»Wir durften halt irgendwie nicht suchen« Die »verlorene Generation« in der COVID-19-Pandemie
Alle, die etwas verlieren, haben am Ende für gewöhnlich »weniger« als zuvor. Das vormals Präsente ist abhandengekommen. Wie aber stehen die Dinge, wenn es sich beim Abhandengekommenen um etwas in der Zukunft Liegendes handelt? Ist es möglich, weniger von dem zu haben, was bestenfalls in Aussicht stand? Und was passiert, wenn weder klar ist, was verloren wurde, noch, wer eigentlich diejenigen sind, die es verlieren? Solche und ähnliche Fragen stellen sich und stellten wir Studierenden im Rahmen von zwei Gruppendiskussionen. Die Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften hatten ihr Studium im Wintersemester 2019/2020 oder später angetreten und wurden in der Corona-Pandemie als »verlorene Generation« bezeichnet.[1] Uns interessierte, ob sie sich selbst »verloren« fühlen und ob sie die Beschreibung als »verlorene Generation« überhaupt als treffend empfinden. Soziologisch wird, seit Karl Mannheim, unter »Generation« eine Gruppe von Menschen verstanden, die in einem ähnlichen historischen Kontext aufgewachsen sind und ähnliche soziale Erfahrungen teilen.[2] Bei dem Begriff »verlorene Generation« steht jedoch – trotz des zweifellos ähnlichen historischen Kontextes – in Frage, ob die Gemeinten tatsächlich ähnliche Erfahrungen teilen. Und sie haben die Bezeichnung nicht selbst gewählt. Vielmehr handelt es sich um eine innerhalb der Gesellschaft kursierende Fremdbeschreibung, mit deren Hilfe gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse ausgetragen werden: Genau dies bezeichnen wir als Sozialfiguren.[3]
[1] Aus Platzgründen ist es uns leider nicht möglich, die Vorläuferfigur, nämlich die »verlorene Generation« der Schützengräben des Ersten Weltkriegs, als Vergleichsfolie heranzuziehen (vgl. hierzu Robert Wohl, The generation of 1914, Cambridge 1979; Alexander Honold, »Verlorene Generation«. die Suggestivität eines Deutungsmusters zwischen Fin de siècle und Erstem Weltkrieg, in: Siegrid Weigel [Hg.], Generation: zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München 2005, S. 31–56). Dies muss weiteren Veröffentlichungen vorbehalten bleiben.
[2] Vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Suppl. 1/2017, S. 81–119, https://doi.org/10.1007/s11577-017-0412-y.
[3] Sebastian J. Moser & Tobias Schlechtriemen, Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose, in: Zeitschrift für Soziologie, H. 47/2018, S. 164–180.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023