Was ist heute links? Zehn Leitbilder für eine moderne Linke

Von Uli Schöler

Als sich vor hundert Jahren die kriegskritischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in einer eigenständigen Partei, der USPD, zusammenschlossen (nachdem ihre parlamentarischen Vertreter im Reichstag aus der gemeinsamen sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen worden waren), zweifelte gewiss niemand daran, dass sich hier mit den Unabhängigen die Linken von den Rechten, den Mehrheitssozialdemokraten, trennten.[1]

Doch so eindeutig dieser Befund sowohl zeitgenössisch wie retrospektiv erscheint, so verschwommen wird es dann doch gleich wieder, wenn man den Fokus des Blicks ein Stück erweitert. Wenn nun also die USPD die politische Linke bildete, wo war dann in der politischen Geografie die kleine Gruppe des Spartakusbundes zu verorten, wo die sogenannten Bremer Linksradikalen mit ihrer eher antiparlamentarischen politischen Einstellung? Und, um die erste Verwirrung auf die Spitze zu treiben: Waren es eher die Traditionen des russischen oder französischen Anarchismus und Syndikalismus oder die des russischen Bolschewismus, die darüber hinaus als die eigentliche Variante einer originär linken Positionsbestimmung in der europäischen Arbeiterbewegung zu gelten hätten?

Die historische Frage der Ziele und Mittel

Da wir uns hier der Frage nähern wollen, was heute (noch?) links ist, soll und kann diesen nur grob skizzierten Differenzierungen in der Frühgeschichte der politischen Arbeiterbewegung nicht mit angemessener Tiefenschärfe nachgegangen werden. Festzuhalten ist jedoch der Gesichtspunkt, dass sich alle bislang genannten Strömungen, Gruppen und Fraktionen unterschiedslos selbst als gesellschaftspolitisch links empfanden und definierten.

Und sicher lässt sich auch eine ganze Reihe von programmatischen Essentials ausmachen, die ungeachtet der jeweiligen fraktionellen Zugehörigkeit gewissermaßen zum »Kanon« dessen gehörten, was eine zeitgenössische linke Identität ausmachte. Zweifellos bildete dabei den Kern die Orientierung auf eine Transformation der bestehenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Richtung auf eine sozialistische (und perspektivisch kommunistische) Ökonomie bzw. Gesellschaftsformation. In dieser Abstraktheit wurde das Ziel von nahezu allen Parteien und Gruppen geteilt – verbunden mit einem mal mehr, mal weniger historisch-materialistisch bzw. hegelianisch gestützten Geschichtsoptimismus.

Differenzen erheblicher Art bestanden jedoch schon hinsichtlich einer ganzen Reihe strategischer Einzelfragen: Soll die Umwälzung revolutionär- abrupt und im Zweifelsfall auch gewaltsam oder graduell-organisch, auf der Basis demokratischer Mehrheitsentscheidungen, erfolgen? Sind nur letztere oder auch von kleinen berufsrevolutionären Gruppen ausgeführte Umstürze legitim? Steht am Ende ein System dezentralisierter, wirtschaftsdemokratischer Grundeinheiten, oder lenkt der Staat künftig die Ökonomie? Und: Ist das eine oder das andere dabei »links«? Es existieren also unterschiedliche Parameter, angesichts derer der Grad des »Linksseins « vermessen wurde und bis heute vermessen wird: hier der Gradmesser der Durchsozialisierung von Ökonomie und Gesellschaft, dort die Entgegensetzung von autoritären versus libertären Transformations- wie Ordnungsvorstellungen.

Schließlich (um nur zwei weitere Schlüsselfragen zu streifen, in denen sich diese Parameter ebenfalls widerspiegeln): Abstrakt bekannten sich nahezu alle diese Gruppen zu einem proletarischen, perspektivisch menschheitsumspannenden solidarischen Internationalismus. Der Ausbruch des Weltkriegs manifestierte allerdings schonungslos die Brüchigkeit dieser Haltungen, die ihre Feuerprobe angesichts der jeweiligen Verwurzelungen in den je eigenen nationalen Traditionen und Bindungen nicht bestanden.

