»Heimat lässt sich nur in einem sozialen Zusammenhang denken« Ein Gespräch mit Stephan Lessenich über den Heimatbegriff, Umweltschutz und das Unheimliche

Interview mit Stephan Lessenich

Der Heimatbegriff hat in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt, die sich schon vor dem Heimatministerium, auch vor der AfD, etwa im Kontext des »Partypatriotismus«, abzeichnete. Welche Entwicklungen sehen Sie als ursächlich für die Wiederkehr des Begriffes an?

Ich glaube, dass es insgesamt an den gesellschaftlichen Verunsicherungen liegt, die wir in etwa seit der Wende erleben und die nun durch eine neue Phase der Globalisierung einen anderen Charakter erhalten haben. Es ist nicht nur eine Gegenbewegung zu wahrgenommener Entgrenzung und Heterogenisierung der Gesellschaft, sondern in den letzten Jahren eine direkte Reaktion auf die Fluchtmigration und die Frage danach, wie sich dieses Land womöglich durch Zugewanderte verändert und durch weitere Zuwanderung verändern wird. Insofern ist »Heimat« ein Abwehrbegriff.

Er ist aber auch ein Kompensationsbegriff. In Deutschland sind Begriffe wie »Nation«, »Volk« oder auch »Deutschland« selbst lange Zeit ein Tabu gewesen und nicht besetzt worden – wenn doch, dann nur von der völkischen oder extrem nationalistischen Rechten. Die Debatte um Heimat scheint mir auch der Versuch zu sein, nicht unbedingt intentional, mehr als erspürte Möglichkeit, wieder etwas Nationales in den Vordergrund zu rücken, was aber nicht per se und nicht automatisch den gleichen exklusiven Charakter hat wie Nation oder Volk. Wenngleich Heimat im Kern nur exklusiv zu denken ist, ist sie als politische Semantik nicht automatisch mit Ausschlussprozessen verbunden, so wie es sich mit Volk oder Nation assoziieren ließe.

Wenn man sich, mit Bezug auf Sigmund Freud, fragt, was das Unheimliche an den gegenwärtigen Verhältnissen ist, lassen sich zwei Varianten des Heimlichen unterscheiden, gegen die sich das Unheimliche antagonistisch abgrenzt: Heimlich ist einerseits das Geheime, das verborgen bleibt; andererseits meint es das Heimelige. Ebenjenes heimelige Gefühl, das mit der Heimat transportiert wird, ist auf der Affektebene besonders relevant. In einer Phase, in der sich Dinge entgrenzen und öffnen, man mit äußeren Entwicklungen und auch physisch mit Menschen konfrontiert ist, die von außen kommen, gewinnt das Heimelige, Vertraute, Gemeinsame und Ungestörte eine neue Bedeutung.

Sagt die Wiederkehr des Heimatbegriffes also auf einer kollektiven seelischen Ebene etwas über den emotionalen und psychologischen Gemütszustand der Gesellschaft aus?

Unbedingt. Als Soziologe bin ich ohnehin der Meinung, dass die weitgehend abhandengekommene Verbindung zwischen Soziologie und Sozialpsychologie, die für die Kritische Theorie in den 1930er Jahren zentral war, wiederbelebt werden müsste. Ich glaube nicht, dass Menschen individuell, intentional und dann aggregiert, wie es sich im methodologischen Individualismus ausdrücken würde, auf die Idee kämen, dass man – wenn sich Dinge verändern, Verhältnisse verschieben, Ungewissheiten prominent werden – dann jedenfalls immer noch seine Heimat hat. Heimat scheint mir ebenso ein Kollektivgefühl zu sein, wie es ein Kollektivbegriff ist. Heimat lässt sich nur in einem sozialen Zusammenhang denken – schließlich ist man nur heimisch, wo auch andere ihre Heimat haben. Insofern kann und muss der Begriff auch sozialpsychologisch kollektiv-emotional verstanden werden.

