»Die Bundesrepublik ist eine ahistorische Veranstaltung« Ein Gespräch mit Wolfgang Krieger über die Geschichte der Geheimdienste, die Wurzeln des BND und die Tücken ihrer Erforschung.

Interview mit Wolfgang Krieger

Herr Professor Krieger, Sie haben in der Vergangenheit, etwa anlässlich der NSA-Affäre 2013 und der Wikileaks-Enthüllungen über CIA-Spionageaktivitäten vor zwei Jahren, häufig vor einem allzu moralisierenden Umgang der politischen Öffentlichkeit mit der Geheimdienstarbeit gewarnt. Würden Sie sagen, dass diese Neigung zur Moralisierung ein Spezifikum der deutschen Debatte ist?

Absolut. Vor allem bei den Medien, aber auch anderen Personen, die sich damit intensiver beschäftigen. Es gibt natürlich ein paar Ausnahmen, z. B. den Forschungsbereich im Stasi-Unterlagen-Archiv. Da sind sehr gute Arbeiten gemacht worden. Aber diese sind spezialisiert auf die DDR und die Stasi – viel weiter blicken sie nicht, die sehen nicht einmal die anderen kommunistischen Staaten. Nur in die Stasi-Akten zu schauen, ist aber eigentlich nicht zulässig, denn die Stasi ist ja nichts anderes als ein reduzierter Klon der sowjetischen Staatssicherheit, in jeder Hinsicht und in völliger Abhängigkeit, bis zum Schluss.

Worauf führen Sie die Tendenz zur Moralisierung im Zusammenhang mit Geheimdienstaktivitäten zurück?

Weitverbreitet ist die Auffassung, dass dies vor allem auf die traumatisierenden Erfahrungen mit den beiden deutschen Diktaturen zurückzuführen ist und auf die bedeutende Rolle, die die Gestapo und das MfS bei der Stabilisierung dieser Regime gespielt haben. Ich finde diese These allerdings nicht plausibel, denn die meisten Menschen beschäftigen sich überhaupt nicht mit der Gestapo, haben keine Ahnung davon und von der DDR-Staatssicherheit ebenso wenig. Es steckt etwas anderes dahinter, aber um das zu verstehen, muss man den historischen Zusammenhang herstellen. Spionage galt bis zum Zweiten Weltkrieg als etwas Schlechtes, Böses, Schmutziges. Niemand wollte etwas damit zu tun haben. Dennoch wurde Spionage natürlich ebenso betrieben, wie sie geleugnet wurde. Spionage, so der seinerzeitige Duktus, das macht nur der »böse Nachbar«. Und dann kam der Zweite Weltkrieg, in dem Geheimdienste eingesetzt wurden zur Unterstützung der Befreiungsbewegungen in den von Deutschland besetzten Ländern: Niederlande, Belgien, Frankreich, Italien. Die verschiedenen Widerstandsgruppen wurden durch angloamerikanische Geheimdienste unterstützt. Dadurch wechselten die Geheimdienste nun auf die gute Seite, schließlich kämpften sie für die Freiheit, für den Erhalt oder die Wiederherstellung der Demokratie. Das ist ein interessanter Vorgang. Die Geheimdienste verwandeln sich im Kampf gegen Hitler mit einem Schlag von einer unanständigen Agentur zu einem Akteur der nationalen Befreiungsgeschichte. Sie werden zu einem Teil der Demokratiegeschichte. Zu Ende gedacht heißt das, die Demokratie kann nur überleben bzw. verteidigt werden, weil die Geheimdienste ihren Anteil daran haben. Über diese Erzählung werden die Geheimdienste in der angelsächsischen Welt zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Demokratieverteidigung und entsprechen damit in etwa dem, was wir im Deutschen die »wehrhafte Demokratie« nennen. Damit entsteht ein neues, wirksames Narrativ: Geheimdienste sind erforderlich, um die Freiheit zu schützen. Dieses Narrativ zieht sich durch bis zum heutigen Tag, etwa wenn es um die Bekämpfung des Islamismus geht. Wenn Sie an Präsident Obama denken oder auch an Donald Trump heute: Es klingt immer durch, es brauche die Geheimdienste und deren Aktivitäten, bis hin etwa auch zu gezielten Tötungen – die übrigens nicht immer von den Geheimdiensten ausgeführt werden, sondern zumeist vom Militär. Es brauche die Geheimdienste aber auch, um die eigene Freiheit, die eigene Demokratie zu verteidigen. Das ist eine Aussage, zu der die Deutschen nie finden würden – sie hätten zumindest große Schwierigkeiten damit. Weil sie diese dramatische Wende – ich nenne sie die »heroische Wende« – des Zweiten Weltkriegs nicht mitgemacht haben. Dieses Narrativ existiert also auf der deutschen Seite nicht. Und auch die sechzig oder siebzig Jahre Demokratieerfahrung seit 1945 haben offensichtlich nicht ausgereicht, um das zu verändern.

Und das hat sich auch nicht verändert durch die Tatsache, dass gerade das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ja durchaus Erfolge hatte bei der Aufdeckung von islamistischen Anschlagsplänen?

Darauf werde ich nie angesprochen. Ich werde immer angesprochen auf die Fehlleistungen, die Versäumnisse bei der Aufdeckung der NSU-Verbrechen oder auf Anschläge, die man hätte verhindern müssen. Die Erfolge kommen selten zur Sprache. Das hat natürlich einen systemischen Grund: Weil Geheimdienste ihre technischen Zugänge und Quellen nicht gefährden oder verbrennen wollen, können sie ihre Erfolge nicht so einfach offenlegen. Das ist ein Problem. Das erklärt die seltenen, dafür groß und fast schon feierlich zur Schau gestellten Erfolge, etwa die Tötung von Osama Bin Laden oder jüngst der Tod Abu Bakr al-Baghdadis. Es ist eigentlich etwas Ungewöhnliches, dass solche Vorgänge öffentlich werden; dass nachzuverfolgen ist, wie Kommandotruppen dort mit Hubschrauber eingeflogen sind, sogar mit Kameras ausgerüstet. Natürlich kennen wir nicht die ganze Geschichte, aber dennoch ist das neu, wenngleich erklärbar: In der Mediendemokratie werden solche vorzeigbaren Triumphe und Erfolge honoriert.

