Editorial

Von Katharina Rahlf  /  Franz Walter

Feuilletonpolitologie. Das kam im Herbst 2005 als Vorwurf gegen einige Göttinger Politikwissenschaftler auf. In Göttingen gab es eine längere Tradition unter Politologen, nicht nur für die eigenen Fachkollegen zu schreiben, sondern mit den Büchern und Aufsätzen auch ein größeres, sicher interessiertes, gewiss gebildetes, aber nicht unbedingt fachwissenschaftlich geschultes Publikum zu erreichen. Das begann mit Christian von Krockow, setzte sich mit Claus Leggewie fort, fand mit Bassam Tibi zur Zeit des ersten Golfkrieges einen gewissen publizistischen Höhepunkt. Und in diese Reihe fügten sich dann auch die Göttinger Parteienforscher ein. Damit bewegte man sich nicht in der Mitte der Sozialwissenschaft in Deutschland. Und deshalb zirkulierte plötzlich die fraglos schmähend gemeinte Etikettierung Feuilletonpolitologie. »Feuilleton« – das bedeutete in der Sozialwissenschaft hierzulande das schlimmste Verdikt; das verhieß Nachwuchswissenschaftlern die berufliche Guillotine. Wer als Feuilletonist galt, überlebte in der Universität nicht lange.

In Frankreich dagegen war jemand wie Raymond Aron immer auch Zeitungskolumnist, ebenso wie in Italien der Turiner Universitätsphilosoph Norberto Bobbio. Die britischen Historiker Timothy Garton Ash und Tony Judt sind bzw. waren ganz selbstverständlich gefragte Kommentatoren in der öffentlichen Auseinandersetzung. Und der große englische Historiker Eric Hobsbawm hat stets darauf gepocht, dass man als Sozialwissenschaftler und Historiker nicht nur für seinesgleichen schreiben dürfe. Auch Max Weber hatte sich als engagierter öffentlicher Intellektueller verstanden, der die Frankfurter Zeitung als Podium für seine politischen Interventionen nutzte. Vergleichbares konnte man Jahrzehnte später von Ralf Dahrendorf, Kurt Sontheimer, Theodor Eschenburg sagen. Aber hatte man sie im Zentrum ihrer Zunft jemals anerkennend akzeptiert? Der französische Philosoph und Nobelpreisträger Henri-Louis Bergson hat demgegenüber sehr eindringlich darauf bestanden, dass es keine noch so subtile philosophische Idee gebe, »die man nicht in einer jedermann verständlichen Sprache ausdrücken« könne – weshalb man dies auch versuchen müsse.

Nun denn: Hier, mit diesem Heft, liegt die erste Ausgabe des neuen Journals aus Politologie, Soziologie, Geschichte und – dies keineswegs zuletzt – dem anspruchsvollen Feuilleton vor. Wenden wir also die stigmatisierte Begriffl ichkeit ins Positive: Mit der Zeitschrift verfolgen wir die Absicht, nicht allein oder auch nur in erster Linie die eigene Zunft zu bedienen. Das neue Periodikum möchte mehr und andere Adressaten erreichen, auch solche, die – und das mit einigem Recht – nie darauf kämen, eine streng politikwissenschaftliche Zeitschrift in die Hand zu nehmen. INDES wendet sich an Professionelle der Politik und der politischen Deutung, vom Abgeordneten über den Persönlichen Referenten bis zum Journalisten, aber auch an diejenigen, die montags das Magazin mit in den ICE nehmen, donnerstags die Wochenzeitungen auf dem Wohnzimmertisch ausbreiten und überhaupt an alle, deren kluge Köpfe wo auch immer stecken mögen, sei es selbst vor dem Bildschirm.

