir, dass Du ein Enkel bist?
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
von dem ist leider! nie die Frage.«

In Albrecht Schönes Kommentar[2] wird zur Erklärung dieser Stelle auf die Ausbreitung des Römischen Rechts und auf schlechte Straßburger Erfahrungen Goethes mit der Auslegung von Recht und dem Gerichtsgebrauch hingewiesen. Gegen das positive Gesetzesrecht werde das Naturrecht wegen seines revolutionären Impulses propagiert. Man sollte bei der Würdigung dieser viel zitierten Stelle freilich berücksichtigen, dass sie Mephistopheles, einem Teufel, in den Mund gelegt wird, dem »Geist, der stets verneint« (1338).[3]

Das »Faust«-Zitat, gerne zur Kritik des Rechts zitiert, wirft allgemein Fragen des Verhältnisses von Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Zeitverlauf auf. Darüber möchte ich einige Gedanken äußern, welche die Rechtswissenschaft und die Rechtspraxis elementar betreffen. […]

Anmerkungen:

[1] Vgl. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik [1932], in: Ders., Erbschaft dieser Zeit [1935], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1962.

[2] Vgl. Albrecht Schöne, Johann Wolfgang Goethe, Faust, Kommentar, Frankfurt a. M. 1994, S. 271.

[3] Ebd., S. 251.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Sonderheft-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016