Der Begriff der Spionage ist im öffentlichen Bewusstsein sehr stark von den Geheimdienstpraktiken während des Kalten Krieges und von deren literarischer Verarbeitung geprägt. Dabei ist die Spionage eigentlich schon sehr viel älter.

Richtig, wir können Spionageaktivitäten in schriftlichen Dokumenten ungefähr 3500 Jahre zurückverfolgen. Bei den ägyptischen Pharaonen finden sich die ersten schriftlichen Niederschläge, von denen wir sagen können: Was sie dort tun, ist Spionage. Nun gibt es aber Geheimdienste, wie wir sie heute kennen, gerade erst – und teilweise noch nicht einmal – seit einhundert Jahren. Wie lässt sich diese Entwicklung begrifflich erfassen? Ich habe den Vorschlag gemacht, zu trennen zwischen dem Geheimdienst als bürokratischer Organisation modernen Zuschnitts und der geheimdienstlichen Tätigkeit, der Spionage. Letztere hat es immer schon gegeben und sie hat sich in drei Bereichen entwickelt, die noch heute eine Rolle spielen: Der erste Bereich umfasst die Gegner des Regimes. Das können Gegner im Innern des Landes sein, das können Minoritäten oder Dissidenten sein, es können aber auch von außen her operierende Gegner, Regimegegner, sein. Der zweite Bereich ist der militärische, er betrifft die Kriegführung. Es lässt sich kein Krieg führen, ohne zu wissen, wo der Gegner steht, mit wie vielen Kämpfern und wie er bewaffnet ist. Diese taktische Militäraufklärung hat es immer schon gegeben, darunter Klassiker wie die Kriegsgefangenen- oder Flüchtlingsbefragung. Auch heute befragen wir etwa die Flüchtlinge, die aus Syrien kommen, ebenso wie Kriegsgefangene. Der dritte Bereich ist die Absicherung des Herrschaftsapparates. Hier geht es darum, festzustellen, ob der Herrscher – ein Fürst, Pharao, König oder moderner Regierungschef – von loyalem Personal umgeben ist. Wenn er das nicht ist, kann er keine Politik machen. Die Loyalitätsprüfung des Staatspersonals ist also absolut wichtig. Diese drei Felder existieren, wenn auch in etwas gewandelter Form, auch heute noch. Wie aber passiert Spionage, wenn es keine Geheimdienste gibt? Die Antwort lautet: Sie ist versteckt in den verschiedenen Teilen des Herrschafts- oder Staatsapparates, in der näheren Umgebung des Herrschers. Bei den Fürsten war meist ein Familienangehöriger der Geheimdienstchef – um einmal die moderne Begrifflichkeit zu verwenden –, weil auf der Basis von familiären Bindungen ein höheres Maß an Loyalität vorausgesetzt werden kann. In der Diplomatie, die sich im Mittelalter entwickelt, sind die meisten Diplomaten im Nebengeschäft Spionagechefs. Sie haben ihre Spitzel, die ausgeschickt werden, etwa in die Hauptstadt eines benachbarten Fürsten – heute würden wir von Botschaften sprechen. Dort fangen sie an, ihre Netze aufzubauen, sich weitere Spitzel zu organisieren, sie zu bezahlen usw. Die Spionage ist also mit der Diplomatie verwoben. Erst im 20. Jahrhundert wird ein Stück weit getrennt zwischen geheimdienstlicher Arbeit – in der Diplomatie sind natürlich die Auslandsgeheimdienste gemeint – und klassischer Diplomatie, also verhandeln, Verträge entwerfen und dergleichen. Eine völlige Trennung gibt es aber selbst heute nicht überall. Der britische Außenminister ist gleichzeitig der Chef des britischen Auslandsnachrichtendienstes MI6. Dieser hat natürlich einen Direktor, doch der politisch Verantwortliche ist der Außenminister. Dort hat man also noch diese unmittelbare Verbindung von Diplomatie und geheimdienstlicher Tätigkeit. Ich will damit sagen: Die grundlegende Bedeutung der Spionage für den modernen Staat entwickelt sich sehr früh und bleibt mehr oder weniger die gleiche.

Und was verändert sich durch die Institutionalisierung der Spionage durch Geheimdienste?

