Soziale Schließung, Nonkonformismus und Protest Die Linke ist konservativ geworden und der Gestus der Revolte wird von rechts inszeniert

Von Cornelia Koppetsch

Populismus ist das Versprechen an die Außenseiter (»das Volk«), an die Macht gelangen zu können. Hierzu werden gesellschaftliche Spaltungen auf einen simplen Dualismus reduziert: Soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten verlaufen für Populisten nicht zwischen Klassen und Schichten, sondern ganz plakativ zwischen »dem Volk« und der staatstragenden Elite.[14] Dort, wo der Populismus erfolgreich ist, gelingt ihm zumeist eine Amalgamierung zweier ganz unterschiedlicher Gruppen: Die eine Gruppe sucht Zugang zur Elite und zu den Fleischtöpfen der Macht und der Privilegien; die andere fürchtet sich vor dem gesellschaftlichen Abstieg und dem Statusverlust bzw. ist bereits deklassiert worden.[15] Der eine Teil wird getragen von Hasardeuren und neuen Aufsteigerschichten, die nicht zu den alten, etablierten Gruppen gehören; der andere Teil umfasst Gruppen, die sich vom herrschenden System übervorteilt fühlen und blockierte Aufstiegschancen oder Abstiege erfahren haben. Gemeinsam ist beiden Gruppen das Ummünzen von Erfahrungen der Deklassierung oder Unterlegenheit in eine politische Protestbewegung. Von Populismus fühlen sich daher nicht so sehr die Ausgeschlossenen besonders angezogen, sondern eher sozial mobile Milieus, Menschen, die entweder deklassiert worden sind, oder Menschen, die in Machtzentren vordringen wollen und denen der Aufstieg konstant verwehrt geblieben ist.[16] Um nicht falsch verstanden zu werden: Nicht jeder Deklassierte und Desillusionierte demonstriert bei »PEGIDA« oder wählt AfD; doch wächst das Mobilisierungspotenzial populistischer Protestparteien mit der Verbreitung von Ausgrenzungspraktiken und dem Grad der moralischen »Auskühlung« gesellschaftlicher Institutionen.

Der diskursive Umgang mit dem Populismus findet hingegen weitgehend aus der Perspektive der Etablierten statt. Dadurch wird allerdings übersehen, dass dieser einer spezifischen Ratio gehorcht und von Opposition gegen genau diejenigen, die den Populismus am meisten verteufeln, getrieben ist. So gehört fast zum guten Ton und zum geläufigen Repertoire der politischen Aufklärung im linksliberalen Journalismus, die unteren Schichten für den Populismus verantwortlich zu machen und die eigene Verantwortung, die Verantwortung der jeweils Etablierten, für die Entstehung und den Erfolg des Populismus zu leugnen. In Wirklichkeit ist die Mobilisierungsbasis jedoch weitaus heterogener und umfasst Milieus auch in mittleren und gehobenen Soziallagen. Insbesondere in Deutschland finden sich unter den »PEGIDA«-Aktivisten, AfD-Wählern und AfD-Sympathisanten jeweils nicht unbeträchtliche Anteile von Gebildeten und finanziell gut Gestellten.[17]

Daraus resultiert der im Rechtspopulismus gegenwärtig zu beobachtende Modus der »dualen Schließung«[18]: Im Kampf um knappe Ressourcen reagieren seine Repräsentanten einerseits mit dem Modus der Exklusion gegenüber den von unten Nachrückenden (zum Beispiel gegenüber Migranten, aber auch gegenüber Frauen und Arbeiterkindern) und andererseits mit dem Modus der Usurpation gegenüber höhergestellten Gruppen (dem Establishment, dem Staat). Beide Modi sind als Re-Souveränisierungsstrategien zu verstehen. Exkludierende Schließung verläuft von oben nach unten, usurpatorische Schließung umgekehrt von unten nach oben. Exkludierende Schließung wird bspw. gegenüber Immigranten ausgeübt, die ursprünglich nur als »Gäste« und damit als potenzielle Heimkehrer gesehen worden sind, nun aber integriert werden sollen. Dadurch fühlen sich Teile der Bevölkerung um ihre zuvor staatlich mitgetragene oder geduldete Ausgrenzungspraxis betrogen und suchen nun die direkte Konfrontation mit dem Staat.

