Keine Freiheit ohne Staat! Was Kants politischer Liberalismus uns heute noch zu sagen hat

Von Philipp-Alexander Hirsch

Seit jeher wird Immanuel Kant als Vordenker eines politischen Liberalismus in Anspruch genommen. Gerade in der deutschen Diskussion führt kaum ein Weg an dem Königsberger Philosophen vorbei, wenn man nach den geistigen Ahnherren des politischen Liberalismus fragt. Und in der Tat finden wir bei ihm viele entscheidende Elemente liberaler Staatsbegründung vorgedacht und theoretisch ausformuliert: die Anerkennung der Würde als absoluter, unantastbarer Wert des Menschen; die Zuschreibung von Freiheit als angeborenes Menschenrecht; die Rückbindung staatlicher Macht an die Gewaltunterworfenen durch einen ursprünglichen Vertrag, der staatliche Autorität als Ausdruck des vereinigten Volkswillens begreifen lässt und diese zudem gewaltenteilig verfasst. All dies mag erklären, warum Kant auch im deutschen Feuilleton den Status einer liberalen Gallionsfigur hat. Er wird als Vordenker der »repräsentative[n] Demokratie, flankiert von rechtsstaatlichen Garantien und dem zentralen Recht eines jeden auf Freiheit«[1] porträtiert. Man rühmt Kants »Eintreten für den Kosmopolitismus und die individuelle Freiheit«[2]. Manche meinen gar, dass heutzutage »die deutsche Solidarität mit den Flüchtlingen Kantschen Prinzipien«[3] folgt, denn – so hört man anderenorts – im Kantischen Weltbürgerrecht »steckt ja schon so etwas drin wie eine Willkommenskultur«, die Kant zu einem »Rechtsanspruch«4 weitergedacht habe. Kurz: Man sieht in Kant allenthalben den »[ü]berragenden Philosoph[en] der Freiheit«5. So sehr man zu Vielem beherzt Ja sagen möchte (und z. T. auch zu Recht kann), so sehr fehlt im liberalen Unisono zu Kant das Aber. Dieses Aber betrifft die Legitimität staatlicher Herrschaft, die bei Kant strikt von der Frage ihrer Gerechtigkeit und damit ihres liberalen Gehalts zu trennen ist. Deutlich wird die hiermit angesprochene Problematik an Kants Haltung zu einem Widerstandsrecht gegenüber ungerechter staatlicher Herrschaft, welche die Freiheitsrechte der Bürger gravierend verletzt. […]

Anmerkungen:

[1] Horst Dreier, »Wir hatten Gerechtigkeit erhofft«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.01.2015.

[2] Pankaj Mishra, Was bleibt von Immanuel Kant?, in: Die Zeit, 17.12.2015.

[3] Giannis Varoufakis, Die moralische Nation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2015.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016