Das Problem war lange, dass es keine Kontinuität, also relativ wenig Lerneffekte gab. Wenn wir einmal annehmen, ein Botschafter oder ein Militärführer hat ein gut funktionierendes Spitzelnetzwerk, dann fällt dieses Spitzelnetzwerk in den meisten Fällen wieder auseinander, wenn er in Pension geht oder stirbt. Sein Nachfolger muss wieder von vorne anfangen. Dann aber kommt die Bürokratie, der Apparat. Man sammelt Informationen im Apparat, mit Karteikarten oder Journalen, sodass sich der Nachfolger informieren kann, was vorher gelaufen ist. Er kann also vom aufgesammelten Wissen profitieren. Das ist etwas, das die Diplomatie seit jeher macht. Berichte, Verträge und dergleichen werden dort schon immer in gut gesicherten Archiven aufgehoben. Die modernen Staaten machen das in etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, angefangen mit Österreich, das ein sogenanntes Evidenzbüro im Militärapparat aufbaut, wo nicht nur militärische Informationen gesammelt werden, sondern auch solche über Minoritäten im Habsburger Reich, über verschiedene Eliten usw. Andere kommen dann sehr viel später. Die Deutschen bauen in ihrem Großen Generalstab ab 1889 eine eigene Abteilung auf, die sogenannte IIIB. Mit zunächst wenig Personal fangen sie an, Informationen systematisch zu sammeln und an die jeweiligen Amtsnachfolger weiterzugeben. Die Briten gründen 1909 ihre Inlands- und Auslandsdienste, die es beide heute noch gibt. Die CIA wird erst 1947 gegründet, ist aber beileibe nicht der erste US-Geheimdienst. Der Institutionalisierungsprozess vollzieht sich also erst spät, verglichen mit der Spionage als Staatstätigkeit. Hier spielt der Erste Weltkrieg eine große Rolle, denn hier erleben wir einen absoluten Einschnitt: Zum ersten Mal werden Tausende von Personen in diesem Beschaffungs- und Verarbeitungsprozess eingesetzt. Das hängt vor allem mit technischen Entwicklungen zusammen, denn hier beginnt das Abhören von Telegrafen- und Telefonleitungen sowie von Funkverkehr. Die Kriegsflotten der großen Mächte werden auf Funkverkehr umgestellt – das betrifft den Funkverkehr der Schiffe untereinander wie auch die Operationszentrale zu Hause. Dieser Funkverkehr kann abgehört werden – und damit beginnt das große Wettrennen um die Verschlüsselung. Im Ersten Weltkrieg werden also die zuvor sehr marginalen Geheimdienststrukturen plötzlich aufgebläht und Tausende von Leuten rekrutiert, übrigens hauptsächlich Frauen, weil die Männer an der Front gebraucht werden.

Kriege waren also ein Motor der Intensivierung und Professionalisierung von Geheimdienstaktivitäten?

Ja, aber sie haben nur etwas bereits Existierendes groß aufgeblasen. Der eigentliche Treiber ist die Technologie. Jedes Mal, wenn es irgendeine Information zu beschaffen oder einen Übertragungsweg anzuzapfen gibt, geschieht Spionage. Und jedes Mal, wenn neue Übertragungswege gefunden werden – in unserer Zeit Mobiltelefonie und Internet –, wird angezapft, mitgelesen, mitgehört, mitgeguckt. Nach dem Ersten Weltkrieg passiert aber etwas Bemerkenswertes. Die Riesenapparate werden plötzlich wieder auf ein sehr kleines Maß zusammengeschrumpft – mit Ausnahme der Sowjetunion. Die neuen Kremlherren erfinden jetzt etwas ganz Neues, nämlich den Einsatz von Geheimdiensten für die totalitäre Kontrolle. Damit entstehen neuartige Geheimdienste, die nicht nur Informationen beschaffen, sondern auch repressiv tätig sind. Es werden also Informationen auch erfunden, Personen beschuldigt für Dinge, die sie gar nicht getan haben. Und es gibt eine Verquickung von Geheimdienst, Polizei und Justiz. Diese drei unter einem Dach zu vereinen, das ist das Instrument, das den totalitären Staat überhaupt erst ermöglicht. Meist gestaltet es sich so, dass der Geheimdienst eine exekutive Befugnis hat, also Leute verhaften kann – wie auch die Staatssicherheit der DDR. Die Justiz bleibt hier meist ein bisschen außerhalb. Dem Schein nach hat sie noch eine gewisse Autonomie, de facto aber nicht mehr. Kein Richter kann jetzt noch ein abweichendes Urteil fällen. Während also die demokratischen Staaten ihre Geheimdienste nach 1919 abrüsten, baut die Sowjetunion sie aus, andere totalitäre Regime folgen. Und dann kommt der Zweite Weltkrieg, in dem sich praktisch das wiederholt, was im Ersten Weltkrieg passiert: der Aufbau riesiger Organisationen. Rekrutiert werden, weil es kein geschultes Personal gibt, Leute aus den Colleges und Schulen – und auch hier wieder zu einem erheblichen Teil Frauen. Nach 1945 passiert jedoch etwas anderes als 1919: Die Geheimdienste werden, wenn überhaupt, nur geringfügig geschrumpft. Die amerikanischen, britischen, französischen, auch die sowjetischen Armeen werden sehr stark verkleinert, die Geheimdienste aber nicht oder jedenfalls viel weniger.

Warum nicht?

Da durch die nukleare Abschreckung weder die Kernwaffen noch die großen Armeen einsetzbar sind, jedenfalls nicht in der Auseinandersetzung zwischen den Großmächten, wird der Kalte Krieg zu einem erheblichen Teil mithilfe der Geheimdienste geführt. Damit kommt den Geheimdiensten im Kalten Krieg eine ganz neue, nämlich pseudomilitärische Aufgabe zu. Sie operieren anstelle des Militärs. Sie werden in den klassischen Zonen des Kalten Krieges, aber auch in der Dritten Welt, eingesetzt, um eigene Einflussmöglichkeiten zu erweitern oder die Einflussmöglichkeiten des jeweils anderen zurückzudrängen. Nach dem Kalten Krieg gibt es heute zwar die große Konfrontation zwischen Ost und West nicht mehr, die Geheimdienste aber sind immer noch groß. Ursprünglich sollten sie 1990/91 sehr stark eingedampft, in manchen Fällen sogar abgeschafft werden. Es gab etwa Anträge von den Grünen, den BND abzuschaffen und in den USA gab es solche Anträge für die CIA. Das passierte aber nie. Und dann kommen zwei völlig neue Themen auf: der islamistische Terrorismus durch 9/11 sowie die Digitalisierung und mit ihr die Datenökonomie. Dadurch eröffnen sich, wie schon angedeutet, neue Felder, um die sich zwar auch andere bewerben – Polizei und Militär betätigen sich im Kontext der Digitalisierung und bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus –, aber die Hauptlast bleibt bei den Geheimdiensten. Die Erfolge sind allerdings nicht sonderlich groß. Zwar werden Geheimdienste, manchmal auch das Militär, zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus eingesetzt, aber bisher gibt es sehr gemischte Erfahrungen. Die Sowjets müssen aus Afghanistan abziehen, weil sie ihre Ziele nicht erreicht haben, und die westlichen Mächte sind noch nicht abgezogen, haben es aber auch nicht geschafft, das Land zu stabilisieren. Und nun haben wir diese offenen Wunden in Syrien, in Libyen, in verschiedenen Gegenden der Südsahara, in Afghanistan, in Pakistan – und niemand weiß, wie es weitergehen soll.

