Editorial

Von Matthias Micus  /  Katharina Rahlf

Als vor der Europawahl im Mai hohe Umfragewerte für populistische Par­teien in einer Reihe von Mitgliedsstaaten der EU die politischen Beobachter beschäftigten und für eine hektische Betriebsamkeit in den Redaktionsstu­ben sorgten, stieß der aufmerksame Zeitungsleser überall auf Tabus. Bezie­hungsweise richtiger: auf Tabubrüche und Tabubrecher. Denn dass Populis­ten Tabus brechen und mithin gegen die Konventionen und die Regeln von gutem Anstand, hergebrachter Sitte und dominanter Moral verstoßen, ist weitgehend unbestritten. Bloß machte diese Konjunktur des Tabubegriffs nur umso deutlicher, wie unklar, wie breit und nicht zuletzt deshalb eben auch schwammig sein Gehalt ist.

Sicher, es gehört zum Standardrepertoire – bei der Begründung von Heft­schwerpunkten nicht anders als wissenschaftlichen Abschlussarbeiten –, den Gegenstand des eigenen Interesses als diffus und unbestimmt und eben des­halb bestimmungsbedürftig darzustellen. Diese Klage mag bisweilen über die Substanz einer Phrase nicht hinausreichen, im Hinblick auf Tabus trifft sie dennoch zu. Grundsätzlich lässt sich nahezu alles und jedes tabuisieren. Tabus können Personen, Lebewesen, Dinge oder irgendeinen mit bestimm­ten Vorstellungen behafteten Gegenstand betreffen. Lexikalisch werden Ta­bus ganz grundsätzlich zwei Bedeutungen zugeschrieben: zum einen das Verbot, bestimmte Dinge auszusprechen und zu tun. Und zum anderen die – nennen wir sie völkerkundliche – Bedeutung, dass tabuisierte Handlungen, geheiligte Orte, besondere Speisen nicht vollzogen, betreten oder genossen werden dürfen. Mit dieser zweiten Zuschreibung beschäftigt sich der Ethno­loge Gundolf Krüger in seinem Text über die „Polynesischen Wurzeln“ von Tabus und ihre Darstellung in den Reisebeschreibungen von James Cook.

Im Vordergrund unseres Heftschwerpunktes wird allerding die erste Be­deutung stehen. In ihrer Betonung des Verbotscharakters verweist sie – wie freilich gleichfalls die völkerkundliche Essenz – darauf, dass Tabus Trenn­linien markieren, Grenzen des Handelns, Redens, Denkens. Und insofern wohnt dann Tabubrüchen eine subversive Kraft inne, da sie die Alltagsord­nung infrage stellen, Automatismen aushebeln, Gewohnheiten brechen. Ta­bubrüche sind Provokationen. Und wie diese können sie in einem positiven Sinne Aufklärungseffekte zeitigen, eben weil sie die ausgetretenen Deu­tungspfade bewusst verlassen und das Gegebene in ein neues, anderes Licht tauchen. Ebenso wie dies bei Provokationen der Fall ist, führt aber auch bei Tabubrüchen die potenziell aufklärerische Entlarvungsabsicht leicht zu un­sachlicher Moralisierung, unterkomplexer Personalisierung und also zur Eindeutigkeitsillusion von Schuldzuweisungen, einem dichotomen Freund- Feind-Denken und einer verengten Realitätssicht, die sich bis zur „Insula­tion“ (Dieter Claessens) steigern kann, bei der alles das, was außerhalb der eigenen Gruppe passiert, gar keine Bedeutung mehr besitzt. Ein erhellen­des Beispiel dafür ist der Spitzensport, den Antje Dresen kritisch analysiert.

Dabei sind Tabubrüche im Jargon der Soziologen „die bevorzugte Waffe der Mindermächtigen“ (Rainer Paris). Die bestehenden Verhältnisse kriti­sieren, ihren eigenen Ansichten Gehör verschaffen, die gegebene Ordnung stören – und sei es auch nur in einem winzigen Detailaspekt –, können sie am einfachsten durch provokative Tabubrüche. Sie stellen daher eine bevor­zugte Waffe im Handlungsarsenal von Minderheiten und Bewegungen dar. Wobei sich Macht und Ohnmacht in seltenen Fällen auch verkehren und die Starken punktuell zu Schwachen werden können, wenn sich die Rechtspre­chung gegen sie stellt. In seinem „juristischem Kommentar zu den Grenzen von Transparenz“ plädiert vor diesem Hintergrund Karl Felix Oppermann für die „Schutzlosen“.