Und auch in der Frage, wie künftig das gesellschaftliche Zusammenleben von Männern und Frauen, Jungen und Alten, Einheimischen und Fremden, von Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und anderes mehr zu regeln sein werde, erwies sich das Linkssein der zeitgenössischen politischen Linken (aus heutiger Sicht betrachtet) doch noch arg unterentwickelt. Mit August Bebels »Die Frau und der Sozialismus« (und insbesondere späteren Arbeiten Otto Rühles) verfügte man zwar über eine Art Grundkanon emanzipatorischer Zukunftsvorstellungen auch in Geschlechterfragen – doch griffen diese allenfalls partiell in der Theorie (aber schon gar nicht in der Praxis) über den Horizont einer zutiefst patriarchalisch und paternalistisch geprägten Gesellschaft und Kultur hinaus.

Konjunkturen linker Selbstvergewisserung

Damit soll nicht verkannt werden, dass sich hier – wenn man den vergleichenden Blick auf die Gesamtheit der zeitgenössischen Gesellschaft und ihre Bewusstseinslagen einbezieht – gleichwohl die am weitesten fortgeschrittenen politischen Vorstellungen zu den genannten Herausforderungen manifestierten. Das gilt sogar für manchen Aspekt eines ökologischen Verständnisses emanzipatorischer Politik.

Mit den durch die unterschiedlichen Haltungen zum Weltkrieg und zu den Ergebnissen der russischen Revolutionen ausgelösten und zementierten Spaltungen hat sich – parallel zum weltpolitisch bipolaren System des späteren Kalten Krieges – eine Dichotomie verfestigt, die (trotz mancher Veränderungen und Differenzierungen) bis heute anhält. Ungeachtet dessen blieb die Gretchenfrage: »Was ist heute links?«, über die Jahrzehnte hinweg virulent. Für die meisten Strömungen und Gruppen – seien sie sozialdemokratisch, linkssozialistisch oder kommunistisch geprägt, ja selbst für die neu entstehenden ökologischen Gruppen und Parteien – behielt das Linkssein lange ein identitäres Moment.

Dieser Zusammenhang lässt sich schon daran ablesen, dass seit den frühen 1960er Jahren Bücher unter dem Titel der zitierten Frage erschienen, in denen politisch gebundene wie ungebundene Akteure und Intellektuelle sich an Definitions- und Klärungsversuche machten. Während der Sammelband von Horst Krüger zu Beginn der 1960er Jahre noch singulär dasteht, beginnt mit der Positionsbestimmung des »austromarxistisch« geprägten Josef Hindels (1970) für die 1970er Jahre eine fast fieberhafte Suche danach, was denn die oder das Linke noch ausmache, etwa mit der Dokumentation der ersten Tagung der neuen Zeitschrift L 76 mit osteuropäischen Schriftstellern und Dissidenten 1978, dem Sammelband des Konkret-Herausgebers Gremliza 1980 oder dem Sonderheft der Berliner Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation 1981.

Die Epochenwende der Jahre 1989 bis 1991, mit dem Fall der Mauer, der Implosion der Sowjetunion und dem offenkundigen Scheitern des sich in ihr manifestierenden staatssozialistischen Systems, hat das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein all derer, die sich einmal stolz als »Linke« verstanden hatten, nachhaltig irritiert und vielfach eliminiert. War es in früheren Jahrzehnten durchaus chic, links zu sein, ist es heute eher Anlass zur erläuternden Rechtfertigung, wenn nicht Entschuldigung.