Im Rahmen des kürzlich an der Bundeswehr-Universität München eingerichteten Studiengangs »Intelligence and Security Studies« unterrichten Sie die Geschichte der Geheimdienste. Welches historische Rüstzeug brauchen die zukünftigen Agenten?

Die Geschichte spielt in diesem Studiengang leider nicht die Rolle, die ich mir wünsche. Die Juristen, manchmal auch die Politologen und noch ein paar andere, sind nicht davon überzeugt, dass Geschichte überhaupt gebraucht würde. In den deutschen Geheimdiensten, insbesondere auf der Führungsebene, dominieren die Juristen. Dabei hat die Geschichte für meinen Begriff einen ganz besonderen Nutzen: Sie zeigt, natürlich, wie Dinge sich in der Vergangenheit entwickelt haben, damit aber auch, wie Dinge sich künftig entwickeln können. Und es geht um Erfolge und Misserfolge: Was funktioniert und was funktioniert nicht? Wäre das Wissen um die sowjetischen Afghanistan-Erfahrungen größer gewesen, wäre man im Deutschen Bundestag vielleicht nicht so optimistisch gewesen, zu sagen: Wir gehen dahin, bauen ein paar Brunnen, reparieren die Schuldächer und dann kommt die Demokratie. Den Grund für solche Fehleinschätzungen sehe ich auch darin, dass die Bundesrepublik eine sehr ahistorische Veranstaltung ist. Wir Deutschen wollen von der Geschichte nichts wissen. Wir haben als Alibi unsere Gedenkstätten, aber sie dienen eigentlich dazu, die Sache von uns wegzuschieben nach dem Motto: Wir haben die Gedenkstätten, uns kann niemand mehr Antisemitismus-Vorwürfe machen. Und wenn dann rechtsextreme Gewalttaten zunehmen, dann heißt es: Warum haben die Schulen dem nicht vorgebeugt? Es wird gern ein Schuldiger gesucht, statt sich selbst damit zu beschäftigen. Ich hingegen halte es für wichtig und nützlich, die größeren Zusammenhänge zu sehen und auch zu sehen, wie schwierig es für Geheimdienste ist, im modernen liberalen Verfassungsstaat einen angemessenen Platz zu finden. Wir können natürlich – und das ist, was auch ich mache – die Budgets und Personalzahlen vergleichen und dann feststellen, dass wir in Deutschland, absolut und relational, sehr viel weniger für unsere Geheimdienste ausgeben als die Franzosen, Briten oder Amerikaner. Die Amerikaner geben relational zur Bevölkerungszahl ungefähr dreieinhalbmal so viel für ihre Geheimdienste aus wie wir, die Franzosen und die Briten anderthalbbis zweimal so viel. Das lässt zumindest den Gedanken zu: Warum tun sie das? Geben wir zu wenig aus oder sie zu viel? Wie lässt sich das messen? Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Zahl der Polizisten, anteilig zur Bevölkerung, anders als bei den Geheimdiensten kaum differiert. Letztere werden also in anderen Ländern für wichtiger gehalten, die Gefahren als größer eingeschätzt, der Wille – etwa im Kontext der Cyberentwicklung – aktiver zu sein, scheint ausgeprägter, auch und gerade hinsichtlich folgender Frage: Wollen wir uns nur vor Angriffen schützen oder wollen wir eine aktive Cyberkompetenz entwickeln, um Angreifern Schaden zufügen und sie abschrecken zu können? Damit tut sich die deutsche Debatte schwer.

Sind die geringen Ausgaben im Vergleich zu anderen westlichen Staaten Teil dessen, was sie Deutschlands »geheimdienstpolitischen Sonderweg« genannt haben?

Das ist ein Teil davon. Dazu gehört auch das Verständnis, Geheimdienste hätten in der Demokratie eigentlich keinen Platz. Sie sind zwar als notwendiges Übel da, aber weil sie potenziell eine Gefahr für die Demokratie darstellen, bedürfen sie einer entsprechend starken Kontrolle. Das ist ein Diskurs, den es anderswo in dieser Form nicht gibt, auch wenn die Geheimdienste natürlich in allen Demokratien parlamentarisch kontrolliert werden.

In vielen westlichen Ländern gibt es aber erst seit den 1970er Jahren eine parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste. Warum hat sich diese eigentlich erst so spät entwickelt?

Auf diese Frage habe ich selbst noch keine schlüssige Antwort gefunden. In den USA wird erst Mitte der 1970er Jahre ein spezielles Gremium für die Geheimdienstkontrolle eingerichtet, als Reaktion auf Medienberichte, die die illegale Telefonüberwachung von Gegnern des Vietnamkrieges aufgedeckt haben. Ziemlich zeitnah, 1978, wird auch in Deutschland das erste Gesetz zur parlamentarischen Kontrolle verabschiedet. Vorher findet die parlamentarische Kontrolle praktisch ad hoc statt. Es gibt bis 1978 das sogenannte Vertrauensmännergremium, bestehend aus den Vorsitzenden der Fraktionen und ein paar weiteren Parlamentariern, die der Bundeskanzler bei Bedarf zusammenruft. Oder aber die Mitglieder beantragen eine Sitzung beim Bundeskanzler. Ein parlamentarisches Kontrollgremium auf gesetzlicher Grundlage gibt es dann erstmals 1978. Dieses Gesetz wird 2016 novelliert und die Befugnisse werden ausgeweitet.