Durchaus intentional genutzt wird der Heimatbegriff allerdings im politischen Prozess, wo entsprechende Ratgeberkreise Heimat systematisch zu lancieren versuchen. Das zeigte sich bspw. im bayerischen Landtagswahlkampf, wo der dortige Spitzenkandidat der LINKEN seine Partei als die »eigentliche« Heimatpartei benannte. Das zieht sich also von den LINKEN über die Grünen, die nun zahlreiche Heimatkongresse veranstalten, und Grünen-nahe Bürgerinitiativen, die sich »Heimatboden« nennen, bis hin zu der CSU und der AfD sowieso. Die CSU ist dahingehend, jedenfalls in Bayern, stilprägend geworden. Offensichtlich sehen politische Akteure das Heimatkonzept als eines an, das anschlussfähig ist und mit dem sie die kollektive Psyche der Leute berühren können. Dass ein politischer Begriff emotional positiv anschließt, ist äußerst selten – möglicherweise ist dies noch beim Sicherheitsbegriff der Fall, beim Fortschrittsbegriff dagegen nicht mehr, da er nicht eindeutig positiv konnotiert ist. »Heimat« aber ist ein solcher Begriff, und deshalb versuchen die linken oder progressiven Akteure, diesen offensiv nicht exklusiv zu wenden und zu pluralisieren. Das kommt auf einer Sinnebene allerdings einem Ethnopluralismus gleich: Jeder hat seine Heimat und soll diese auch haben, solange er auch in seiner Heimat bleibt.

Auf der einen Seite sehen wir jene, die Heimat exklusiv verstehen, sich gegen das vermeintlich Fremde verteidigen wollen und sich gegen eine Pluralisierung der Heimat und Gesellschaft positionieren. Auf der anderen Seite stehen jene, die ebenjene Pluralisierung fordern und für Toleranz und Weltoffenheit eintreten. Entspinnen sich hier, anhand des Heimatbegriffes, neue gesellschaftliche Konfliktlinien?

Womöglich ist der Heimatbegriff lediglich ein semantischer Kristallisationspunkt. Progressiv Denkende würden wohl durchaus sagen: »Wir müssen für diejenigen, die herkommen, die Rahmenbedingungen schaffen, damit sie so leben können, wie wir das tun.« Vielleicht würden sie auch wollen, dass die Menschen hier eine neue Heimat finden, so wie sie schließlich auch sagen, dass die Menschen ihre Heimat verloren haben. Ich halte das Konzept für einen semantischen Anschluss an die Sorgen, die hierzulande um Verlust oder Veränderung der eigenen Heimat bestehen, um argumentieren zu können: Die Leute haben auch ihre Heimat verloren. Das sind sozusagen Heimatvertriebene, die wir in Deutschland gut kennen. Dafür haben wir Umverteilung organisiert und das haben wir auch geschafft. Der Heimatbegriff scheint in dem Sinne jedoch eine Oberflächensemantik zu sein. Es ist fraglich, ob wir in fünf Jahren noch davon reden werden und ob der Heimatbegriff letztlich eine ähnlich stabile Semantik der Inklusion sein wird wie »Nation« oder »Volk«. Auf jeden Fall aber steht er für Verteidigung, für Schutz, für Abwehr von Veränderung des Vertrauten, Gewohnten, Lokalen und somit also durchaus für eine gesellschaftliche Spaltung. Mit Blick auf die Überlagerung von Spaltungslinien sozioökonomischer, kultureller und ideologischer Art machen einige Sozialwissenschaftler nun eine Spaltungslinie von Kommunitarismus und Kosmopolitismus auf, die ich allerdings für verquer halte, da diese beiden Begriffe auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen.

Aktuell lassen sich bei Akteuren des gesamten politischen Spektrums widersprüchliche Versuche feststellen, diese Spaltungslinien auszuhandeln – etwa auch bei der von Sahra Wagenknecht gegründeten linken Sammlungsbewegung »Aufstehen «. Wie weit ist dieser Konflikt innerhalb des Mitte-links-Spektrums vorangeschritten und inwieweit ist er auflösbar?