Die Autoren dieser Zeitschrift sollen, wenn irgend möglich und ohne krampfhafte Selbstkasteiung, auf überfl üssigen Fachjargon verzichten. Sie sollen sich nicht hinter starren Methoden verstecken, sich nicht irgendwelchen Ansätzen subordinieren, nicht aus riegelfesten Theoriegehäusen Aussagen ableiten. Urteilsfreudigkeit ist durchaus erwünscht, Anschaulichkeit gern gesehen. Der Unterwürfigkeit gegenüber Systemkategorien wollen wir hingegen entgegenwirken. »Konfiurationen«, »Implementierung«, »Determiniertheit«, »Mehrebenensystem« – Retortengeschwurbel dieser Art versuchen wir zu meiden. Niemand soll hier »clustern«, »Leuchttürme« errichten oder »Synergieeffekte« stiften, um »Kreativitäten« zu »fokussieren«.

Denn das Schlimme ist: Wer mit solchen semantischen Barbareien schwungvoll zu jonglieren vermag, kann immer noch in der sozialwissenschaftlichen Zuwendungslandschaft in kürzester Zeit und höchst erfolgreich alle möglichen, als höchste Wissenschaft drapierten Projekte durchsetzen. Die meisten Forschungsanträge und erst recht all die traurig öden Forschungsberichte sind in einem formelhaften, nuancenarmen, erfahrungsleeren Deutsch verfasst. Der Spiegelstrich ist das bevorzugte Ausdrucksvehikel. In den Beiträgen für nachgerade geheimbündlerisch exklusiv referierte Zeitschriften »generiert« man, was die PC-Bausteine mit schnellem Zugriff zu bieten haben. Ludger Helms, ein höchst produktiver Politwissenschaftler aus der Mitte des Fachs und daher erfahrungsgesättigter Autor von »Peer Review Journals«, urteilte unlängst kritisch und fraglos mit Recht: »Die heute international üblichen Kriterien zur Bewertung der Qualität wissenschaftlicher Forschung begünstigen in gewisser Weise sogar eher eine ›Abkapselung‹ der Wissenschaft vom öffentlichen Diskurs über die Demokratie. Besonders hoch bewertet werden heute Beiträge in spezialisierten referierten Fachzeitschriften, mit Blick auf die selbst die darin vertretenen Autoren gelegentlich scherzen, dass sie selbst und die anonymen Gutachter in vielen Fällen die einzigen Leser ihres Beitrages seien.«[1]

Die Politikwissenschaft in Deutschland – weniger die Soziologie und sicher am wenigsten noch die Geschichtswissenschaft[2] – hat sich durch ihr verengtes Vokabular, durch ihre Devotion gegenüber wissenschaftlichen Standards, durch ihren Dogmatismus des verbindlichen »Forschungsstands« derart hermetisch verpuppt, dass sie überwiegend im öffentlich intellektuellen Raum keine Rolle mehr spielt. »Wieso wissenschaftliche Sprache so schwach und ausdrucksarm sein muss, aseptisch gegenüber Leid, Schmerz wie Glück und Hochgefühl, kaum fähig, bürgerliche Erfahrungen wiederzugeben«[3], ist in der Tat weder einsichtig noch fatalistisch hinzunehmen. Mit dieser Zeitschrift – die gerade zu Beginn bedauerlicherweise gewiss noch genügend Spuren des hier beklagten Elends aufweisen dürfte – soll daher versucht werden, eine neue Generation von Forschern und Autoren anders zu prägen. Es ist nicht gleichgültig, wie man als Forscher des Politischen schreibt. Es mindert nicht die Wissenschaftlichkeit, wenn die Zahl der Leser sich vermehrt. Es verringert nicht den Erkenntnisraum, wenn man neugierig schauend ins gesellschaftliche Feld geht, ohne stets ein vorab bereits festes Analyseraster im Gepäck mitzuführen. Es kann frei machen, wenn man sich um »Anschlussfähigkeiten« an »herrschende Lehren« nicht schert. Und: Erkenntnisgewinn lässt sich nicht allein aus der Empirie seriell gewonnener Zahlenreihen ziehen. Hier jedenfalls soll auch neugierig schweifend assoziiert werden. Hier bekommen die Volkskundler der politischen und gesellschaftlichen Stämme Raum für ihre ethnologischen Reportagen. Hier soll auch nach Mentalitätsströmen in den Untergründen des gesellschaftlichen Fortgangs gesucht werden, die man oft nur ahnen, ungefähr beschreiben, plausibel vermuten, nicht jedoch bereits final beweisen kann.

