Hologrammatische Formel Probleme beim Uhrenvergleich

Von Wilfried von Bredow

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist das Normale. Es besteht kein Anlass, sie zu dramatisieren oder zu harmonisieren. Allerdings fällt mit dieser These auch die eigentümliche intellektuelle Aura, die sich um diese Formel gebildet hat, weitgehend in sich zusammen. Man trifft ja in den politischen Kulturdiskursen, also solchen mit zeitdiagnostischen bis welterklärenden Absichten, gar nicht so selten auf Metaphern, Formeln oder Bilder, deren sprachliche Form offenbar nicht nur wegen ihrer charismatischen Plausibilität oder (anfangs) ungewohnt anregenden Einbildungskraft auf so große Resonanz stößt. Irgendwann bekommen sie dann eine Art VIP-Sternchen (very important paradigm) und gelten als eine Art Passwort für den Zugang zur höheren Weihe der sophistication. Die »Argumentation« hat es auf die Höhe der Zeit geschafft. Schon seit bald drei Generationen schmückt so Walter Benjamins messianisch-kryptischer Engel der Geschichte unverdrossen Erzählungen vom Trümmerhaufen der Vergangenheit und vom Sturm des Fortschritts und drückt avancierte Intellektualität aus. Manchmal schlägt dieser Mechanismus aber auch um; dann wird solch eine Formel an den Marterpfahl gebunden, und wer will, kann mit seinen semantischen Pfeilen ein paar Zielübungen absolvieren. So erging es etwa vor knapp einer Generation nicht ohne Grund dem neo-hegelianischen Ende der Geschichte. Wann die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in politischen und kulturellen Diskursen zum ersten Mal aufgetaucht ist, lässt sich nicht genau festlegen. Etwas respektlos spricht Karlheinz A. Geißler von dem »Ernst Bloch zugeschriebenen Wanderzitat«[1]. Gewandert ist diese Formel in der Tat in viele Richtungen. Oft bezieht sich, wer sie für eigene Zwecke verwendet, auf Blochs »Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik«[2] aus dem Jahr 1932, wo sie zur Erklärung der Anziehungskraft des Nationalsozialismus auf die damalige deutsche Gesellschaft dient. […]

Anmerkungen:

[1] Karlheinz A. Geißler, Alles hat seine Zeit, nur ich habe keine. Wege in eine neue Zeitkultur, München 2011, S. 23.

[2] Vgl. Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik [1932], in: Ders., Erbschaft dieser Zeit [1935], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1962.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Sonderheft-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016