Hatte Willy Brandt seine Autobiografie noch selbstbewusst unter dem Titel »Links und frei« präsentiert, ist der Zeitgeist heute keineswegs mehr links. Horst Dietzel nannte seinen 1991 im PDS-nahen Dietz-Verlag erschienenen Sammelband »Was ist heute links?« denn auch ein »Diskussionsangebot«. Eine erste gleichnamige Antwort aus sozialdemokratischer Sicht versuchte – mit Blick auf die Revolution in Mittel- und Osteuropa – 1991 Peter Glotz. Es dauerte eineinhalb Jahrzehnte, bis Erhard Eppler 2006 und die damalige Vorsitzende der Jungsozialisten, Franziska Drohsel, 2009 sich erneut dieser Frage annahmen.

Sind die Linken überhaupt noch links?

Nun also, nochmals knapp zehn Jahre später: »Was ist heute links?« Eine summarische Antwort vorweg: Das, was 1917 nur auf den ersten Blick einfach zu sein schien, ist nochmals dramatisch schwieriger geworden. Und mit Blick auf die politischen Akteure (nur in Deutschland) kommt hinzu: Die große, traditionelle Partei der politischen Linken, die SPD, weiß selbst nicht mehr, ob sie noch links sein möchte. Ähnliches gilt für die Grünen. Wahlen, so lautet die zu hinterfragende »Binsenweisheit«, werden in der Mitte gewonnen. So lässt sich mit Blick auf die beiden zuletzt verabschiedeten Grundsatzprogramme der SPD (Berlin 1989, Hamburg 2007) sicher noch von einer »linken« Programmatik sprechen. Es wäre jedoch vermessen, wollte man in ihnen gewissermaßen die Leitvorstellungen erkennen, an denen sich das alltagspraktische Handeln sozialdemokratischer Akteure ausrichten würde.

Daneben existiert nun schon seit Längerem eine Partei, die nach diversen Häutungen und Umbenennungen den Begriff des Linken in ihrem Namen trägt, deren »Linkssein« jedoch in verschiedener Hinsicht ebenfalls zu hinterfragen ist und deren politische Positionierung gelegentlich an die unterkomplexe Übertragung von Antworten der 1970er Jahre auf Problemkonstellationen des 21. Jahrhunderts erinnert. Dazu reicht der exemplarische Blick auf zwei Themenfelder: Der vermeintlich »internationalistische« Standpunkt, den die Partei mit Blick auf die diversen Krisenherde insbesondere im Nahen Osten und der arabischen Welt einnimmt, ist in Wahrheit eher ein isolationistischer. Er verweigert mit der strikten Ablehnung auch jedweder UN-mandatierten Friedenseinsätze die Auseinandersetzung mit der Frage, wie bedrohten Bevölkerungsgruppen auf alternative Weise konkrete Nothilfe geleistet werden kann. Der – partiell sicher zutreffende – Verweis auf die auslösende »Schuld« der USA und des Westens blendet andere Ursachen aus und gibt den um ihr Leben kämpfenden und in ihrer Existenz bedrohten Menschen weder Antwort noch Hilfe und Perspektive.

Auch die vielfach bei der Linkspartei anzutreffenden antieuropäischen Reflexe verweigern sich der Frage, auf welche andere Weise sich unter globalisierten Bedingungen politische Einhegungen entgrenzter ökonomischer Prozesse organisieren lassen. Die – ebenfalls partiell berechtigte – Kritik an einzelnen Mechanismen und Maßnahmen europäischer Politik, die im Ergebnis in Verweigerungs- oder Ausstiegsvorschläge mündet, blendet aus, dass diese politischen Maßregeln das Ergebnis von Aushandlungsprozessen von fast dreißig demokratisch gewählten nationalen Regierungen sind. Es wird so getan, als könne man von diesen vielfältige politische wie nationale Interessen repräsentierenden Akteuren schlicht die eigene »richtige« Haltung abfordern. Werden die Ergebnisse dieser Aushandlungsprozesse aber per singulär-nationaler Entscheidung über den Haufen geworfen, bleibt nur die Nachahmung des britischen Wegs des »Brexit«.