Bräuchte es Ihrer Meinung nach eine stärkere Kontrolle der Geheimdienste und müssten sich andere Länder hinsichtlich der Kontrollbefugnisse stärker an deutschen Maßstäben orientieren?

Im parlamentarischen Verfassungsstaat macht das Parlament die Gesetze. Wenn dem Parlament die Kontrolle nicht stark genug ist, kann es ein anderes Gesetz verabschieden. Das machen die Abgeordneten aber nicht, weil sie es nicht wollen. Wenn das Parlament stark kontrolliert, dann wird es auch stark in die Verantwortung genommen. Das sieht man bei den Amerikanern. Bestimmte Arten von Auslandsoperationen müssen dem Geheimdienstausschuss vorab vorgelegt werden. Dadurch trägt der Ausschuss eine Mitverantwortung. Wenn eine Operation schiefgeht oder entgleist, kann er sich nicht empören, denn er hat ja davon gewusst und das Risiko mitgetragen. Das wollen die Parlamentarier aus verständlichen Gründen nicht. Und auch in Deutschland wollte man ursprünglich kein BND-Gesetz – obwohl es vor dem ersten Gesetz von 1990 bereits Gespräche darüber gegeben hatte. Wir haben in der unabhängigen Historikerkommission die Widerstände untersucht und herausgefunden, dass schlicht unklar ist, was in einem solchen Gesetz stehen soll. Um es zu verdeutlichen: Es gibt einen Bundesnachrichtendienst, der im Ausland auf dort illegale Weise Informationen beschafft, indem Leute zu Straftaten ermutigt werden. Der iranische Beamte, der dem deutschen BND eine Information gibt, begeht damit eine schwere Straftat, für die er möglicherweise zum Tode verurteilt wird. Eine Person zu einer Straftat zu verleiten, ist bekanntlich nicht erlaubt. Wie also soll man das in einem deutschen Gesetz ausdrücken?

Das Problem ist also, dass Geheimdienstaktivitäten generell im extralegalen Bereich stattfinden und daher unklar ist, wie sich das gesetzeskonform regulieren ließe?

Im ersten BND-Gesetz wird das dergestalt gelöst, dass nur gesagt wird: Der BND beschafft im Ausland Informationen, die für die Sicherheit der Bundesrepublik von Bedeutung sind, und wertet sie aus. Ergänzt wird dies durch einen sehr allgemeinen Paragraphen, wonach bei der Wahl der Mittel dasjenige zu wählen sei, das den Betroffenen voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt und nicht unverhältnismäßig ist. Ausgefertigt wird das BNDGesetz 1990 unter dem Zwang der Datenschutzgesetzgebung. Hiernach muss nämlich jede staatliche Behörde, die Daten sammelt und aufbewahrt, eine Gesetzesgrundlage dafür haben. Und niemand zweifelt daran, dass der BND Daten sammelt: Also bedarf es eines Gesetzes, in das möglichst wenig reingeschrieben werden soll. Erst 2016 wird dieses Gesetz stark aufgebläht und in allen Einzelheiten festgelegt, welche Telefonverbindungen und Internetanschlüsse im Ausland angezapft werden dürfen und wer darüber bestimmt. Da wird nun im Einzelnen aufgezählt: Es muss ein hinreichender Verdacht vorliegen, es muss sichergestellt werden, dass kein Unschuldiger erwischt wird und so fort. Und es wird ein unabhängiges Gremium aus Bundesrichtern und Bundesanwälten eingeführt. Das Problem ist aber: Die Personen, die etwa in Syrien oder im Irak gesucht werden, lassen sich schwer identifizieren, sie haben meist verschiedene Namen, die Aufenthaltsorte sind unklar. Trotzdem müssen deren Telefonverbindungen und Kontakte geprüft werden, um herauszufinden, ob diese Leute gefährlich sind oder nicht. Das heißt, unter bestimmten Voraussetzungen haben die Terroristen vom IS oder von Al-Quaida praktisch eine Garantie, dass der BND ihnen nichts tun wird – weil er es nicht darf. So weitgehend schränken die Franzosen, Briten oder Amerikaner ihre eigene Arbeit nicht ein. Sie schützen hauptsächlich ihre eigenen Bürger. Wenn vom Schutz der Bürgerrechte die Rede ist, dann sind dabei immer die eigenen Bürger gemeint. Hier haben sich die Deutschen völlig vergaloppiert, weil es hier um Dinge geht, die im Einzelnen nicht festlegbar sind und wo auf Ad-hoc-Weisungen vertraut werden sollte. Priorität sollte der Schutz der Bundesrepublik haben.

Sie konstatieren eine Auflösung der institutionellen Trennung zwischen militärischer und ziviler Geheimdiensttätigkeit, zwischen Inlands- und Auslandsgeheimdiensten, aber auch zwischen Geheimdienst und Polizei. Kann man das überall beobachten? Und sehen Sie darin eine gefährliche Entwicklung – gerade mit Blick auf die Tatsache, dass sich totalitäre Staaten durch eine Verschmelzung dieser Instanzen kennzeichnen?