Ich glaube, der Konflikt ist weit vorangeschritten. In der gesellschaftspolitischen Linken insgesamt ist diese Spaltungslinie diejenige, an der sich Positionen und Parteien in Zukunft ausdifferenzieren und neue Sammlungsbewegungen entstehen werden, sich insgesamt eine Rekonfiguration des Parteien- und politischen Glaubenssystems ergeben wird. Die zentrale Frage lautet, ob wir im weitesten Sinne – also militärisch, politisch und sozial – stärker auf eine nationale Sicherheitsstrategie oder aber auf einen Kosmopolitismus setzen, wenngleich dieser Begriff womöglich nicht der richtige ist und im politischen Konflikt mittlerweile als Kampfbegriff benutzt wird. Früher hätte die Formel »Internationalismus« geheißen, als ein Versuch – im Sinne der Arbeiterbewegung –, die Interessen der hiesigen lohnabhängigen Proletarier, der Beherrschten, mit den Interessen der lohnabhängigen Proletarier aller Länder zu verknüpfen. Ich glaube, dass die zentrale Achse des Konflikts jene entlang der nationalen vs. internationalen Perspektive ist. Deswegen kann meines Erachtens auch gesagt werden, dass Migration sicher nicht die Mutter, aber doch der Kristallisationspunkt aller Probleme ist, weil sich darin zentrale Fragen spiegeln, nicht nur des Aufenthalts-, Asyl- oder Staatsbürgerrechts, sondern Fragen der moralischen Ökonomie. Wem soll was warum und unter welchen Bedingungen zukommen? Diese Frage stellt sich für Bildung, Gesundheit, Teilhabe am Arbeitsmarkt, gute und sichere Arbeit sowie Wohnraum. Entlang dieser Frage – ob wir entweder einen nationalen oder einen prinzipiell offen gedachten, wenngleich nicht unbedingt vollständig grenzenlosen Sozial-, Sicherungs-, Anspruchs- und Teilhaberaum haben – verläuft die zentrale Achse, an der sich einiges entscheiden, im Sinne von unterscheiden, wird. Einstweilen sieht es so aus, dass die gesellschaftspolitische Linke dies nicht zusammenführen kann, obwohl rein logisch denkbar wäre, dass es eine nicht-exklusive Form der Solidarität geben könnte. Allerdings folgt dem zweiten Durchdenken immer der Schluss, dass irgendwo Grenzen gezogen werden, dass Umverteilungsraum irgendwo begrenzt werden muss.

In dem von Ihnen mitunterzeichneten Aufruf »Solidarität statt Heimat« wird eine globale Solidarität gefordert. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob diese Forderung nicht das Ziel links-progressiver Politik, nämlich die Bändigung der Marktkräfte, konterkariert? Ist diese Bändigung nicht gerade auf den Nationalstaat angewiesen?

Ja, das ist sie gegenwärtig. Ich bin Institutionalist genug und habe auch lange genug über die nationalen Wohlfahrtsstaaten geforscht, um zu wissen, dass die im nationalen Rahmen vollzogene Umverteilung einen wichtigen historischen Schritt für die Berechtigung der Menschen darstellt – der jetzt allerdings aus inneren Dynamiken heraus und im Kontext der Globalisierung gefährdet ist. Deswegen bedeutet die Forderung »Solidarität statt Heimat« nicht »Solidarität statt nationaler Wohlfahrtsstaat«. Die Kunst wird sein, wohlfahrtsstaatliche Institutionen so zu öffnen, dass unter gesellschaftlich zu bestimmenden Bedingungen auch Nichtnationale und Zuwandernde jenen Satz an Rechten bekommen, der auch den Staatsbürgern oder bisher als Staatsbürgern Anerkannten zukommt. Theoretisch und konzeptionell war der Wohlfahrtsstaat immer im Kontext relativer kultureller Homogenität und nationaler politischer Verfasstheit gedacht. Eine konzeptionell-theoretische Revolutionierung, die eigentlich einhergehen müsste mit einem Neuaustarieren von Nationalismus und Internationalismus, wäre es, Wohlfahrtsstaatlichkeit tatsächlich global zu denken oder sie im Sinne global institutionalisierter sozialer Rechte auszuweiten. Viele Heimaten heißt auch viele Berechtigungen vor Ort sowie ein Recht auf Rechte, gerade trotz eines Wechsels des Sozialraumes.

Daran anknüpfend: Wer hat Anspruch auf unsere Heimat, wer ist Teil eines Sozialstaates und bei wem wird die Grenze gezogen?