Tastversuche, Annäherungen

Was also ist heute links? Hier sind zunächst leider nochmals weitere Vorbemerkungen zu machen. Erst langsam, gewissermaßen eine ganze Generation nach dem Epochenwechsel 1989 bis 1991, wächst allmählich auch bei den Jüngeren das Bedürfnis nach neuen, alternativen Antworten, die auch über das Gewohnte, über den für selbstverständlich gehaltenen Kapitalismus hinausweisen. Dazu haben sicherlich die Erfahrungen mit der US-amerikanischen Immobilien- und Bankenkrise 2008 ff. und ihren Auswirkungen auf und in Europa beigetragen. Allzu schnell war in den Jahren danach allerdings die Rede davon, dass der Neoliberalismus am Ende sei. Stattdessen dominiert er mit seinen Deutungen und Lösungsmustern bis heute den größeren Teil der öffentlich wahrnehmbaren ökonomischen Fachdebatte wie die Beiträge des in Politik und Medien führenden Personals.

Es wäre also vermessen, würde man bereits von einer entwickelten Debatte über neue linke Identitäten sprechen. Von einem wahrnehmbaren, sinnstiftenden Diskurs, getragen von öffentlich beachteten linken Intellektuellen, kann nicht ernsthaft die Rede sein. Insofern stellt auch vorliegender Beitrag nicht mehr als eine bescheidene Wortmeldung dar, die angesichts der komplizierter gewordenen Problemlagen und geschrumpfter Gewissheiten mit Fug und Recht aufgrund anderer Einsichten und Erfahrungszusammenhänge für verfehlt gehalten werden und Widerspruch hervorrufen mag. Das Zeitalter vermeintlich gesicherter Wahrheiten hat sowieso – und aus guten Gründen – ein Ende gefunden.

Daher beginnt die Antwort auch mit einer Negativabgrenzung. Mit dem Scheitern des »Großversuchs« eines verstaatlichten Sozialismus zwischen 1917 und 1991 können neuerliche Versuche sozialistischer Konzepte, die auf durchstaatlichte Ökonomien hinauslaufen, nicht mehr den Anspruch des Linken für sich geltend machen. Hinzu kommt, dass im Kontext von Globalisierung und kapitalistischer Internationalisierung alle Konzepte nationalstaatlicher Sozialismusvorstellungen obsolet geworden sind. Schaut man erneut zurück auf das, was wir für 1917 als den gemeinsamen Kanon, als die Essenz des Linksseins der damaligen Parteien und Gruppen ausgemacht haben, so lässt sich nur feststellen, dass hier eine Leerstelle entstanden ist, die komplett neu zu füllen ist.

Schon mit Blick darauf und unter Einbeziehung der Tatsache, dass der sozialistischen Bewegung aufgrund der sozialstrukturellen Veränderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den entwickelten Ländern des Westens ihr »historisches Subjekt« (eine zur Mehrheit werdende, hegemoniefähige Arbeiterklasse) unwiderruflich verloren gegangen ist, stellt sich die Grundfrage des Linksseins heute völlig neu.

Soll die Antwort darauf nicht ein schlichter »utopiefreier« Pragmatismus sein, welcher der Komplexität heutiger Problemkonstellationen ganz sicher auch nicht gerecht wird, kann die Konsequenz daraus nur sein, für die unterschiedlichen Bereiche des Ökonomischen wie des Gesellschaftlichen und Kulturellen Zukunftsvorstellungen mittlerer Reichweite zu entwickeln, die so angelegt sein müssen, dass in ihnen die Reversibilität jeglicher Schritte, als Teil einer reflexiven Moderne, angelegt ist. Zudem muss jeder Handlungsvorschlag in einer sich befruchtenden Wechselwirkung zu den Konzepten in den jeweiligen anderen Politikfeldern stehen.

Internationalismus

In dieser Hinsicht ist deshalb hier von »Leitbildern« die Rede, weil Politik im 21. Jahrhundert nicht mehr paternalistisch für, sondern nur mit den Menschen gemacht werden kann, zugleich aber ihre mediale Übersetzung in Bilder in einer zunehmend zur Mediengesellschaft gewordenen Wirklichkeit unabweisbar dazugehört. Dabei beanspruchen die im Folgenden aufgeführten zehn Leitbilder für eine moderne Linke keinerlei Exklusivität, decken notwendigerweise nicht alle relevanten Fragestellungen oder Herausforderungen ab.