Andererseits dürfte es kein Zufall sein, dass, wer über Tabus nachdenkt, sehr schnell bei dem Themenkomplex der „Sexualität“ landet. Sichtbar mar­kieren schon die in aller Regel geschlossenen Türen der Schlafzimmer die oben erwähnten, für Tabus insgesamt charakteristischen Grenzen des Han­delns, Redens und Denkens. Aller Säkularisierung zum Trotz ist der Ge­schlechtsverkehr – mindestens in den hochentwickelten Gegenwartsgesell­schaften der sogenannten Ersten Welt – auch heute noch einer Vielzahl von Tabus unterworfen. Gleich mehrere Autoren thematisieren daher Fragen aus dem weiten Spektrum der Sexualität. Tobias Neef untersucht die Entwicklung des Tabus der Pädosexualität, Jan Soldat schreibt über Zoophilie, also das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren, und Ute Frietsch über dasjenige zwischen Mann und Frau.

Und wenn wir geschlossene Türen als Symbol für Tabuisierungen ansehen, dann dürfen wir, wenn wir von Sexualität sprechen, auch über den Verdau­ungsakt nicht schweigen. Bei diesem sind die Türen schließlich für gewöhn­lich sogar verschlossen. „Scheiße“ hat Florian Werner seinen schönen Essay sinnigerweise genannt und es geschafft, sein Thema und dessen Tabuisie­rung in einem einzigen Wort zusammenzufassen.

Doch genug davon an dieser Stelle, viele Leser werden selbst angesichts der kurz gehaltenen Ausführungen bereits die Nase rümpfen und sich abwenden. Beide Themenkomplexe zeigen folglich auch dies exemplarisch: Tabubrüche polarisieren, indem sie provozieren, sie trennen Gesellschaften in zwei gegen­sätzliche Lager. Der polarisierende Konflikt nun erzeugt klare Verhältnisse, der gemeinsame Gegner schweißt die Tabubrecher zusammen und stiftet ein intensiv empfundenes Gemeinschaftserlebnis. Der Druck von außen erzeugt eine kollektive Betroffenheit, überdeckt interne Differenzen und stiftet Ein­heit. Ist das der Grund, warum die aufgrund einer dezidiert individualisti­schen Mitgliedschaft notorisch zerstrittene FDP – wie Franz Walter in seinem Text rekonstruiert – eine Zeitlang auf die Strategie des Tabubruches setzte?

Offenkundig indes ist, dass Tabubrüche den Tabubrecher brauchen. Sie benötigen den Helden, den Charismatiker. Dieser Held ist authentisch und aufrichtig, er verwandelt das Stigma der Mindermächtigen in Charisma, ihr Leiden, ihre Diskriminierung werden durch sein Opfer und seine Bewäh­rung in Selbstbewusstsein und Stolz transformiert. Teresa Nentwigs Portrait über den französischen Agent Provocateur Dieudonné belegt dies anschaulich.

Natürlich darf in einem Europawahljahr schließlich auch der Blick über den Tellerrand auf den EU-Raum nicht fehlen. Karin Priester zeigt, welches Provokationspotenzial unter einer vermeintlich friedlichen Oberfläche in den wechselseitigen Vorurteilen besteht. Wobei sich der Blick nach Europa auch deshalb anbietet, als Systeme, die wie die EU auf ausgeklügelten Konsens-und Konfliktvermeidungsverfahren basieren, besonders leicht provoziert wer­den können und für Tabubrüche daher äußerst anfällig sind.

Und ebenso selbstverständlich wird der Schwerpunkt auch in dieser Aus­gabe wieder ergänzt um einen freien Teil, in dem Franz Walter ein Projekt des Instituts für Demokratieforschung resümiert und Susanne Eschenburg, Rainer Eisfeld und Jürgen Falter die Debatte über Theodor Eschenburg fortsetzen.

Last but not least freuen wir uns sehr, dass uns der bekannte Künstler Karl Oppermann für die Bebilderung dieser Ausgabe eine Auswahl seiner Colla­gen großzügig zur Verfügung gestellt hat.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014