Was ist heute links? Zehn Leitbilder für eine moderne Linke

Von Uli Schöler

Als sich vor hundert Jahren die kriegskritischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in einer eigenständigen Partei, der USPD, zusammenschlossen (nachdem ihre parlamentarischen Vertreter im Reichstag aus der gemeinsamen sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen worden waren), zweifelte gewiss niemand daran, dass sich hier mit den Unabhängigen die Linken von den Rechten, den Mehrheitssozialdemokraten, trennten.[1]

Doch so eindeutig dieser Befund sowohl zeitgenössisch wie retrospektiv erscheint, so verschwommen wird es dann doch gleich wieder, wenn man den Fokus des Blicks ein Stück erweitert. Wenn nun also die USPD die politische Linke bildete, wo war dann in der politischen Geografie die kleine Gruppe des Spartakusbundes zu verorten, wo die sogenannten Bremer Linksradikalen mit ihrer eher antiparlamentarischen politischen Einstellung? Und, um die erste Verwirrung auf die Spitze zu treiben: Waren es eher die Traditionen des russischen oder französischen Anarchismus und Syndikalismus oder die des russischen Bolschewismus, die darüber hinaus als die eigentliche Variante einer originär linken Positionsbestimmung in der europäischen Arbeiterbewegung zu gelten hätten?

Die historische Frage der Ziele und Mittel

Da wir uns hier der Frage nähern wollen, was heute (noch?) links ist, soll und kann diesen nur grob skizzierten Differenzierungen in der Frühgeschichte der politischen Arbeiterbewegung nicht mit angemessener Tiefenschärfe nachgegangen werden. Festzuhalten ist jedoch der Gesichtspunkt, dass sich alle bislang genannten Strömungen, Gruppen und Fraktionen unterschiedslos selbst als gesellschaftspolitisch links empfanden und definierten.

Und sicher lässt sich auch eine ganze Reihe von programmatischen Essentials ausmachen, die ungeachtet der jeweiligen fraktionellen Zugehörigkeit gewissermaßen zum »Kanon« dessen gehörten, was eine zeitgenössische linke Identität ausmachte. Zweifellos bildete dabei den Kern die Orientierung auf eine Transformation der bestehenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Richtung auf eine sozialistische (und perspektivisch kommunistische) Ökonomie bzw. Gesellschaftsformation. In dieser Abstraktheit wurde das Ziel von nahezu allen Parteien und Gruppen geteilt – verbunden mit einem mal mehr, mal weniger historisch-materialistisch bzw. hegelianisch gestützten Geschichtsoptimismus.

Differenzen erheblicher Art bestanden jedoch schon hinsichtlich einer ganzen Reihe strategischer Einzelfragen: Soll die Umwälzung revolutionär- abrupt und im Zweifelsfall auch gewaltsam oder graduell-organisch, auf der Basis demokratischer Mehrheitsentscheidungen, erfolgen? Sind nur letztere oder auch von kleinen berufsrevolutionären Gruppen ausgeführte Umstürze legitim? Steht am Ende ein System dezentralisierter, wirtschaftsdemokratischer Grundeinheiten, oder lenkt der Staat künftig die Ökonomie? Und: Ist das eine oder das andere dabei »links«? Es existieren also unterschiedliche Parameter, angesichts derer der Grad des »Linksseins « vermessen wurde und bis heute vermessen wird: hier der Gradmesser der Durchsozialisierung von Ökonomie und Gesellschaft, dort die Entgegensetzung von autoritären versus libertären Transformations- wie Ordnungsvorstellungen.

Schließlich (um nur zwei weitere Schlüsselfragen zu streifen, in denen sich diese Parameter ebenfalls widerspiegeln): Abstrakt bekannten sich nahezu alle diese Gruppen zu einem proletarischen, perspektivisch menschheitsumspannenden solidarischen Internationalismus. Der Ausbruch des Weltkriegs manifestierte allerdings schonungslos die Brüchigkeit dieser Haltungen, die ihre Feuerprobe angesichts der jeweiligen Verwurzelungen in den je eigenen nationalen Traditionen und Bindungen nicht bestanden.

Und auch in der Frage, wie künftig das gesellschaftliche Zusammenleben von Männern und Frauen, Jungen und Alten, Einheimischen und Fremden, von Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und anderes mehr zu regeln sein werde, erwies sich das Linkssein der zeitgenössischen politischen Linken (aus heutiger Sicht betrachtet) doch noch arg unterentwickelt. Mit August Bebels »Die Frau und der Sozialismus« (und insbesondere späteren Arbeiten Otto Rühles) verfügte man zwar über eine Art Grundkanon emanzipatorischer Zukunftsvorstellungen auch in Geschlechterfragen – doch griffen diese allenfalls partiell in der Theorie (aber schon gar nicht in der Praxis) über den Horizont einer zutiefst patriarchalisch und paternalistisch geprägten Gesellschaft und Kultur hinaus.

Konjunkturen linker Selbstvergewisserung

Damit soll nicht verkannt werden, dass sich hier – wenn man den vergleichenden Blick auf die Gesamtheit der zeitgenössischen Gesellschaft und ihre Bewusstseinslagen einbezieht – gleichwohl die am weitesten fortgeschrittenen politischen Vorstellungen zu den genannten Herausforderungen manifestierten. Das gilt sogar für manchen Aspekt eines ökologischen Verständnisses emanzipatorischer Politik.

Mit den durch die unterschiedlichen Haltungen zum Weltkrieg und zu den Ergebnissen der russischen Revolutionen ausgelösten und zementierten Spaltungen hat sich – parallel zum weltpolitisch bipolaren System des späteren Kalten Krieges – eine Dichotomie verfestigt, die (trotz mancher Veränderungen und Differenzierungen) bis heute anhält. Ungeachtet dessen blieb die Gretchenfrage: »Was ist heute links?«, über die Jahrzehnte hinweg virulent. Für die meisten Strömungen und Gruppen – seien sie sozialdemokratisch, linkssozialistisch oder kommunistisch geprägt, ja selbst für die neu entstehenden ökologischen Gruppen und Parteien – behielt das Linkssein lange ein identitäres Moment.

Dieser Zusammenhang lässt sich schon daran ablesen, dass seit den frühen 1960er Jahren Bücher unter dem Titel der zitierten Frage erschienen, in denen politisch gebundene wie ungebundene Akteure und Intellektuelle sich an Definitions- und Klärungsversuche machten. Während der Sammelband von Horst Krüger zu Beginn der 1960er Jahre noch singulär dasteht, beginnt mit der Positionsbestimmung des »austromarxistisch« geprägten Josef Hindels (1970) für die 1970er Jahre eine fast fieberhafte Suche danach, was denn die oder das Linke noch ausmache, etwa mit der Dokumentation der ersten Tagung der neuen Zeitschrift L 76 mit osteuropäischen Schriftstellern und Dissidenten 1978, dem Sammelband des Konkret-Herausgebers Gremliza 1980 oder dem Sonderheft der Berliner Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation 1981.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017