Ich denke, dass die eben benannte Arendt’sche Frage nach dem Recht, Rechte zu haben, eine vorgelagerte ist und wir – nicht nur im deutschen Kontext, sondern in allen fortgeschrittenen demokratischen Kapitalismen der westlichen Welt – grundsätzlich einer Doppelmoral folgen: Das, was die Staatsbürgerinnen und -bürger legitimerweise für sich beanspruchen und einfordern, sowie die Rechte, die ihnen die politisch Verantwortlichen versprechen oder auch zukommen lassen, werden anderen verwehrt, und zwar nicht einmal rhetorisch oder politisch-programmatisch, sondern de facto. Das gilt zum Beispiel für das Wahlrecht, sodass wir es mit einer doppelten Krise der Repräsentation zu tun haben. Ein Forscherteam um Armin Schäfer hat in einer Studie zum Zusammenhang von sozialer Lage und Wahlbeteiligung eine enge Korrelation und damit einen großen Einfluss des Sozialstatus auf die politische Partizipation festgestellt. Dies eingebettet in die Frage danach, wer sich überhaupt an Wahlen beteiligen darf – im Bundesland Berlin bspw. darf ca. ein Drittel der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter nicht wählen –, ergibt die Situation, dass in armen Vierteln viel seltener als in reichen Vierteln gewählt wird. Das ist eine doppelte Strukturkrise der Demokratie. Wie ließe sich bewirken, dass Wahlberechtigte ihr Recht auch wieder in Anspruch nehmen, statt davon auszugehen, ohnehin nichts zu sagen zu haben? Zugleich ist es unbegreiflich, dass Bürgerinnen und Bürger, die zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland leben, noch immer vom Demos ausgeschlossen werden. Wie sollen sich diese Leute hier heimisch fühlen? Heimat ist immer auch etwas, das man sein Eigen nennen kann. Dazu gehört in einer demokratischen Vorstellung von Heimat auch, mitbestimmen zu können. Wie kann etwas zum Eigenen werden, wenn einem stets signalisiert wird, nicht wirklich dazuzugehören, wenn über sämtliche Bedingungen des eigenen Alltagslebens andere entscheiden? Wer nicht gerade EU-Bürger ist und sich wenigstens bei Kommunalwahlen beteiligen kann, entscheidet nicht darüber mit, wie ausgebaut etwa der ÖPNV ist oder ob es eine Mietpreisbremse gibt. Bei all den Dingen, die das Alltagsleben maßgeblich bestimmen, spielen viele keine Rolle.

Der Begriff »Heimat« beinhaltet nicht nur diesen nationalstaatlichen Aspekt. Für viele bedeutet »Heimat« primär die Stadt oder die Gegend, aus der sie kommen. Ist es typisch, dass Menschen sich im Lokalraum verorten, oder spezifisch deutsch, weil man sich nach wie vor schwertut, Heimat auf Nationalebene zu verorten?

Ich würde Heimat als eine Dimension und spezifische Ausdifferenzierung von Zugehörigkeit beschreiben. Man kann Zugehörigkeit einerseits objektiv feststellen – bspw. durch Netzwerkanalysen, die darstellen, welchen sozialen Kreisen Menschen angehören. Aus subjektiver Wahrnehmungsperspektive ist Zugehörigkeit andererseits ein soziales Gefühl, das in historisch veränderbaren Formen ausgelebt wird. Eine soziale Konstante ist die territoriale Zugehörigkeit: eine basale Form der Zugehörigkeit durch die Bindung an den überschaubaren sozialen Raum, in den man hineingeboren oder hineinsozialisiert wird. Man kann sich einem territorialen Ort, im Wissen, dort geboren zu sein, allerdings auch dann zugehörig fühlen, wenn die Verbundenheit mit diesem Ort verloren gegangen ist, kein Gefühl von Heimat mehr aufkommt. In der Semantik des Heimatgefühls ließe sich dann fragen: »Wo gehöre ich eigentlich hin, wo komme ich her, wo will ich einmal beerdigt werden?« Dass dies lokal verortet ist, ist sozial typisch.

