Vom Moderaten zum polarisierten Pluralismus Wie integratiopnsfähig ist das deutsche Parteiensystem?

Von Frank Decker  /  Fedor Ruhose

Die jüngste Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems kennzeichnet eine bemerkenswerte Ambivalenz: Auf der einen Seite verlieren die einstmals systemprägenden Volksparteien Union und SPD dramatisch an Zustimmung. Konnten beide Parteien zusammengenommen vor vierzig Jahren 80 Prozent und vor zwanzig Jahren immerhin noch 60 Prozent der Wähler an sich binden, so ist die Quote bei der Bundestagswahl 2017 auf 40 Prozent gesunken. Gleichzeitig hat sich die Repräsentations- und Integrationsfähigkeit des Parteiensystems seit Mitte der 2010er Jahre verbessert: 2017 waren nurmehr 30 Prozent der Wahlberechtigen nicht im Parlament vertreten; 2013 hatte der entsprechende Wert noch bei fast 45 Prozent gelegen. Maßgeblich für die erhöhte Repräsentanz waren der deutliche Wiederanstieg der Wahlbeteiligung sowie der geringere Anteil nicht berücksichtigter Stimmen infolge der Fünf-Prozent-Hürde.

Sichtbarster Ausdruck des Parteiensystemwandels ist die Etablierung einer neuen Partei am rechten Rand, der Alternative für Deutschland, die seit 2014 den Einzug in sämtliche Landtage, den Bundestag sowie das Europaparlament geschafft hat. Nachdem sich Fragmentierungstendenzen in der Parteienlandschaft schon vorher aufgebaut hatten und das einstmals yperstabile Zweieinhalbparteiensystem aus Union, SPD und FDP durch das Hinzutreten der Grünen ab Beginn der 1980er Jahre und der PDS ab den 1990er Jahren (aus der dann Mitte der 2000er Jahre die gesamtdeutsche Linkspartei hervorging) zu einer Fünfparteienstruktur erweitert worden war, gab das Fehlen einer rechtspopulistischen Partei in Deutschland den Forschern jahrzehntelang Rätsel auf. Warum konnten solche Parteien seit den 1980er Jahren reihum in fast allen europäischen Ländern reüssieren, aber nicht hierzulande? Die Antwort wird gewöhnlich darin gesehen, dass sich die Gelegenheitsfenster für den Rechtspopulismus erst mit dem Euro- und Flüchtlingsthema geöffnet hätten. Dies ist nicht ganz falsch, überdeckt jedoch die tieferliegenden und zeitlich weiter zurückreichenden Ursachen der Vertrauenskrise, die mit der veränderten Konfliktstruktur der heutigen postindustriellen Gesellschaft zu tun haben. […]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019