Glashaus-Gefechte Der Jargon der Eigentlichkeit und die deutsche Halbbildung

Von Wilfried von Bredow

»1968« wird gerne als Chiffre benutzt, um die sozialen und politischen Veränderungen zu evozieren, die der langfristig rumorende, aber mitunter auch ruckartig sich vollziehende Wertewandel in vielen westlichen und indirekt auch in manchen sowjetisch dominierten Gesellschaften ausgelöst hat. In der Bundesrepublik hat dieses Jahr sogar das Image eines besonders dramatischen Aufbruchs, dessen man 2018 mit unverdrossen polarisierter Nostalgie gedenkt. Tatsächlich aber bedeutete 1968 eher ein enttäuschtes Innehalten. Der Wandel verlor sein Charisma; der Mai 1968 in Paris und der August 1968 in Prag ließen die utopischen Träume von einer anderen Politik erst einmal platzen.

Entsprechend sind für die Wirkung von »1968« die zahlreichen kulturellen Umdeutungen und Umbrüche in den Jahren davor – an Universitäten und Gymnasien, im Freizeitverhalten der Jugendlichen und im Diskurs über die deutsche Vergangenheit, insbesondere die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft – aufschlussreicher als die Ereignisse im vermeintlichen annus mirabilis selbst. Zwar ist die rigide Gegenüberstellung einer muffig-restaurativen Ära Adenauer und eines daran anschließenden freiheitlich-lockeren bis kulturrevolutionären Neuaufbruches eine ungerechtfertigte Zuspitzung; aber auch, wenn man das gelassener sieht, fallen einem zahlreiche Beispiele für weitreichenden Wandel ein, von einer neuen Aufmüpfigkeit gegenüber den Ordnungsvorstellungen der älteren Generation über eine weniger prüde Einstellung zur Sexualität sowie andere Konsumgewohnheiten bei Pop-Musik und Filmen bis hin zu einer Renaissance marxistisch geprägten, kapitalismuskritischen Denkens in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Ein Beispiel für Letzteres ist Theodor W. Adornos Schrift »Jargon der Eigentlichkeit«.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018