Unerwartete, eben nicht automatisch dem journalistischen oder wissenschaftlichen »Mainstream« nacheifernde Interpretationen – die »originelle Alternative« – und Kontroversen finden ebenfalls hier ihren Platz – wie schon der Titel ankündigt. Denn auch um Einwände, um Widersprüche und Gegensätze soll es INDES gehen. Insofern liegt es nahe, sich in der ersten Ausgabe denjenigen Personen zu widmen, die eben dies taten, die Neues dachten, die vor-, nach- und querdachten, manchmal unbequem, manchmal auch anstrengend waren (oder sind), die nicht selten einen elitären Habitus an den Tag legten, auch nicht immer und ausschließlich »Gutes« bewirkten, die aber – mit hohem Sendungsbewusstsein ausgestattet – zweifellos eine ungeheure Faszinationskraft ausstrahlten: den Intellektuellen. »Wo sind die Vordenker?« – diese Frage wollen wir, zumindest in Teilen, beantworten. Allerorts vernimmt man Klagen über den desaströsen Zustand der Politik, über die politische Ideenlosigkeit, über das Fehlen genialer Einfälle. Ist diese pessimistische Diagnose aber tatsächlich zutreffend oder mehr einem verklärten Vergangenheitsbild geschuldet, gibt es nicht doch auch heute noch Intellektuelle, die Wichtiges zu sagen haben? Wenn nein, warum nicht; und wenn ja, wo fi ndet man sie, wie haben sich diese Figuren möglicherweise verändert? Wir richten auch den Blick zurück, auf einstige Orte intellektuellen Wirkens, auf historische Konstellationen, die sich für Vordenker als besonders günstig erwiesen. Ziel ist dabei keineswegs, den zahllosen bereits existierenden Defi nitionen des »Intellektuellen« eine neue hinzuzufügen; auch hegen wir nicht den Anspruch, eine komplette Intellektuellengeschichte zu präsentieren. So finden sich auf den nächsten Seiten viele Beiträge, die sich nicht zwangsläufi g zu einem perfekten Puzzle ineinanderfügen, sondern vielmehr insgesamt ein buntes Mosaik ergeben.

Das Thema jedenfalls ist voller Ambivalenzen und Paradoxien. Wie verträgt sich z.B. die lautstarke Klage über den vermeintlichen Mangel an Vordenkern in der Politik mit dem Boom der Beraterbranche, der zunehmenden Auslagerung von Parteiaufgaben an externe Profis und dem Bedeutungsgewinn politischer Think Tanks? Ist es überhaupt wünschenswert, dass sich mehr Intellektuelle in der Politik engagieren, oder wäre dies eher ein Fluch denn ein Segen? Wie populär dürfen Intellektuelle sein, um weiterhin als Intellektuelle zu gelten und nicht als Küchenphilosophen bespöttelt oder der oberflächlichen Medienversessenheit geziehen zu werden? Und, ganz konkret: Wie verhielten sich Intellektuelle in wichtigen Krisenmomenten der deutschen Geschichte, welche Rolle spielten sie für den Beginn und Verlauf von Kriegen?

Überhaupt bleibt der Typus des »Intellektuellen« oft nebulös – wer verleiht ihm diesen Status überhaupt, wie kommt der Vordenker zu genialen Ideen, und hat man ihn sich als vergeistigten Schreibtischdenker oder als eifrigen Aktivisten vorzustellen?

In Analysen, Portraits, Interviews und »Inspektionen« sowie Kontroversen sollen diese und andere Fragen beantwortet, sollen mit originellen Deutungen und unkonventionellen Sichtweisen diese rätselhaften Figuren und ihr Wirken ergründet werden.