Die Strategie der Usurpation zeigt sich im Populismus im Streben nach politischer Macht und in der Herausbildung einer gegen das gesamte Establishment gerichteten Anti-Partei. Usurpatorische Schließung bedeutet mithin, dass eine gesellschaftliche Gruppe Macht »von unten nach oben« ausübt und so versucht, die Vorteile einer höhergestellten Gruppe zu verringern. Usurpation zeigt sich dabei eher bei den gebildeten Vertretern rechter Gruppen, in Deutschland etwa in der Politik der Tabubrüche sowie in den Hassreden der sich von rechts formierenden rechten sozialen Netzwerke und Diskussionsgruppen. Mittels Blogs, Twitter und Facebook polemisieren sie gegen die »Islamisierung des Abendlandes«, aber auch gegen die vermeintlich übergreifende »Political Correctness«, gegen sexuelle Vielfalt, Abtreibung und die Homo-Ehe. Mit diesen Invektiven zielen die Protestdiskurse ins Herz linksliberaler Gesellschaftsbilder der Etablierten. Auch die Diskreditierung der Gender-Studies als »Exzess«, »Ideologie« oder »Pseudowissenschaft« ist als Provokation an die etablierten Linken adressiert und darauf ausgerichtet, die gesellschaftliche Deutungsmacht konstruktivistischer Sichtweisen in den Sozialwissenschaften und deren Wortführerinnen an Universitäten anzugreifen. Die Rede ist von »Gender-Wahn« und »Gender-Unfug«, von »Profilierungssucht « der »Gender-Frauen«, deren illegitimer »Usurpation von Professuren und Lehrstühlen« sowie davon, dass die Gender-Studies naturwissenschaftlich bewiesene und objektive »Tatsachen« ebenso wenig zur Kenntnis nähmen wie den »gesunden Menschenverstand«.[19]

Schluss

In gesellschaftlichen Phasen des kollektiven Abstiegs oder des Postwachstums verstärken sich Tendenzen zur sozialen Schließung und auch der Konformitätsdruck steigt. Die Anpassungsleistungen, die Aspiranten auf sich nehmen müssen, um zu den Etablierten aufzuschließen, werden größer. Wenn dennoch immer mehr Personen ausgeschlossen werden, wächst das Protestpotenzial. Konformität und Nonkonformität stehen somit in einer dialektischen Beziehung: Die Etablierten hoffen, durch die Herausbildung exklusiver Verhaltensnormen ihre Privilegien zu sichern; die Newcomer versuchen, durch Anpassung an diese Verhaltensnormen zu den Etablierten aufzuschließen; und die Außenseiter sind bestrebt, die Legitimität der Etablierten durch provokative Abweichung von diesen Normen zu bestreiten, indem sie den Etablierten vorhalten, dass deren Weltbilder in erster Linie deren Machterhalt dienten. So verhalten sich rechtspopulistische Wortführer betont nonkonformistisch, indem sie an die Tabus der Kosmopoliten rühren und unverfroren ein autoritäres Gesellschaftsbild propagieren.

Der oppositionelle Nonkonformismus ist somit darauf angelegt, die Legitimität und die Vorteile der herrschenden Gruppen durch Angriffe auf deren Welt- und Selbstbilder zu bestreiten. Nonkonformismus ist, wie gesagt, mehr als nur abweichendes Verhalten: Er ist eine Haltung der ostentativen Unangepasstheit. Während deviantes Verhalten im Interesse der Gruppenmoral oftmals unter den Tisch gekehrt wird, beinhaltet Nonkonformität einen gezielten Angriff auf die Gruppennormen, der in der Regel mit einer öffentlichen Sanktionierung des aufmüpfigen Individuums beantwortet wird, wodurch sich die Gruppe der nach wie vor existierenden Gültigkeit ihrer konstitutiven Normen vergewissert.