Beginnen wir mit dem Schwierigsten (oder in den Worten Bill Clintons: »It’s the economy, stupid!«): Links ist heute diejenige politische Kraft, der es gelingt, ein für die einzelne Bürgerin, den einzelnen Bürger fassliches, nachvollziehbares Leitbild für eine anzustrebende Neustrukturierung der internationalen Finanzarchitektur zu entwerfen. Das ist leichter geschrieben als getan. Hier reicht nicht der gängige Verweis auf die Einführung einer sogenannten Transaktionssteuer (Tobinsteuer), deren Reichweite der Dimension der Aufgabe alleine sicher nicht gerecht wird. Es reicht auch nicht der gelegentlich von Teilen der Linkspartei wiederholte Vorschlag einer Verstaatlichung nationaler Banken. Erforderlich ist vielmehr der Entwurf eines Modells internationaler Finanzarchitektur, bei dem bereits vorhandene Institutionen wie Weltbank, IWF, WTO und ILO in ihren Kompetenzen so gestärkt werden, dass sie in ihrer Reichweite zu gleichberechtigten Gegenspielern global agierender Konzerne werden. Mit dieser Kompetenzausweitung nach außen Kontrollinstanzen) nach innen einhergehen. Zu beobachten ist aktuell jedoch leider, dass auch Teile der politischen Linken die Ausweitung der internationalen Handelsregime (TTIP, CETA) ausschließlich zur Handelsliberalisierung und nicht zugleich zur Ausweitung regulatorischer Kompetenzen der Politik nutzen, eher noch an deren Abbau mitwirken.

Links ist heute die politische Kraft, die es vermag, ein Leitbild für eine internationale Weltgemeinschaft unter dem Dach der UNO zu entwerfen, die sich in ihren Aktivitäten an den selbst gesetzten Zielen der unveräußerlichen Menschenrechte orientiert und dafür neue Entscheidungsstrukturen findet. Der Sicherheitsrat mit seiner inneren Dauerblockade ist ein Konstrukt und Relikt des längst überwundenen Kalten Krieges; er repräsentiert nicht mehr die veränderten internationalen Realitäten auf diesem Globus. Gefordert ist dabei kein aktionistischer Menschenrechtsinterventionismus, sondern die verantwortliche politische Orientierung an den eigenen Maßstäben im Rahmen regionaler Handlungskonzepte.

Links ist heute die politische Kraft, die in der Lage ist, ein Leitbild für eine globalisierte Welt, in der Armut und Terrorismus wirksam bekämpft werden können, zu entwerfen. Dies ist eine gleichermaßen ambitionierte Aufgabe, in der internationale wie nationale Sicherheitsmaßnahmen ineinander greifen müssen. Sie verlangt zudem, dass wir, die Bewohner des immer noch reichen Nordens und Westens, unseren Reichtum, unser Lebensmodell und unser Verständnis von Fortschritt radikal infrage stellen und stellen lassen. Denn es ist immer noch die überwiegende Zahl der Menschen auf diesem Globus, die auf den drei Kontinenten Asien, Lateinamerika und Afrika unter vielfach menschenunwürdigen Verhältnissen lebt. Aber nur wenn diese Bereitschaft zum Teilen unseres Reichtums mit anderen Regionen dieses Globus entwickelt wird, besteht längerfristig Hoffnung, dass dem internationalen, vielfach religiös bemäntelten Terrorismus der Nährboden entzogen wird. Und nur so ist eine Regionalentwicklung u. a. im arabischen Raum oder in der Subsahara denkbar, die für viele Menschen den Auswanderungsdruck reduziert und damit zugleich den Zuwanderungsdruck für Europa vermindert.