Die Fotografien schließen sich unmittelbar hier an. Ursprünglich veröffentlicht unter dem Ausstellungstitel »hanging around« im Rahmen des Projektes »Ruhr.2010 – Kulturhauptstadt Europas«, dreht sich bei diesen Bildern alles ums »Rumhängen«. Der Verein artscenico e.V. unter der Leitung vom Rolf Dennemann fragte: »Was machen die Menschen eigentlich wirklich, wenn sie nicht arbeiten (im herkömmlichen Sinne)? Wenn sie nicht morgens um 7:30 ihre Karte in die Stechuhr schieben, wenn sie nicht um halb vier in der Backstube stehen, nicht um 8 Uhr ihre Arbeitskluft überziehen?«[4], kurzum, es ging um die »Zeit des kreativen Nichtstuns«[5]. All das, das scheinbar untätige Herumsitzen, das stoische Sinnieren – wenngleich die Aufnahmen vielleicht nicht dem gängigen Stereotyp eines »klassischen Intellektuellen« entsprechen – all das passt auch zur Pose des Vordenkers.

Unter den Rubriken findet sich – neben Bekanntem und Bewährtem – auch die »Inspektion«. Nicht zuletzt mit diesen reportageartigen Erkundungen wollen wir die Brücke schlagen zwischen Feuilleton und Politologie. Und auch bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren streben wir eine möglichst große Vielfalt an, um eben auch, aber nicht nur, eine Zeitschrift von Politologen für Politologen zu sein. So schreiben im ersten Heft Historiker, Germanisten, natürlich Politikwissenschaftler, auch Philosophen und Journalisten. Variierende Darstellungsformen und unterschiedliche Herkunftsmetiers – damit hoffen wir, auf Dauer eine abwechslungsreiche und lebendige Kultur des Schreibens zu begründen.

Das »Perspektiven« schließlich bleiben »freien« Texten vorbehalten; so wollen wir eine (gewisse) Spontaneität wahren, möchten aktuelle Forschungsergebnisse publik machen, wollen interessante Beiträge, die sich nicht oder nur künstlich einem Oberthema zuordnen lassen, veröffentlichen. »Reformiert die Politikwissenschaft!« lautet der Appell des US-amerikanischen Politologen Lawrence M. Mead. Der Blick in die Vereinigten Staaten zeigt: Auch dort ist eine Diskussion um das Fach, um politikwissenschaftliches Sein und Sollen entbrannt. Mead schreibt u. a. für die Zeitschrift Perspectives on Politics, deren Ideal ebenfalls in einer Kombination aus lebendigem Schreiben, origineller Erkenntnis zu relevanten Themen und der Anbindung fachinterner Debatten an eine breitere Öffentlichkeit besteht. Die Perspectives on Politics wiederum entstand aus der sogenannten »Perestroika-Bewegung«, die in den USA für eine öffentlichkeitswirksamere Politikwissenschaft eintrat und die Selbstabkapselung der Politologie verurteilte.

An Vorbildern, auch Idealismus mangelt es also nicht. Allerdings ist eine solche Zeitschriftengründung kein einfaches Unterfangen, kostet Zeit und Nerven. Vieles wird sich erst noch fi nden. Doch wir sind und bleiben ein klein wenig optimistisch – und wünschen eine anregende Lektüre.

Anmerkungen:

[1] Helms, Ludger: Politische Führung in der Demokratie, in: Zeitschrift für Politik, H. 4/2009, S. 394.

[2] Vgl. etwa Heinrich August Winkler in einem Interview mit dem Spiegel: »Ich versuche in meinen Lehrveranstaltungen den Studierenden klarzumachen, dass sie stets so formulieren sollten, dass sie auch von Laien verstanden werden, und dass sie eines scheuen müssen wie der Teufel das Weihwasser, und das ist der Fachjargon […] Im Übrigen beweisen uns angelsächsische, französische und italienische Historiker durch ihre Veröffentlichungen, dass Lesbarkeit in keiner Weise den Tiefgang einer Darstellung gefährden muss. Im Gegenteil, ich glaube, dass die Verständlichkeit der Darstellung eher dafür spricht, dass ein Autor versucht hat, ein Problem zu Ende zu denken«, URL: http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/0,1518,751563,00.html.

[3] Wilhelm Hennis, Zur Begründung der Fragestellung, in: Wilhelm Hennis u. a.(Hrsg.): Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Stuttgart 1977, S. 9–21, hier S. 12.

[4] Vgl. http://www.hangingaround.de/?language=de.

[5] Siehe http://www.hangingaround.de/?language=de.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 0-2011 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2011