Diese Tendenz beobachten wir überall. Die strikte Trennung hat es in anderen demokratischen Staaten nie in der Form gegeben wie bei uns. Die Franzosen und Briten haben Geheimdienst und Polizei nie komplett getrennt. Und die gezielten Tötungsoperationen unter Obama sind in den meisten Fällen nicht von der CIA, sondern vom Militär ausgeführt worden. Der Grund ist ein einleuchtender: Wenn so etwas in der Regie der Geheimdienste läuft, dann unterliegt es der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste, bis in alle Einzelheiten, während es für das Militär zwar auch einen Kontrollausschuss gibt, aber dort wird weniger streng und nach anderen Verfahren geprüft. Die Exekutive hat sich dort also ein wenig Freiraum geschaffen – wohlgemerkt unter Obama. Unter Trump haben die Meldungen über Drohnen-Einsätze und Tötungen stark abgenommen, obwohl zu vermuten ist, dass er das weiterführt. Es ist davon unbenommen natürlich sinnvoll, Geheimdienst, Polizei und Militär voneinander zu trennen, aber es braucht zugleich einen stärkeren Informationsaustausch. Hier hat es in der deutschen Gesetzgebung erhebliche Fortschritte gegeben. Der Informationsaustausch zwischen Polizei und Geheimdienst ist heute viel besser geregelt als früher. Diese Verbesserungen haben sich seit 9/11 – und ich denke, Otto Schily hat als Innenminister das Eis gebrochen – in kleinen Schritten vollzogen. Es ist doch unerträglich, dass ein staatlicher Akteur Informationen hat und sie dem anderen nicht geben darf. Normalerweise haben wir ja im Verfassungsstaat, und auch im föderalen Staat, das Gebot der Zusammenarbeit. Es müssen alle staatlichen Behörden zusammenarbeiten. Warum sollte das bei den Sicherheitsbehörden nicht auch möglich sein? Ein Teil des behördlichen Versagens im Fall des NSU speiste sich auch daraus, dass an einer Stelle Informationen vorhanden waren, die an anderer Stelle fehlten.

Als 2013 die Enthüllungen von Snowden bekannt wurden, gab es hierzulande eine große Empörung, gerade mit Blick auf das Abhören deutscher Politiker, weil dieses von einer befreundeten Nation ausging. Dabei leuchtet Spionage auch unter befreundeten Staaten unmittelbar ein, da diese in einem ständigen ökonomischen Wettbewerb stehen. Ist der Begriff des Freundes oder des befreundeten Staates auf dem Gebiet der Geheimdiensttätigkeiten überhaupt eine sinnvolle Kategorie? Anders gefragt: Spielt es beim Ausspionieren anderer Länder überhaupt eine Rolle, ob diese »Freunde« oder »Feinde« sind?

Wahrscheinlich hat der syrische staatliche Geheimdienst dazu beigetragen, dass man al-Baghdadi gefunden hat. Das heißt, es wurde mit den Syrern kooperiert. Kurzum: Man kooperiert mit jedem, sofern man sich etwas davon verspricht. Ich denke aber schon, dass es so etwas wie befreundete Staaten gibt. Es gibt die geheimdienstliche Kooperation, aber in einer Menge von Abstufungen: In einer schwachen Kooperation werden Informationen eher punktuell, beschränkt auf bestimmte Themen ausgetauscht. In stärkerer Kooperation werden indes gemeinsame Operationen durchgeführt, es existieren gemeinsame Einrichtungen, etwa Abhöreinrichtungen, kostenbedingt gemeinsame Satelliten, die zusammen betrieben werden. Vor allem im Cyber-Bereich gibt es sehr enge Kooperationen. Eine interessante Entdeckung, die ich gemacht habe: Fast die gesamte internationale Zusammenarbeit unter Geheimdiensten findet auf der Basis von Verträgen statt – sofern es nicht ohnehin internationale Abkommen dazu gibt. Das heißt also, wenn irgendwo eine Lauschantenne aufgestellt und diese gemeinsam betrieben wird, dann gibt es dazu in der Regel einen Vertrag, in dem genau festgelegt wird, wer wie viel zahlen muss, wer welche Daten bekommt und was er damit machen darf. All das muss vertraglich geregelt werden, denn im Strafrecht ist es deutschen Geheimnisträgern verboten, einer ausländischen Person Geheiminformationen des eigenen Staates zu übermitteln. Wenn nun der Beamte X im BND oder im BfV ein Dokument oder eine Information an den amerikanischen Geschäftsträger weitergibt, macht er sich strafbar – es sei denn, es gibt eine Rechtsgrundlage, die es ihm erlaubt. Diese Rechtsgrundlage ist ein solcher Vertrag. Er dient damit dem Schutz des eigenen Personals. Es ist natürlich für den Historiker oder auch für einen Untersuchungsausschuss interessant zu wissen, dass es Verträge geben muss. Man muss sie nur finden oder die Behörde muss sie herausgeben.

Im Anschluss an die Snowden-Affäre gab es eine Debatte darüber, ob unter befreundeten Staaten Verträge darüber abgeschlossen werden sollten, sich nicht gegenseitig auszuspionieren.

So etwas wie ein No-Spy-Abkommen gibt es nicht. Die Amerikaner haben damals sehr höflich klargestellt, dass sie mit keinem Staat – nicht einmal mit den Briten, mit denen sie am engsten zusammenarbeiten – solch ein Abkommen abschließen würden. Das könne allenfalls mündlich zugesichert werden und es gab angeblich auch eine Weisung des Präsidenten, dass das Regierungspersonal nicht abgehört werden dürfe, aber ob es diese Anweisung wirklich gab, wissen wir nicht genau und wir wissen auch nicht, ob sie immer befolgt wird. Es gibt auch Verhaltensweisen, die sich herausgebildet haben, ohne dass sie vertraglich oder gesetzlich festgeschrieben sind. Dass man vertraulich miteinander umgeht und Dokumente nicht an Dritte weitergibt, dazu gibt es meist schriftliche Festlegungen. Hier stellt sich die Frage, wer die Dritten sind. Dritte sind nämlich nicht nur Geheimdienste anderer Länder, sondern auch andere Behörden im eigenen Staat. Das heißt, wenn der BND etwas in die Hände bekommt, darf er das nicht an den Verfassungsschutz weitergeben und auch nicht an das Parlament. Es ist jüngst in einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts höchstrichterlich bestätigt worden, dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten ein so hohes Rechtsgut ist, dass es Vorrang hat gegenüber der Informationspflicht des Parlaments. Das tragen natürlich das BfV und der BND vor sich her, und es stellt die parlamentarische Kontrolle vor ein Riesenproblem. Je stärker die Zusammenarbeit und der Austausch sind, desto größer ist die Menge dessen, was durch das Parlament nicht kontrollierbar ist. Was nicht vorgelegt wird, kann auch nicht kontrolliert werden.