Historisch gesehen ist es eher ein Sonderfall, sich tatsächlich und auf der Einstellungsebene zu einem eindeutig abgegrenzten territorialisierten Sozialraum zugehörig zu fühlen. Der deutsche Fall ist aufgrund des Nationalsozialismus allerdings besonders – ebenso speziell wie vertrackt. In dem, zumindest in einer bestimmten historischen Phase, in Einstellungsumfragen dokumentierten europäischen Zugehörigkeitsgefühl der Deutschen drückt sich eine Kompensationshaltung aus: Wenn wir keine normalen Deutschen sein dürfen, werden wir eben gute Europäer. Man hat sich zudem damit beholfen, sein Selbstbewusstsein, statt aus einer politisch-territorialen Zugehörigkeit, aus der Zugehörigkeit zu einer starken Ökonomie zu gewinnen, zu Deutschland als Exportweltmeister oder als Standort der deutschen Autoindustrie, die stark aufgeladen ist; und zwar nicht nur damit, dass sie unseren Wohlstand sichert, sondern »deutsche Wertarbeit« ist und uns die »Freude am Fahren« beschert – als solche wird sie auch zum Teil der eigenen Identität. Letztlich glaube ich, die lokale, territoriale Verankerung ist etwas Normales in jedem Gemeinwesen. Die Höherskalierung auf das Nationale hat eine historische Zeit, die irgendwann im 19. Jahrhundert beginnt und irgendwann vielleicht auch wieder endet. Dass dieses Nationale dann in Verruf geraten ist, hängt mit der politischen Gewaltgeschichte des Nationalen zusammen – in Deutschland ganz besonders.

Kommen wir nun zu einem weiteren Aspekt von »Heimat«. Die klassische Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit löst sich zunehmend auf, ehemals relativ kohärente Kulturen differenzieren sich in Teilöffentlichkeiten aus: Bieten jene so etwas wie neue Heimatzugehörigkeitsgefühle oder fordern sie vielmehr das Heimatkonzept heraus, da alternative Konzepte angeboten werden?

Dies hatte ich mit dem Konzept der Zugehörigkeit bereits angedeutet: In der Soziologie gibt es spätestens seit den 68er-Jahren, aber auch schon früher, zahlreiche Forschungen zu Subkulturen wie der Punk-, der Popper- oder der Techno-Kultur. Das alles sind Formen der sozialen Zugehörigkeitskonstruktion und der gefühlten Zuordnung zu einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten, der Gleichhandelnden, der Gleichtickenden, der offenbar und sichtbar Gleichlebenden. Im Grunde genommen sind dies funktionale Äquivalente zur Heimat. In einer Gesellschaft, die sich nicht nur in Bezug auf verschiedene Öffentlichkeiten und soziale Milieus pluralisiert, sondern die auch insgesamt mobiler wird, nimmt die lokale Heimatdimension von Zugehörigkeit ab.

Es wird nicht mehr das ganz Leben automatisch an einem Ort verbracht, sondern es wird umgezogen. Dann wird das Individuum vielleicht Wahlberliner und gibt sich Mühe, sich dort hineinzufinden. Allein durch diese territoriale Mobilität nimmt die schon benannte lokale Heimatdimension der Zugehörigkeit ab. In einer ausdifferenzierten und flexibilisierten Gesellschaft gibt es viele funktionale Äquivalente dieser Zugehörigkeit, die weniger in einem Konkurrenzverhältnis stehen, als dass sie sich ergänzen. Schließlich gibt es Leute, die sagen, Berlin habe ihnen nicht gefallen und sie seien daher wieder »nach Hause« gezogen. Statt eines starken emphatischen Heimatbegriffes drückt sich darin hauptsächlich der Gedanke aus, dass die Dinge dort einfacher waren, man sich auskannte und Freunde hatte. Dafür den Heimatbegriff zu bemühen, halte ich für übergestülpt, nicht für einen Bottom-Up-, sondern für einen Top-Down-Begriff.

Die zugehörigkeits- und identitätsstiftende Wirkung, die ehemals vor allem von Subkulturen wie der Punk- oder der Popper-Kultur ausging, scheint heute mehr und mehr von Sammlungsbewegungen und lokalen Gruppen auszugehen, die sich zusammenschließen und durch bestimmte Aspekte definieren. Gibt es dort neue politische Anschlussfähigkeiten?

Der Wunsch nach dem Gefühl, dazuzugehören und unter Gleichgesinnten zu sein – dies ist die andere Seite von Echokammern –, ist soziologisch sehr verständlich. Dieselbe Sprache zu sprechen und ähnliche Einstellungen ebenso wie Überzeugungen zu haben, bedeutet auch, sich einem politisch- sozialen Milieu zugehörig zu fühlen. Aus neomarxistischer Perspektive heraus gesprochen, ließe sich sagen: Neben oder tendenziell sogar anstatt sozioökonomisch geprägter Praxisformen von Zugehörigkeit und Zugehörigkeitskommunikation gibt es eine Vielzahl anderer, kulturell geprägter Formen gemeinschaftlicher Praxis. Das ist etwas ganz Normales, was erst dann zum Problem wird, wenn solche Teilsegmente von Öffentlichkeiten entweder gar nichts mehr miteinander zu tun haben oder wild aufeinander losgehen, wenn also anstelle einer einigermaßen beständigen und geregelten Kommunikation entweder Non-Kommunikation oder Konfrontation entsteht.

