Soziale Schließung, Nonkonformismus und Protest Die Linke ist konservativ geworden und der Gestus der Revolte wird von rechts inszeniert

Von Cornelia Koppetsch

Gesellschaften im Modus von Abstieg und Aufstieg

Je größer die Konkurrenz zwischen Gruppen ist und je knapper die begehrten Güter sind, desto größer ist das Bedürfnis, sich der schützenden Zugehörigkeit zu vergewissern, desto leuchtender auch ist das Gruppencharisma der Besitzenden und Privilegierten. Von den Eliten möchte man sich heute nicht abgrenzen, sondern am liebsten selbst dazugehören. In Phasen des ökonomischen Abschwungs, in denen größere Teile der Bevölkerung vom Abstieg bedroht oder bereits abgestiegen sind,[7] verknappen sich die zum Statuserhalt oder Aufstieg notwendigen Ressourcen wie auch die damit verbundenen Zugehörigkeiten. In einer solchen Phase befinden sich derzeit die meisten europäischen Gesellschaften; und auch in Deutschland sind trotz Wirtschaftswachstums wachsende Teile der Bevölkerung von Abstieg und Ausgrenzung betroffen. Unter diesen Bedingungen erhöht sich der Druck auf den Einzelnen, »aktiv mitzuspielen«, da unangepasstes Verhalten unter erhöhter Konkurrenz sehr schnell mit Ausschlüssen oder sozialer Deklassierung »bestraft« werden kann. Nach wie vor hat der Konformismus in unserer Gesellschaft einen schlechten Ruf – was allerdings nichts daran ändert, dass konformistische Haltungen, insbesondere bei Menschen unter Erfolgsdruck, in den letzten Jahrzehnten insgesamt zugenommen haben.

Demgegenüber weisen Gesellschaften, die durch kollektive Aufstiege und ökonomische Aufschwünge gekennzeichnet sind, zumeist ein größeres Spektrum an Devianz und Unangepasstheit auf, da Lebenschancen und Aufstiegsmöglichkeiten hier in größerem Maße vorhanden sind. Solche Gesellschaften sind in der Regel liberaler und auch innovativer, da aus Abweichungen Variationen, also neue Ideen und Verhaltensmuster, gewonnen werden können. Der Einzelne ist nicht auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen angewiesen, wenn Aufstiegsmöglichkeiten und auch andere Möglichkeiten zur Realisierung von Identitätsansprüchen und sozialen Vorteilen existieren. Damit sinkt die Macht, die Gruppen über Alteingesessene oder Aspiranten ausüben können. Denn die Vorteile der Dazugehörigen schwinden, wenn auch noch andere attraktive Optionen der Zugehörigkeit bestehen.

Ein eindrucksvolles Beispiel für das Wechselspiel zwischen sozialer Konkurrenz, Schließung und Gruppenkonformität liefern die Auseinandersetzungen um das Thema Bildung. Unter dem verschärften Konkurrenzdruck hinsichtlich Lebenschancen sind etablierte Mittelschichtbürger sehr bemüht, ihren Status in die nächste Generation zu transferieren – wobei Bildung eine Schlüsselstellung einnimmt. Vordergründig dienen die stark an Bedeutung gewinnenden exklusiven Gymnasien und Privatschulen der Nachfrage besorgter Eltern nach individueller Förderung ihres Kindes, die durch öffentliche Bildungsangebote nicht mehr gewährleistet scheint.[8] Das z. T. beträchtliche Schulgeld kann man allerdings auch als Preis für die Segregationsprämie verstehen. Den Eltern wird garantiert, dass ihr Kind den Unterricht nicht teilen muss mit sogenannten Bildungsverlierern, die im öffentlichen Schulsystem durch integrative Schulen und Schulen mit hohen Migrantenanteilen mitgenommen werden sollen.

Die Legitimität dieser Ausgrenzung wird durch die Herausbildung hegemonialer Lebensstile abgesichert: Leistungs- und Aufstiegsorientierung, Toleranz und Weltoffenheit, Bildung, Gesundheits- und Ernährungsbewusstsein sind zu hochgradig distinktiven Formen der kulturellen Lebensführung geronnen, durch die soziale Höherwertigkeit symbolisiert und die Gruppe der Kosmopolitisch- Rechtschaffenen von den Außenseitern abgegrenzt wird. Diese Lebensformen sind alles andere als tolerant, da Abweichungen mit Ausschluss quittiert werden. Soziale Aufsteiger müssen daher mehr als nur Bildungsehrgeiz demonstrieren: Sie müssen über die richtigen Codes, über Toleranzbewusstsein und den korrekten, gesundheitsbewussten Lebensstil verfügen.