Sie waren Mitglied der unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des BND von 1945–1968. Vor welchen Hürden steht der Geheimdienstforscher generell mit Blick auf die meist sehr begrenzte Akteneinsicht? Und vor welchen speziellen Hürden standen Sie bei der Erforschung des BND?

Wir haben zu Beginn unseres Forschungsprojekts einen Vertrag mit dem BND darüber abgeschlossen, dass wir ausnahmslos alle Akten und Dokumente für den genannten Zeitraum einsehen dürfen, dass unsere schriftlichen Arbeiten allerdings eine Prüfung durchlaufen müssen, ehe sie publiziert werden. Dort gibt es natürlich eine Menge Dinge zu beachten – nicht nur BND-spezifische, sondern auch Persönlichkeitsrechte und Vorschriften, welche die Offenlegung von Methoden und Quellen der Geheimdienste einschränken. Die Verschlusssachenanweisung der Bundesregierung, die für den ganzen Staatsapparat gilt, verbietet es, eine ganze Reihe von Dingen zu publizieren. Zudem war dort, wo es eine internationale Zusammenarbeit gab, mit den Partnern abzugleichen, ob sie die Offenlegung von Informationen gestatten. Das ist in sogenannten Third Party Agreements festgelegt und hat die Sache zusätzlich verkompliziert. Allerdings haben diese Regelungen etwa bei der Aufdeckung von Nazipersonal im BND keine Rolle gespielt. Das ist eine rein deutsche Angelegenheit. Aber bei dem, worüber ich geforscht habe – den Auslandsoperationen und den Partnerbeziehungen nach Westen, vor allem mit Amerikanern, Briten und Franzosen – gilt das Prinzip, dass wir in Deutschland keine Informationen offenlegen dürfen, welche die befreundeten Dienste in ihrem eigenen Land nicht offenlegen, zum Teil noch nicht einmal ihrem eigenen Parlament gegenüber. Am einfachsten waren die Franzosen. Sie haben meine Manuskripte gesehen und haben gesagt, es gebe drei Punkte, denen sie nicht zustimmen können. Die habe ich rausgenommen und dann war das Manuskript von französischer Seite freigegeben. Bei den Briten und Amerikanern ist das schwieriger gewesen. Zugleich aber hatten wir die komplette Akteneinsicht. Das hat es noch nie gegeben und so wollte man uns das bei den Dienststellen des BND zuerst gar nicht glauben. Ein Problem war, dass sie ihre Akten teilweise selbst nicht kannten und manches nicht oder erst nach zwei- oder dreijähriger Suche gefunden haben. Ich glaube, das war kein böser Wille. Sie haben sich einfach nicht damit befasst, was dort im eigenen Keller steht. Erst durch die Projektarbeit kamen sie nun dazu, ihre alten Akten ordentlich zu sortieren und archivmäßig zu lagern. Angesichts vieler Gerüchte über vernichtete Akten, waren wir erstaunt, wie viele Akten aufbewahrt wurden. Nur ein kleiner Teil davon war entsorgt worden aufgrund der deutschen Archivgesetze. Im Zuge dessen waren auch Akten von einigen Nazi-Größen vernichtet worden. Aber in anderen Behörden, etwa im BfV, waren alle Personalakten vernichtet worden. Was die dortigen Forscher deshalb machen mussten, ist abenteuerlich. Jemand vom BfV sagte ihnen, er habe da etwas gefunden. Früher mussten alle Beamten im öffentlichen Dienst geröntgt werden, zur Tuberkulose- Vorsorge. Dafür gab es im BfV eine eigene Dienststelle, die separat Akten geführt hat, und dadurch existierte noch eine Namensliste des Personals, die weitere Rekonstruktionen zuließ.

Was haben Sie über die NS-Vergangenheit des BND herausfinden können? Wie hoch war der Anteil ehemaliger NS-Beamter im BND im Verhältnis zu anderen Institutionen und Behörden?

Man muss sich klarmachen, dass es diese Kontinuitäten überall gab: an den Universitäten, Gerichten, Postämtern, Schulen, überall – in der gesamten öffentlichen Verwaltung. Der BND steht im Verhältnis zu anderen Ämtern gar nicht so schlecht da. Im Bundeskriminalamt zum Beispiel gab es sehr viel mehr schwer NS-belastetes Personal, teilweise auch in höheren Rängen. Und es ist ein Unterschied, ob ein alter SS-Mann Hausmeister oder Abteilungsleiter wurde. Aber natürlich hat es auch im BND eine ganze Reihe solcher Leute gegeben. Wenn ich keine Personen dazuzähle, die nur Parteimitglieder waren oder irgendwann in die SA eingetreten sind und dort Karteileichen blieben, sondern nur jene berücksichtige, die mindestens aus dem mittleren Nazi-Apparat kamen, dann liegt der Anteil bei ungefähr 15 Prozent. Wobei sich sagen lässt, die Führung des Dienstes lag in den Händen des Militärs, also ehemaliger Wehrmachtsoffiziere. Das betrifft General Gehlen selbst, der eine klassische Militärkarriere durchlaufen hatte, und es trifft auf seine nähere Umgebung zu. Insgesamt waren schätzungsweise dreißig bis fünfzig solcher Personen in Führungs- und Schlüsselpositionen. Aber wir haben ein Problem, wenn wir diese Wehrmachtsleute auf ihre schuldhafte Nazivergangenheit hin untersuchen wollen, weil sie im NS-Staat weder Partei- noch SS-Mitglieder sein durften. Das heißt aber nicht, dass sie keine Kriegsverbrechen begangen haben. Man tut sich also schwer mit der Definition von »schwerer NS-Belastung«.

Die frühe Entwicklung des BND, vor allem der Aufbau seines Vorläufers, der »Organisation Gehlen«, ist eng mit dem amerikanischen Geheimdienst CIA verbunden. Gibt es Bereiche, in denen der BND in methodischer und organisatorischer Hinsicht von der Operationsweise der CIA besonders stark beeinflusst wurde?