Als politische Geste des Protests taugt nonkonformistisches Verhalten allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es kollektiv getragen wird. Individuellen Nonkonformismus kann man sich nur leisten, wenn man den Ausschluss aus der jeweiligen Gruppe, der auf das ostentative Übertreten von Normen folgt, nicht fürchtet. Dies ist zum Beispiel gegeben, wenn man den Ausschluss verschmerzen kann, weil man über Alternativen verfügt. Aber auch der Umstand, nichts mehr zu verlieren (oder zu gewinnen) zu haben, kann ein Motiv für Nonkonformität sein – etwa weil die begehrten Zugangschancen zu den exklusiven Gruppen einem trotz größter Anstrengungen verwehrt bleiben.

Nonkonformismus und Protest liegen somit nahe beieinander. Dabei ist der Nonkonformismus keineswegs immer »links« (also gut) und Konformismus von jeher rechts (also »problematisch«); auch ist links nicht immer »Protest « und rechts »konservativ«. Im Gegenteil: In der Gegenwart haben sich die Rollen zwischen Etablierten und Außenseitern vertauscht. Die Linke ist konservativ geworden und der Gestus der Revolte gegen die herrschende Ordnung wird von rechts inszeniert.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Marc Calmbach u. a., Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Wiesbaden 2016.

[2] Und nach einer im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erfolgenden Phase der Lockerung von Sitten und Umgangsformen(Cas Wouters, Informalisierung. Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert, Opladen 1999), kommt es gegenwärtig erneut zur Anhebung von Verhaltensstandards, die in aktuellen Arbeiten unter den Stichworten Selbstoptimierung, Gefühlsmanagement und Selbstunternehmertum diskutiert werden.

[3] Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzuge durch die gefährdete Mitte, Frankfurt a. M. 2013.

[4] Vgl. Raymond Murphy, Die Struktur der sozialen Schließung: Zur Kritik und Weiterentwicklung der Theorien von Weber, Collins und Parkin, in: Jürgen Mackert (Hg.), Die Theorie sozialer Schließung. Traditionen, Analysen, Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 87–109, hier S. 89.

[5] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 531.

[6] Vgl. Norbert Elias u. John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a. M. 1990.

[7] Vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016.

[8] Vgl. Heinz Bude, Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet, Hamburg 2013.

[9] Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, München 2010.

[10] Vgl. Luc Boltanski u. Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 46 ff.

[11] Vgl. Sabine Hark u. Irene-Paula Villa (Hg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzung, Bielefeld 2015.

[12] Vgl. René Cuperus, Wie die Volksparteien fast das Volk einbüßten. Warum wir den Weckruf des Populismus erhören sollten, in: Ernst Hillebrand (Hg.), Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie?, Bonn 2015, S. 149–158.

[13] Vgl. Karin Priester, Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt a. M. 2012, S. 18.

[14] Damit ist nicht nur die .politische Klasse. gemeint, sondern vielmehr auch die Repräsentanten in Öffentlichkeit, Journalismus und Kultur, die evangelischen Landeskirchen sowie die Gatekeeper in Bildungs- und Sozialsystemen.

[15] Vgl. Priester, S. 17.

[16] Vgl. ebd., S. 19 f.

[17] So finden sich unter den AfD-Wahlern der Landtage in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz über zehn Prozent, in Sachsen-Anhalt über 15 Prozent mit Hochschulreife. Zwar ist die Zustimmung bei finanziell schlecht gestellten Personen hoher als bei Personen, die ihre eigene finanzielle Lage als gut beurteilen; doch findet die AfD bei den finanziell gut Gestellten in Sachsen-Anhalt bei 27 Prozent der Wähler, in Baden-Württemberg bei immerhin 22 Prozent der Wähler Zustimmung. In Sachsen-Anhalt ist der Grad der Zustimmung zur AfD bei Personen mit Hochschulabschluss (23 Prozent) fast so hoch wie bei Personen mit Hauptschulabschluss (26 Prozent); bei Personen mit Abitur liegt er sogar bei vierzig Prozent; vgl. Yvonne Schroth, Das Abschneiden der AfD bei den Landtagswahlen am 13. Marz 2016. Gesprächskreis Zukunft der Parteiendemokratie der FES. Rechtspopulismus und Rechtsextremismus.

[18] Frank Parkin, Duale Schließung, in: Jürgen Mackert (Hg.), Die Theorie sozialer Schließung. Traditionen, Analysen, Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 45–65.

[19] Hark u. Villa.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016