Anpassung und Alternativlosigkeit

Schließungstendenzen finden sich zudem im Arbeitsleben, etwa bei Abgrenzungen regulär Beschäftigter gegenüber Leiharbeitern. So geraten heute Festangestellte in die Position von Etablierten, während das wachsende Segment der »atypisch« Beschäftigten in eine Außenseiterposition gedrängt wird. Aufgrund der Verknappung von Aufstiegsmöglichkeiten verfügen Unternehmen und Betriebe heute über ein höheres Drohpotenzial. Ein Arbeitgeber oder eine Chefin kann aufgrund der zunehmenden Konkurrenz um reguläre Beschäftigungsverhältnisse unter subtilen Androhungen von Deklassierungen (Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen, Abrutschen in die Zeitarbeit, Entlassungen etc.) von Mitarbeiterinnen oder Arbeitnehmern erhöhte Arbeitsleistungen verlangen. Um nicht in Leiharbeit abzurutschen oder eine Vertragsverlängerung zu verspielen, müssen Angestellte gestiegene Anforderungen akzeptieren und Anpassungsbereitschaft signalisieren.

Doch die Anpassungsbereitschaft stößt an Grenzen, wenn sie dauerhaft frustriert wird, etwa weil Aufstiegswege blockiert sind, die Erfolgschancen als gering eingeschätzt werden oder insgesamt zu viele Kollegen sichtbar auf der Strecke bleiben. Dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Rückzugs wie auch des nichtkonformen, abweichenden Verhaltens. Dabei sind unterschiedliche Formen nichtkonformen Verhaltens zu unterscheiden: Abweichung kann unauffällig erfolgen, etwa durch rein äußerliche Befolgung der Normen im Sinne des »Dienstes nach Vorschrift« – dann wird sie als stillschweigende oder heimliche Devianz zumeist geduldet, um keine Nachahmer hervorzurufen. Erst wenn sich das deviante Verhalten offensiv gegen Gruppennormen richtet, wenn es als gezielte Herausforderung inszeniert wird, kann von Nonkonformismus gesprochen werden.

Nonkonformismus kann als kollektive Protestgeste zur Symbolsprache einer oppositionellen Bewegung werden. Doch damit sich kollektiver Widerstand gegen gesellschaftliche Normen formiert, muss noch eine weitere Voraussetzung erfüllt sein: Es muss zur Schwächung des kulturellen Überbaus, der »Moral« gekommen sein, mittels derer die herrschende Ordnung gerechtfertigt wird. Dazu wird mehr als ein funktionierendes Gesellschaftssystem und eine konstitutionelle Demokratie benötigt, es bedarf einer imaginären Dimension – Elan, Leidenschaft und Visionen eines Aufbruchs, eines über den Tag hinausweisenden Projekts –, durch die emotionale Identifikationsmöglichkeiten geschaffen werden und gesellschaftliche Teilnahme als faszinierend und befriedigend erscheint.

Der Elan nun ist freilich unter dem Regime des Neoliberalismus weitgehend erloschen. Im politischen Bereich macht sich dies zum Beispiel in der »Alternativlosigkeit«, mit der bestimmte politische Ziele vorgegeben werden, und in der Entideologisierung der Volksparteien bemerkbar. Auch wer die EU grundsätzlich begrüßt, kommt nicht umhin, festzustellen, dass diese ein technokratisch gesteuertes Elitenprojekt ist. Im Arbeitsleben dominiert der »flexible Mensch«[9] (Sennett 2000), der sich nicht mehr an übergeordneten Idealen oder moralischen Prinzipien, sondern an kurzfristigen Opportunitäten und Gewinnmöglichkeiten orientiert.

Und mit den jüngsten Reformen des Hochschulsystems wurden humanistische und aufklärerische Bildungsideale über Bord geworfen. Übrig geblieben ist das vorrangig an Unternehmen adressierte technokratische, marktliberalen Forderungen entsprechende Versprechen der Ausschöpfung von »Humankapital«. Emanzipatorische Bildungsvorstellungen haben keinen Raum mehr, wenn Bildung als ökonomische Ressource betrachtet wird. Auf der Ebene der persönlichen Lebensführung spiegeln sich ökonomische Verwertungsimperative in der Aufforderung zur »Selbstoptimierung« und zum »Selbstmanagement« wider.