Links ist heute die politische Kraft, die es vermag, ein neues Leitbild für eine ins Stocken geratene Europäische Union zu entwerfen. So richtig es ist, dass die EU das supranationale Regionalkonzept ist, das für die betroffene Region am längsten Frieden und ökonomischen wie sozialen Wohlstand abgesichert hat, so gefährdet ist dieses Projekt auch aufgrund fortdauernder Strukturdefizite – der Brexit ist nur der signifikanteste Beleg. Nach dem Scheitern der europäischen Verfassung wurde die Union zu schnell erweitert, ohne zugleich, unter dem Stichwort Vertiefung, jene Mechanismen zu entwickeln, die Handlungsfähigkeit ohne Erpressungspotenziale einzelner Mitgliedsstaaten garantieren würden. Zudem ist die Union ein Projekt nationaler Eliten geblieben und bedarf daher dringend einer weiter voranschreitenden inneren Demokratisierung, damit sich die Bürgerinnen und Bürger mit den Entscheidungen identifizieren können. Nur wenn die Dimensionen eines sozialen Europa und die Handlungsspielräume demokratisch legitimierter Akteure erkennbar und fassbar werden, verlieren die Menschen die Angst, dass das Projekt Europa nur Teil einer Entwicklung ist, die den Gestaltungsspielraum der Konzerne sowie Aktionäre verbreitert, ihre eigenen Arbeitsplätze und ihren Wohlstand dagegen bedroht.

Ökologie und Technik

Links ist heute die politische Kraft, der es gelingt, ein Leitbild für eine klimaund naturverträgliche Lebensperspektive für unseren Globus zu entwickeln. Mit den zahllosen Klimakonferenzen der jüngeren Vergangenheit liegt hierzu gewiss bereits eine ganze Reihe wichtiger Bausteine vor: eine Abkehr von der Verfeuerung klimaschädlicher fossiler Brennstoffe, ein Ausstieg aus der nicht beherrschbaren Kernenergie und der Übergang zu einer ressourcenschonenden Subsistenz- und Kreislaufwirtschaft, die Vermeidung gigantischer Transportwege für Lebensmittel und andere Produkte des täglichen Gebrauchs durch die Stärkung heimischer Produktion und Fertigung und vieles mehr. Zur Entwicklung eines derartigen Leitbildes gehört auch, Vorschläge für die Alltagspraxis der Bürgerinnen und Bürger zu entwickeln, mit denen sie sich in eine derartige Zielperspektive aktiv einbringen können.

Links ist heute die politische Kraft, der es gelingt, auch im nationalen Rahmen ein Leitbild für einen neuen ressourcenschonenden Produktionszyklus zu entwickeln. Dauerhaft sind unter globalisierten Bedingungen Arbeitsplätze nur dann zu generieren und mittelfristig zu erhalten, wenn ein Staat und seine Ökonomie an den technologischen Entwicklungen im Rahmen eines neuen Kondratieff-Zyklus führend beteiligt sind. Gerade Deutschland ist darauf besonders angewiesen, da sein Potenzial nicht in Rohstoffen und Bodenschätzen, sondern vor allem in den Köpfen steckt.

Gesellschaftspolitische Perspektiven

Links ist heute die politische Kraft, die in der Lage ist, ein neues Leitbild für den einzigen noch fast unreguliert funktionierenden Lebens- und Kommunikationsraum zu entwerfen: das Internet. Dieses stellt mittlerweile eine immer stärker werdende ökonomische Macht dar, die sich bislang erfolgreich nahezu jeglicher Kontrolle entzogen hat: Die Internet-Konzerne zahlen kaum Steuern, Datenmissbrauch und -manipulation nehmen mit galoppierender Geschwindigkeit zu, von einer rechtlichen Einhegung, gar Ahndung strafrechtlich relevanter Sachverhalte (wie Kinderpornografie und Kindesmissbrauch, Verletzung des Datenschutzes, Verleumdungs- und Beleidigungsaktivitäten im großen Maßstab) kann ernsthaft nicht die Rede sein. Gefragt ist sicher nicht eine »Maschinenstürmerei« des 21. Jahrhunderts, sehr wohl allerdings die ernsthafte Entwicklung von Konzepten eines rechtlich einzuhegenden Raumes. Dazu gehört auch die überfällige Entwicklung eines Bewusstseins für einen gesellschaftlich verträglichen Umgang mit den Gefahren, die im Hinblick auf die Ressourcen Solidarität und kommunikative Interaktion vom Internet ausgehen – eine zutiefst pädagogische Aufgabe für jede Gesellschaft. Politische Akteure, die nur Datenströme und -leitungen beschleunigen, sich aber nicht um die mit den neuen Kommunikationsmedien einhergehenden Vereinzelungsprozesse kümmern, sind vielleicht modern, aber nicht links.