So wenig ich die Kommunitarismus-Kosmopolitismus-Achse begrifflich nachvollziehen kann oder gar in ihren politisch-strategischen Implikationen teile, so sehr ich sie vielleicht sogar ablehne, so klar ist meines Erachtens aus einer diagnostischen Perspektive, dass es natürlich unterschiedliche Communities gibt, die wenig miteinander zu tun haben. Soziologinnen und Soziologen erkennen dies wenigstens teilweise, weil sie eben diese Milieus erforschen und mit ihren Aufnahmegeräten dort hingehen, das Feld aber meist erleichtert wieder verlassen. Dies gilt nicht nur für Frauen in neonazistischen Gruppen, sondern ebenso etwa für das Dienstleistungsproletariat bei Amazon, das den forschenden Soziologen aufatmen lässt, selbst nicht so arbeiten zu müssen und vielleicht nicht ganz so prekär beschäftigt zu sein. Außerhalb dieses Kontextes existiert üblicherweise kaum Kontakt, jedenfalls nicht über flüchtige Begegnungen hinaus, etwa mit dem Paketlieferanten, der einem eine Lieferung aushändigt. In solchen Situationen kommen jedenfalls keine Gespräche über Arbeitsbedingungen zustande oder darüber, warum er so in Eile ist oder ob ihm geholfen hätte, ihm das Paket bereits im Erdgeschoss abzunehmen. Das sind keine Blasen der Kommunikation in dem Sinne, sondern durch die Strukturbedingungen der Lebensführung in dieser Gesellschaft abgegrenzte Sozial- und Funktionsräume, in denen sich jeder und jede Einzelne jeweils bewegt.

Ist das Reden von Heimat ein Anzeichen dafür, dass die Zukunftsorientierung einer Vergangenheitsorientierung, die Utopie der Retropie gewichen ist? Sind die wirkmächtigen Heimatbilder nur Anrufungsversuche einer entschwundenen Vergangenheit oder birgt Heimat auch das Potenzial des zukünftig Gestaltbaren?

Wenngleich das Heimatkonzept klare Anteile einer Vergangenheitsorientierung aufweist, glaube ich nicht, dass es allein in einer Rückwärtsgewandtheit aufgeht. »Heimat« steht für das noch Unversehrte, Unangetastete, Vertraute und Natürliche. Für manche bedeutet »Heimat« Gelsenkirchen und rauchende Schlote. Doch wenn von »Heimat« die Rede ist, drängt sich in Deutschland doch fast zwangsläufig zuerst das Bild eines stilisierten Oberbayern auf, verziert mit grünen Wiesen, glücklichen Kühen und Kirchen mit Zwiebeltürmen. Eine Vergangenheitsorientierung besteht darin, dass Heimat assoziativ an den Gedanken gekoppelt ist, die Welt sei früher noch in Ordnung gewesen. Diese Ordnung wiederherzustellen oder aber zumindest das zu bewahren, was noch in Ordnung ist: Danach lässt sich streben. Und damit hat Heimat auch einen starken Gegenwartsbezug. Zygmunt Bauman oder auch Hartmut Rosa, die sich mit Zeitstrukturen beschäftigen, stellen fest, dass das utopische Moment verschwindet. Wie handelt man in der Krise? Man unternimmt beständige Anpassung und den Versuch, das Bestehende vorsichtig weiterzuentwickeln, anstatt den großen Wurf zu machen. Denn der gilt womöglich erstens als gefährlich, zweitens fehlt ein gesichertes Wissen über dessen Umsetzung und drittens gibt es diese erfahrungsgesicherte Ahnung, dass jene großen Würfe in den Strukturen und Prozessen des politischen Systems oder der öffentlichen Meinungsbildung zermahlt werden würden. Heimat ist etwas Wiederherstellendes von Altem, das damit zugleich einen Gegenwartsbezug aufweist. Ich selbst sehe im Heimatbegriff aber gerade deshalb kein Zukunftskonzept. Das Wiederherstellende ist vor allem gegenwartsbezogen und Zukunft ist als reine Dauer gedacht. Wir stellen etwas wieder her, was dann bestehen bleibt. Zukunft ist für mich nicht Sein und Bleiben, sondern auch Veränderung, das Offene und Ungewisse, das Unplanbare, das Kontingente. Deswegen steht Heimat, wenn es für ein Zukunftskonzept steht, für eine Zukunft des Bestehenden und nicht für eine Zukunft des Veränderns.

