1945 als langfristige Zäsur der Zeitgeschichte Nationale, europäische und globale Perspektiven im Vergleich

Von Lutz Raphael

Siebzig Jahre sind seit dem Epochenjahr 1945 vergangen; und kaum ist die Erinnerungswelle an den Beginn des Ersten Weltkriegs verebbt, rückt bereits wieder das Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Tagesordnung unseres öffentlichen Erinnerungszyklus.[1] Damit tritt zeitlich zusammen, was auch aus Sicht der Zeitgenossen und Historiker eng zusammengehört: die gut dreißig Jahre des europäischen Bürgerkriegs, wie diese Zeit der Weltkriege auch genannt worden ist, vom Ausbruch des 2. Balkankriegs 1912, oft vergessener Auftakt zur Julikrise 1914, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai bzw. August 1945.

Der Historiker tut gut daran, die Gelegenheit dekadologischer Erinnerung zu nutzen, um selber über die Bedeutung des Jahres 1945 für die Zeitgeschichte nachzudenken. Gern benutzen wir das Wort »Zäsur«, um unsere Periodisierungsvorschläge gegenüber Kollegen, aber auch einer breiteren Öffentlichkeit plausibel zu machen.

BEDEUTUNGSEBENEN DES ZÄSURBEGRIFFS

Was meinen wir eigentlich, wenn wir von 1945 als einer Zäsur sprechen? Zunächst sind verschiedene Bedeutungsebenen dieses Wortes zu unterscheiden: Zum einen sprechen wir Historiker von einer Zäsur im Sinne eines Einschnitts, wenn deutlich gemacht werden soll, dass ein Ereignis oder ein Bündel von Ereignissen frühere Entwicklungen gestoppt hat, Lebensumstände von Menschen und Gemeinwesen sich merklich sowie nachhaltig verändert haben, neue Machtverhältnisse in Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft entstanden sind. So sprechen wir von der Zäsur des Interregnums nach dem Tod Kaiser Friedrichs II., von der Zäsur des Westfälischen Friedens oder der Französischen Revolution. [...]

Anmerkungen

[1] Dieser Text basiert auf einem gleichnamigen Vortrag vor der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und den Monumenta Germaniae Historica in München, gehalten am 4. März 2015.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018