Gründlich abhandengekommen ist der »Geist des Kapitalismus«, der normative Anreize und Sinnstiftungsmöglichkeiten auch für diejenigen bietet, deren Aufstiegs- und Profitchancen gering sind. Aus solchen Konstellationen resultiert regelmäßig ein Wiedererstarken der Gesellschaftskritik.[10] Denn der Systemzwang ist als Beteiligungsmotiv allein nicht ausreichend, er muss verinnerlicht und begründet werden. Das erforderliche Niveau der Einsatzbereitschaft kann nicht erzwungen werden. Damit sich das Engagement lohnt, bedarf es eines Minimums an Gerechtigkeit und aufregender, attraktiver Lebensperspektiven für den Einzelnen.

Institutionen werden daher gezwungen, ihre Gerechtigkeitsstrukturen an der »Systemkritik« auszurichten und die durch die Kritik formulierten Ideale und Normen in ihre normativen Ordnungen aufzunehmen. Dadurch werden gesellschaftliche Transformationsprozesse eingeleitet, die Spielregeln verändern sich. Nur so lässt sich die Leistungsbereitschaft relevanter Mitspieler, denen im Laufe dieser Entwicklung der Bezugsrahmen abhandengekommen ist, wiedergewinnen. Doch je gründlicher dies geschieht, desto eher kommt es zu einer Neutralisierung, einer Lähmung der Kritik. Die Gesellschaftskritik läuft ins Leere – mittelfristig kommt es dabei höchstwahrscheinlich zur Herausbildung eines neuen »Geistes«.

Für einen solchen Zyklus gibt es ein prominentes historisches Beispiel: So speiste sich etwa die Jugendrevolte der 68er aus der Kritik an den autoritären Strukturen und verfestigten Hierarchien der Nachkriegsepoche. Die daran anknüpfenden Gegenbewegungen der frühen 1970er und der 1980er Jahre lebten von Utopien und Nonkonformität, alternativen Lebensentwürfen und Wertorientierungen. Ihr durchschlagender Erfolg war u. a. daraus zu erklären, dass die Zugehörigkeit zu bürgerlichen Milieus und deren Lebensformen schlichtweg an Attraktivität verloren hatten. Nicht nur hatten sie durch die deutsche Katastrophe und den Zusammenbruch der Naziherrschaft an Autorität und Glaubwürdigkeit eingebüßt; auch waren bürgerliche Lebensformen der Nachkriegsepoche mit ihrer strikten Sexualmoral, patriarchalen Familienstrukturen und hierarchischen Umgangsformen als »veraltete« Ordnungsmuster gesellschaftlich dysfunktional geworden und verloren rasant an Prestige und Überzeugungskraft.

Die Jugendrevolte leitete somit eine überfällige kulturelle Modernisierung ein, die aufgrund politischer und wirtschaftlicher Liberalisierungsprozesse dringend erforderlich war. Und sie war durchschlagend erfolgreich: Die alternativen Werte wanderten in den Mainstream ein, Lebensformen pluralisierten sich, der Kapitalismus wurde »kreativ«. Damit kam es allerdings zu einer Lähmung der Gesellschaftskritik. Die Anliegen der Alternativbewegungen wurden in dem Maße gegenstandslos, wie sie in das System integriert worden sind, und von der Systemopposition der 1970er und 1980er Jahre, wie sie etwa von der Partei der Grünen formuliert worden ist, ist nichts mehr übrig geblieben. Vielmehr sind die Grünen selbst zu einem Teil des bürgerlichen Establishments geworden.

Rechte Gegenbewegungen

Heute stehen wir, sollten Boltanski und Chiapello recht behalten, am Scheitelpunkt eines neuen Zyklus. Die einst gegenkulturellen Ideale sind hegemonial geworden und nun ihrerseits bevorzugte Angriffsziele des Protests. Gegenwärtig formieren sich in Gestalt rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien, die überall in Europa Zulauf bekommen haben, abermals oppositionelle Bewegungen. Die rechte Opposition greift den links-liberalen Konsens an und zielt damit ins Herz kosmopolitischer Weltbilder. Es sind die Ideale von Toleranz, Chancengleichheit, Authentizität und Kreativität, die – ursprünglich von gegenkulturellen Bewegungen gegen die etablierten Strukturen gerichtet – nun dem Mainstream einverleibt und als die Moral der Etablierten zu Hauptangriffszielen rechtspopulistischer Propaganda geworden sind.