Ja, da gibt es eine ganz starke Verbindung. Erst einmal muss man sich klarmachen, was der BND geworden ist: ein Auslandsdienst mit militärischer Komponente – das hatte es in Deutschland zuvor nicht gegeben. Es gab keinen zivilen Auslandsdienst vor dem Zweiten Weltkrieg. Das Rad musste also neu erfunden werden und dabei haben Gehlen und seine Leute zunächst zehn Jahre lang für die Amerikaner gearbeitet. Von 1946 bis 1956 war die Organisation den Amerikanern unterstellt, zunächst, bis 1949, dem amerikanischen Militär und anschließend der CIA. Und natürlich haben die Amerikaner, die ja auch bezahlt haben, vorgegeben, was gemacht wird, wie und mit welchem Personal. Dieser Einfluss ist geblieben, auch nach der Gründung des BND. Die Organisation Gehlen wurde weitgehend in den deutschen Staatsapparat übernommen und hieß ab 1956 Bundesnachrichtendienst – mit demselben Personal, denselben Methoden und Verbindungen. Der amerikanische Einfluss blieb dabei sehr stark, im Prinzip bis heute. Die personellen Verflechtungen dauerten fort, bis die Gründergeneration weg war. Der letzte BND-Präsident, der noch in der Organisation Gehlen tätig war, ging 1985 in Pension. Damit ist der BND ein reines Produkt der Organisation Gehlen. Dieser Einfluss zieht sich fast vierzig Jahre lang durch. Und natürlich hatten die Amerikaner ihre Vertrauensleute im BND – was sie nicht offen zugeben würden, was aber nicht schwer herauszufinden ist.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Geheimdienste heute?

Der Einfluss des radikalen Islamismus ist noch gar nicht ausgestanden. Wir wissen nicht, ob wir den Höhepunkt überhaupt schon erreicht haben. Das spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab. Da sind einmal die Konflikte innerhalb des Islam – vor allem Schiiten gegen Sunniten, Radikale gegen westlich Orientierte. Wir haben aber auch machtpolitische Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft zwischen dem Iran und Saudi-Arabien. Auch die Türkei erhebt inzwischen Ansprüche und nicht zuletzt will Ägypten gehört werden. Wir haben es hier mit einer Art Großmachtpolitik zu tun, und wir werden wohl noch Jahrzehnte damit zu kämpfen haben, deren Auswirkungen zu begrenzen. Und im Kontext von Digitalisierung und Cyberwarfare haben wir ein Riesenproblem in der Abgrenzung zwischen staatlichen und privaten Nutzern und Betreibern. Ich stelle mal die These in den Raum, dass heute Amazon und Google sehr viel mehr private Daten über uns haben als Verfassungsschutz, BND, Polizei und andere staatliche Institutionen zusammen. Und die staatlichen Organe können wir kontrollieren, aber auf die Daten, die von Amazon, Google und Co. gespeichert werden, können wir nicht zugreifen. Die lagern irgendwo in der amerikanischen Wüste, wo unsere Rechtsvorschriften auch künftig nicht gelten werden. Die private Datenökonomie, an der wir alle teilhaben, indem wir E-Mails oder Google-Anfragen schreiben, läuft völlig ins Unkontrollierte. Natürlich schwören die amerikanischen Konzerne, diese Daten nicht an die NSA weiterzugeben. Aber das brauchen sie gar nicht, denn das Personal ist sowieso miteinander verflochten. Die jungen Leute gehen erst zur NSA. Dort lernen sie das Handwerk, weil sie dort mit den neuesten Computern und der neuesten Software arbeiten können. Und nach ein paar Jahren gehen sie in die Privatwirtschaft, wo sie deutlich mehr Geld verdienen. Und sie bringen ihr Wissen mit, haben noch Freunde in der NSA sitzen. Mehr muss ich doch gar nicht wissen.

Unsere Geheimdienste scheinen bei der Digitalisierung ziemlich hinterherzuhinken. Lässt sich das historisch auch für andere technische Errungenschaften feststellen?

Es ist sehr aufwändig und kostenintensiv, mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten Schritt zu halten. Wer hätte gedacht, dass Hard- und Software ständig erneuert werden müssen? Und diese Veränderungen vollziehen sich immer schneller und sind ein enormer Kostenfaktor. Zudem ist die Personalbeschaffung ein großes Problem. Vor ein paar Jahren hat der Bundestag mehrere hundert neue Stellen bei BfV und BND geschaffen. Aber mit den Gehältern des öffentlichen Dienstes sind sie nur schwer mit qualifizierten Leuten zu besetzen. Das ist ein kaum zu lösendes Problem, nicht nur bei uns und nicht erst seit heute. Ich habe bereits Anfang der 1980er Jahre erlebt, wie in Harvard, trotz des Prestiges und überdurchschnittlicher Gehälter, mehrere Professuren für Computer Science unbesetzt blieben, weil die Gesuchten in der Privatwirtschaft deutlich mehr verdienten. Geheimdienste haben das zusätzliche Problem, dass die Leute sich schwer an einen solchen Apparat anpassen, inklusive der Geheimhaltung. Heute werden auch Personen rekrutiert, die man früher aus Sicherheitserwägungen nie genommen hätte. In Amerika sind etwa sechzig Prozent der Absolventen in Computer Science chinesischer Herkunft. Im Wissen um Verwandtschaften, um chinesische Einflussnahmen, um reale Verratsfälle wird die Rekrutierung also schwierig. Vorteile, wie chinesische Sprachkenntnisse, erweisen sich zugleich als Gefahren. Der Kampf im Cyber-Bereich hängt also nicht zuletzt am Geld, in erster Linie aber am fehlenden Personal.

 

Das Gespräch führten Matthias Micus und Luisa Rolfes.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019