Ist die in Zeiten gesellschaftlicher Beschleunigung aufkommende Sehnsucht nach Heimat also eine Sehnsucht nach, in Hartmut Rosas Terminologie, Entschleunigungsoasen und damit letztlich als Reaktion auf Veränderungsprozesse zu begreifen?

Wenn wir von Hartmut Rosa ausgehen, ist nicht Entschleunigung, sondern Resonanz die Antwort auf Beschleunigung. Beschleunigungsprozesse führen demnach zum Abgeschnittenwerden von Resonanzbeziehungen, und zwar in der Politik, in der Ökonomie, ja, eigentlich in der gesamten Lebenswelt. Ich glaube schon, dass sich das Heimatkonzept mit seiner, wenn nicht rückwärtsgewandten Dimension, wohl aber einer des Stillstellens, auf abstrakter Ebene gegen Beschleunigungstendenzen richtet. Allerdings glaube ich nicht, dass Beschleunigung das zentrale Gegenmotiv der Heimat-Semantik ist, wenngleich sie mit hineinspielt. Eine größere Rolle spielen Verunsicherungen und Ungewissheiten, die etwa durch Migrationsbewegungen aller Art und den Klimawandel ausgelöst werden. Dass weitreichende, auch strukturelle Veränderungen stattfinden und unsere Lebensverhältnisse womöglich schon innerhalb der nächsten zehn Jahre in ihren Grundfesten angegriffen werden, durch physische, körperliche Bewegungen einerseits und physikalische, stoffliche Bewegungen andererseits, führt zu einer Grundungewissheit, zu einem massiven Unbehagen. In einer Freud’schen Perspektive würde ich sagen: »Das ist Menschen unheimlich.« In diesem Kontext gedacht, meint Heimat dann tatsächlich das Heimelige, das im Gegensatz zu jenem Unheimlichen da draußen steht, das man nicht haben möchte, von dem man aber ahnt, dass es kommt, und gegen das man sich individuell nicht wehren kann. Heimat wird dann zum Schutzraum gegen das Unheimliche, das gefühlt von draußen kommt, etwa in Form schmelzender Polkappen oder nur vermeintlich entfernter Bürgerkriege. Das damit verbundene Gefühl kann meines Erachtens nicht als Angst bezeichnet werden; vielmehr entwickeln sich unterschwellige Bedrohungsgefühle. In Gesellschaften, die so verfasst sind wie unsere und in denen es relativen Wohlstand für relativ viele Menschen gibt, ist ein Unbehagen an dem, was global passiert, sehr verständlich – ebenso verständlich wie wachsende Bedürfnisse nach Ordnung, Zugehörigkeit und Stillstellung. Nachvollziehbar ist auch, wenn politische oder sonstige öffentliche Akteure in einer solchen Situation auf Heimat setzen. Ich sehe allerdings wenig Progressives an einer Idee des Heimatschutzes. In Versuchen, im Kontext eines derartigen Heimatschutzes bspw. das Baumfällen oder die Stromtrasse vor der Haustüre zu verhindern, sehe ich hauptsächlich partikulare, selbstbezogene Formen des Umwelthandelns.

Wie würde denn ein nicht-selbstbezogenes, nicht-partikulares Heimatverständnis aussehen?