Links ist heute die politische Kraft, die in der Lage ist, ein Leitbild für ein neues Verhältnis von Familie und Beruf zu entwerfen, darin eingeschlossen der Neuentwurf eines gesellschaftlichen Normalarbeitsverhältnisses, das jenseits des immer noch die heutigen Vorstellungen wie die Tarifverträge prägenden männlichen Familienernährers mit Hausfrauenehe bzw. kleinem Zuverdienst der Partnerin liegt. Kürzere Gesamtarbeitszeiten für Paare (bei möglichst gleicher Verteilung) müssten neben auskömmliche Arbeitsformen für Singles und Alleinerziehende treten. In dieser Aufgabe steckt mehr, als auf den ersten Blick erkennbar sein dürfte: Gravierende systemische Umstellungen wären und sind dabei erforderlich für das gesamte Steuersystem, die sozialversicherungsrechtlichen Absicherungen wie die kulturell-sozialen Begleitinstitutionen (Kindergärten, Schulen, Weiterbildungseinrichtungen). Ergänzt werden müsste dieses Leitbild um eine so realistische wie kreative Antwort auf die Herausforderungen der künftigen digitalen Veränderungen in den meisten Arbeitsbeziehungen – eine Debatte, die unter dem Stichwort Arbeit 4.0. langsam Fahrt aufnimmt.

Links ist heute die politische Kraft, die es vermag, ein neues Leitbild für den Sozialstaat zu entwerfen. Die bisherige, dem Prinzip nach paritätische Finanzierung sozialversicherungsrechtlicher Absicherungen, gekoppelt an das Arbeitsverhältnis, stößt schon lange an ihre Grenzen und verschärft unablässig den Rationalisierungsdruck auf lebendige Arbeit. Steuerfinanzierte Bürgerversicherungsmodelle werden schon länger diskutiert, scheitern aber bislang immer am Mut, die sicher enormen Umsteuerungskosten zu akzeptieren und den Einstieg zu wagen. Dazu würde gehören, systemische Konsequenzen aus einem sich sozialstrukturell dramatisch verändernden Gesellschaftsaufbau zu ziehen: Ohne veränderte Anreize für attraktive Strukturen wie Bezahlungen im Bereich von Altenpflege, wie Kinderbetreuung, wird unsere Gesellschaft ihren künftigen Herausforderungen nicht gerecht werden. Ähnliches gilt für drohende Altersarmut.

Und last but not least: Links ist die politische Kraft, der es gelingt, all diese Leitbilder wirklich in textlicher wie visualisierter Form in zugleich verständlicher Weise für den »Normalbürger« zu präsentieren und glaubhaft nachvollziehbar zu machen. Und die in der Lage ist, diese Leitbilder zu Projekten werden zu lassen, für die diese Bürgerinnen und Bürger selbst bereit sind einzutreten, Risiken auf sich zu nehmen und dadurch selbst für eine bessere Zukunft zu streiten.

Anmerkungen:

[1] Vgl. zu vielen der in diesem Essay angesprochenen Gesichtspunkte vielfältig differenzierter und ausführlicher die jüngste Publikation des Autors: Herausforderungen an die Sozialdemokratie, Essen 2016.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017