Weil in Deutschland die politischen, kirchlichen, pädagogischen Einrichtungen – wie auch die Protagonisten der medialen Berichterstattung – als weltanschaulich weitgehend einheitliche Gruppe auftreten, die sich zu den Grundsätzen der Toleranz und der Weltoffenheit bekennen, nimmt die Bespöttelung des »Gutmenschentums« hierzulande einen besonders hohen Stellenwert ein.[11] Wie in kaum einem anderen Land laufen Rechtspopulisten Sturm gegen die political correctness und das »Bevormundungskartell« des Establishments. Nicht von der Hand zu weisen ist: Wenn Linke heute als Hüter der Moral auftreten, dann auch deshalb, weil sie die bestehende Ordnung verteidigen und, im wahrsten Sinne des Wortes, konservieren wollen.

Die Parallelen zu den gegenkulturellen Bewegungen sind somit eklatant: Angegriffen wird, heute wie damals, die Hegemonie der »herrschenden Klassen«, der staatstragenden Eliten, Parteien und (neu-)bürgerlichen Schichten. Ähnlich wie die gegenkulturellen Bewegungen der frühen 1970er und der 1980er Jahre ist auch der Populismus eine Protestbewegung. Nur kommt die Opposition gegenwärtig nicht primär von links, sondern von rechts. Und anders als bei den gegenkulturellen Protestbewegungen des letzten Jahrhunderts, die ihre Mobilisierungsbasis primär in der Mittelschichtjugend fanden, stammen die Anhänger des Rechtspopulismus stärker aus den unteren Schichten und den Reihen der Außenseiter.

Rechtspopulismus ist antiliberal und richtet sich, anders als die gegenkulturellen Bewegungen, nicht gegen verfestigte Strukturen und Hierarchien, gegen patriarchale Traditionen und autoritäre Gesellschaftsbilder, sondern versucht – im Gegenteil –, autoritäre Lebensformen und starke Gemeinschaften wieder heraufzubeschwören. Rechtspopulistische Gesellschaftsbilder basieren auf drei Säulen: der Rückkehr zu einem autoritären Staat und der Betonung von Themen der Sicherheit und Ordnung; der Angst vor »Überfremdung« durch den Islam und der Forderung nach Begrenzung der Zuwanderung; sowie, schließlich, der Bedrohung der »heilen« Familienwelt durch sexuelle Liberalisierung und »Gender-Wahn«. Damit protestieren die Repräsentanten des Rechtspopulismus gegen das vorherrschende Gesellschafts- und Zukunftsbild einer grenzenlosen, globalisierenden und flexibilisierenden Welt.[12] Doch geht es zumeist nicht allein um spezifische Weltanschauungen oder politische Programme – denn dafür ist der Populismus zu chamäleonhaft, weil er sich jeweils den Strömungen des Zeitgeists anpasst.[13] Vor allem geht es um einen Angriff auf die Macht der herrschenden Gruppierungen, deren Legitimität massiv infrage gestellt wird, indem suggeriert wird, dass diese den Staat für ihre eigenen Interessen missbrauchen würden.

Grenzen des Vergleichs

Freilich bestehen bedeutsame Unterschiede zwischen den linken und den rechten Bewegungen. Anders als die Gegenbewegungen der 1970er und 1980er Jahre sind die rechtspopulistischen Protestbewegungen nicht progressiv, sondern regressiv. Sie agieren weniger aus einer Alternative heraus als vielmehr aus der Verdrossenheit über die Kartellierung der Etablierten – eine Verdrossenheit, die inzwischen weit in bürgerliche Kreise hineinreicht. Diese regressive Tendenz ist u. a. der Tatsache geschuldet, dass die sozialen Gegenbewegungen der 1970er und 1980er Jahre sich in einer Phase des kollektiven Aufstiegs formierten, während die aktuelle rechtspopulistische Protestbewegung in eine Phase des kollektiven Abstiegs, des »Postwachstums«, fällt, in der sich Ressourcen und Lebenschancen für viele gesellschaftliche Gruppen verknappen.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016