Ich ironisiere gerne den Begriff »pluraler Heimaten«; weil mir scheint, dass er oft politisch-strategisch genutzt wird. Diesen konzeptionell ernst zu nehmen, würde ja bedeuten, den Begriff in den Diskurs um Fluchtursachenbekämpfung zu überführen. Wenn wir nun im Rahmen dessen anerkennen, dass alle Menschen Heimaten haben sollen, die geschützt werden müssen, dann hieße das, Umweltschutz und solcherlei Dinge nicht nur partikular für sich selbst zu betreiben, sondern zu fragen, warum die Menschen wandern und in Zukunft womöglich noch mehr wandern werden, als es in einer vorherigen historischen Phase der Fall war. Auch wäre zu fragen, inwiefern die Lebensverhältnisse bspw. durch die Veränderung in der natürlichen Umwelt bedingt sind. Wer tatsächlich Heimatschutz für alle möchte, müsste eine sehr harte sozialökologische Transformationsstrategie entwickeln – und zuallererst bei sich daheim umsetzen. Jedoch hat niemand den Mut, das auch deutlich zu sagen. Die Grünen etwa stehen für eine Wohlfühlökologie, eine ökologische Transformation light, nach dem Motto: Wir können das regeln. Wir müssen zwar etwas konsequenter sein, aber im Grunde brauchen sich die Lebensführungsmuster nicht radikal zu verändern. Verbrennungsmotoren werden durch E-Mobilität ersetzt, große Stromtrassen durch dezentrale Energie, Plastikverbote verhängt, eine konsequentere Wiederverwertung von Ressourcen gefordert – und ansonsten kann im Prinzip alles weitergehen wie bisher. Dass man aber den Ressourcenbedarf und den Energieverbrauch hierzulande radikal – und »radikal« meint hier wirklich radikal – senken müsste, das wird nicht gesagt. Unsere politisch verfasste Ökologiebewegung ist eine, die nicht wehtun soll und will. So stellt sich dann auch die Sozialstruktur der Wählerschaft der Grünen dar: Das sind diejenigen mit den höchsten Einkommen, für die Umweltschutz natürlich Ehrensache ist. Er kostet sie zwar etwas, aber nicht derart viel, dass es ihnen tatsächlich wehtun oder sich stark auf die eigene Lebensführung auswirken würde. Gleichzeitig ist dies das Milieu nicht nur der sozioökonomisch am besten Gestellten, sondern auch derjenigen mit dem größten ökologischen Fußabdruck. Das ist eine verquere Konstellation, denn die Leute werden repräsentiert von einer parteipolitischen Kraft aus demselben Milieu, die sich als Speerspitze ökologischen Denkens und Handelns versteht. Ich verurteile das nicht, es ist schlicht die politisch-soziale Realität; doch im Grunde genommen gibt es aus nachvollziehbaren Gründen keine Trägergruppe für eine radikale sozialökologische Transformationsstrategie, die nötig wäre, um »Heimatschutz« wirklich zu globalisieren.

In Zeiten, in denen sich eine globale Elite problemlos zwischen verschiedenen Städten bewegt, während zugleich andere es sich nicht mehr leisten können, in der Stadt ihrer Wahl zu wohnen, stellt sich die Frage: Ist Heimat etwas, das man sich leisten können muss?

Ja, ist es. Allerdings suggeriert Heimat als Konzept immer eine soziale Homogenität. Heimat ist zwar auch ein territorialer Raum, doch vor allem ein Sozialraum der Gleichen. Darin kommen Klassenunterschiede oder soziale Differenzierungen nicht vor. Man ist unter sich. Das Heimatkonzept blendet in solchen Lokalräumen die zum Teil gravierenden sozialen Ungleichheiten aus. Auch in der oberbayerischen Heimat, in der alles blendend scheint, gibt es natürlich arme Rentnerinnen neben jenen Jetsettern aus Traunstein, die am Wochenende von München nach Wien fliegen, um dort die Oper zu besuchen. Von daher blendet der Begriff »Heimat« systematisch soziale Strukturdifferenzen aus. Aus der globalen Perspektive muss man sich leisten können, auf die Unantastbarkeit seiner Heimat zu pochen oder diese wiederherzustellen. Gleichzeitig gibt es diejenigen, die alternative Konzepte von Heimat leben – und dort hat die Kosmopolitismus-Kritik einen Punkt. Zu jenen Milieus, die ihre Transnationalität zelebrieren und als Distinktionsmerkmal einsetzen, die große Stücke darauf halten, wie weltgewandt sie sind, lässt sich sagen: Solch eine Form der Heimat, nämlich überall zu Hause zu sein, ist nicht allen gegeben. Oder umgekehrt ausgedrückt: Mehr noch vielleicht als Heimat muss man sich im Hinblick auf kulturelles, soziales, ökonomisches, auch korporales Kapital Heimatlosigkeit in der Tat leisten können.

Das Gespräch führten Marika Przybilla-Voß, Jöran Klatt und Luisa Rolfes.

Seite ausdrucken Download als PDF

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018