Die »Nichtregierung« Konkordanzsystem und Direkte Demokratie als Modell für die EU?

Von Karl-Martin Hentschel

»Das stabilste Land der Welt hat keine Regierung. Und es ist nicht stabil, obwohl, sondern weil es keine Regierung hat. […] Menschen auf der Straße, denen Sie zufällig begegnen […] (wissen) den Namen der Präsidenten von Frankreich oder der USA, […] nicht aber den ihres eigenen Landes.« (Nassim Taleb[1])

Mit dem »stabilsten Land der Welt«, von dem Nassim Taleb spricht, meint er natürlich die Schweiz. Die Bilanz dieses eigentümlichen Gesellschaftssystems kann sich trotz vieler berechtigter Kritikpunkte sehen lassen: In 170 Jahren ohne Beteiligung an einem Krieg entwickelte sie sich zu einem der reichsten, sozialsten und umweltbewusstesten Staaten der Erde, mit einer der besten Rentenversicherungen für jeden – auch für die 25 Prozent ohne schweizerischen Pass. Vor allem aber stehen die Schweizer hinter ihrer Demokratie und sind davon überzeugt, dass sie – das Volk – das Sagen haben. Können wir davon etwas lernen oder handelt es sich um eine besondere Mentalität eines kleinen Bergvolkes, die nicht auf andere Länder oder gar die EU übertragbar ist?

Die Nichtregierung – was ist das Konkordanzsystem?

Es stimmt tatsächlich: Die Schweiz hat wirklich keine Regierung – zumindest nicht das, was man im üblichen Sinne darunter versteht, nämlich ein Gremium, welches das Land in die eine oder andere Richtung lenkt. Doch stellt sich die Frage, wie ein solches System funktionieren kann. Die Antwort ist einfach und verblüffend zugleich: An der Spitze der Exekutive – also der Ministerien – steht ein siebenköpfiger kollegialer Verwaltungsrat: der Bundesrat. Dieser wird von allen größeren und mittleren Parteien gemeinsam zusammengesetzt und entscheidet stets im Konsens. Diese Konstruktion
nennt man »Konkordanzsystem«.

Laut den Analysen der Zeitschrift Economist sind die effizientesten Regierungen regelmäßig die der Schweiz mit ihrem Konsensmodell und die Skandinaviens, wo Minderheitsregierungen Tradition haben. Nicht die direkt gewählten Präsidenten sind stark und handlungsfähig, sondern die Regierungen, die einen breiten Konsens in der Gesellschaft repräsentieren. Sie sind stark, weil sie das Land nicht spalten, sondern ein großes Vertrauen der Menschen genießen.

Der Bundesrat verwaltet also die Schweiz – parteipolitisch neutral und konsensual. Die politische Richtung jedoch wird vom Parlament und dem Volk in Volksentscheiden vorgegeben. Der Bundesrat – die »Nichtregierung« –
führt die Gesetze aus, die das Parlament oder das Volk beschlossen hat. Erstaunlicherweise genießt diese Nichtregierung ein im internationalen Vergleich einmalig hohes Vertrauen bei den Bürgern. Zugleich entwickeln sich daraus völlig andere Rollen und Verhaltensweisen des Parlamentes, der Fraktionen und der Parteien. […]

Anmerkungen

[1] Nassim Taleb, Risiko-Forscher an der New York University, in: Ders., »Antifragilität«, München 2013.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019